Psychiatrie

Leben mit Psychosen

Blick aus einem Psychiatrie-Zimmer in den Hof
Blick aus einer Patienten-Wohngruppe in der Klinik für Forensische Psychiatrie in Dortmund © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Ariane von Dewitz · 01.12.2013
Über etliche Jahre muss Anja immer wieder in Psychiatrien eingewiesen werden. Sie leidet unter großen Ängsten und Wahnideen. Doch allmählich findet sie den Weg zurück ins Leben.
„Ich bin ja auf Diät, von daher gibt es Magerquark mit frischen, also nicht frischen, sondern eingelegten Früchten. Gestern hat die Betreuerin gesagt man würde schon was sehen, ich hätte zwei, drei Kilo abgenommen. Und das ist ja wichtig, nachdem ich so viel zugenommen habe. Aber das dauert Zeit, weil: Ich habe ja vor zehn Jahren 20 Kilo zugenommen, in Folge der Medikamente, die ich zu mir genommen habe. Und zwar innerhalb von zwei Wochen, also relativ schlimm. Ich hab aber auch keine Rücksicht genommen, man kriegt so einen unglaublichen Hunger von denen – und dann war da noch der Hunger der Seele.“
Anja schenkt sich noch etwas Kaffee ein, den sie gerade in der Küche gebrüht hat. Nun sitzt sie am Wohnzimmer-Tisch des Heims für betreutes Wohnen in Berlin-Steglitz. Die Wände hier sind kahl, gegen die Scheiben bläst der Wind immer neue Regentropfen, einzig eine schwarze Stehlampe spendet Licht. Die blonden Haare hat Anja zum Schopf gebunden, ihre Lippen kirschrot geschminkt; Makeup, Wimperntusche, der voluminöse schwarze Wollschal – alles an der kleinen dynamischen Frau sitzt perfekt. Anja Sommer lupft die schmal-gezupften Brauen und lächelt – es wirkt echt, nicht aufgesetzt, obgleich es ihr momentan nicht gut geht.
„Letzte Woche war ich bei meiner Therapeutin, wir hatten etwas Sorge um mich, weil ich in letzter Zeit wieder so ein bisschen schlecht schlafe, und dann haben wir die Früherkennungsmerkmale mal durchgegangen, die wir so haben und da ist unter anderem Nervosität, schlecht Schlafen gehört dazu und ... haben jetzt ein bisschen mehr Achtsamkeit, muss ich jetzt ein bisschen mehr achtsam sein und dann früher schlafen gehen und bisschen aufpassen, dass ich nicht zu viel mache.“
Anja Sommer leidet unter einer psychischen Krankheit, der „paranoiden Schizophrenie“. Darum muss sie immer besonders darauf achten, wie es ihr gerade geht. Denn ein häufiges Symptom der Schizophrenie sind psychotische Phasen, in denen Wahnideen und Halluzinationen auftreten.
Anja senkt den Blick, schaut auf ihre gefalteten Hände und sagt dann: Eine Psychose – das sei der Zustand einer komplett schutzlosen Seele und besinnungsloser Angst; ständig denke man, Leute auf der Straße reden über einen, wollen einem etwas antun.
„Es ist einfach dieses Wachsein, dieses unheimliche Körperbewusstsein und einfach Aufpassen, dass einem nichts passiert, dass in der Zeit, in der man wach ist, niemand einen umbringen könnte, oder so. Und dann einfach grübeln über einen ganz langen Zeitraum, grübeln und auch nicht wahrnehmen, dass man misstrauischer wird und man hat keinen natürlichen Filter mehr, der einen schützt vor den äußeren Einflüssen, es kommt ungefiltert auf einen zu.“
Anja, die Jahre lang als leitende Managerin in einem großen Unternehmen tätig war, sitzt jetzt sehr aufrecht auf dem Stuhl.
"Früher waren die Medikamente eher meine Feinde"
Es dauerte lange, bis sie den Mut fand, über die Krankheit zu sprechen, die seit 13 Jahren mit ihr Leben bestimmt. Zunächst hat sie dagegen gekämpft, musste zwischendurch mit Polizeigewalt in Psychiatrien eingewiesen werden.
Heute, mit 46 Jahren, versucht sie einen Weg aus der Krankheit zu finden. Dazu gehört auch, dass sie täglich starke Medikamente nimmt, so genannte Neuroleptika. Die sollen sie vor den großen Ängsten und wahnhaften Gedanken schützen.
Anja, die ihre Tabletten nicht in den sperrigen Schachteln belässt, sondern lieber lose in einer perlmuttbesetzen Muschelschale aufbewahrt, ist froh, dass es diese Arzneien gibt. Doch seit ihren vielen Aufenthalten in Psychiatrien übt sie daran auch Kritik.
"Früher waren die Medikamente eher meine Feinde als meine Freunde. Aber ich werde nie vergessen, wie ich mit den zuständigen Medikamentenausgebern diskutiert habe, dass ich diese Tablette nehme. Und sie lassen ja, die Tablette muss man ja vor ihnen einnehmen. Und es gab auch Zeiten, wo ich sie in die Zunge eingewickelt habe und wieder rausgespuckt habe. Ganz klar. Und dann wird durch die Blutentnahme festgestellt, dass man sie nicht nimmt und man kriegt wieder den nächsten drüber, wird wieder an den Pranger gestellt, ja.
Denn diese Neuroleptika geben in dem Sinne, ist ja auch die Leute ruhig stellen, sich nicht mit denen auseinander setzen zu müssen, sondern einfach Medikamente zu geben, Spritzen zu geben und gar nicht miteinander das zu besprechen, dass der das Gefühl hat, es geht auch um ihn. Und nicht nur darum, die ganze Gesellschaft vor einem Psychosekranken zu retten."
Anja wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, sie muss los. In einer guten Stunde hat sie einen Termin bei ihrem Psychiater in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwigs-Krankenhaus in Berlin-Mitte. Während sie in den Mantel schlüpft, eilig nach der Handtasche schnappt und die Tür hinter sich zu zieht, erzählt sie von einem großen Traum.
"Also mein Ziel ist es ja, da ich in einer betreuten WG wohne, eine eigene Wohnung wieder zu haben, da denke ich auch, da bin ich jetzt reif für, und hoffe, dass ich bald eine finde. Es ist nicht so einfach im Moment in Berlin".
Das ewige Stigma der "Verrückten"
Als sie wenig später das Therapiezimmer von Dr. Sebastian von Peter betritt, sitzt der schon an seinem Schreibtisch. Der Psychiater und Psychotherapeut, blaue Augen, fester Händedruck, hat am St. Hedwigs-Krankenhaus das Projekt „Ex In“ gegründet. Er arbeitet eng mit Menschen zusammen, die selber schon Psychosen erlebt haben. Sein Credo: Ehemals Betroffene können Patienten manchmal besser beim Weg aus der Erkrankung heraus helfen als ausschließlich Ärzte und Therapeuten.
Anja rückt einen Stuhl zurecht, setzt sich hin. Während sie spricht, blickt der 36-jährige Arzt ihr aufmerksam ins Gesicht, tippt dann immer wieder ein paar Zeilen in seinen Computer, lächelt ihr zwischendurch aufmunternd zu.
Zuerst entwickeln sie gemeinsam einen Krisenplan: Der wird von Angehörigen und der Polizei befolgt, falls Anja in einer Psychose wieder die Kontrolle über sich verliert und in eine Psychiatrie gebracht werden muss. In dem Formular steht, in welche Klinik sie kommen möchte – und auch: wie man mit ihr umgehen soll.
Sebastian von Peter: "Und hier zum Beispiel auch mit der Fixierung, nicht?"
Anja Sommer: "Ja, das sollte wirklich das Letzte sein."
Sebastian von Peter: "Ja, absolut. Aber da kann man noch mehr Kriterien definieren, so dass Sie noch sicherer sein können. Und auch noch, wen wir da einbinden sollen und so weiter. Also das kann man noch mal etwas mehr so machen, dass es für Sie noch sicherer wird."
Anja Sommer: "Ja, so nach dem Motto, denn das ist ja dann das Schlimmste, wenn man so roh und in dem schlimmen Zustand, den man dann einfach hat, mit so vielen wildfremden Leuten, die einen dann auch noch anpacken, Polizei oder so und dann ... Schlimm."
Sebastian von Peter: "Ja."
Anja Sommer: "Also, wir wollen es nicht hoffen, dass es wieder passiert. Aber es sind ja auch schon Dinge geschehen, die nicht einfach waren."
Vor zwei Jahren sehnt sich Anja nach sieben langen Psychiatrie-Aufenthalten nach einem normalen Leben, zieht mit einer Bekannten in eine WG. Erst fühlt sie sich gesund, doch bald kommt die Angst zurück, Anja wütet im Wahn, randaliert, lässt ihre Mitbewohnerin nicht mehr in die gemeinsame Wohnung. Wieder bringt die Polizei sie in eine Klinik, anschließend landet sie ganz unten: In einem Heim für Obdachlose. Um Anja vor einer weiteren Psychose zu bewahren, animiert Sebastian von Peter seine Patientin, vor allem den Ursachen der Erkrankung auf den Grund zu gehen.
Sebastian von Peter: "Also ein anderes Thema wäre auch, mal über Beziehung nachzudenken. Welche Art von Beziehung hab ich gehabt bislang, in meinem Leben, familiäre, freundschaftliche, intime Beziehungen."
Anja Sommer: "Also es gilt jetzt noch sehr stark zu betrauern, dass ich ohne Kinder durch die Welt gekommen bin. Weil in jeder Psychose war das ja so, dass das ein Thema ist, was auch nicht in zwei Sitzungen besprochen werden kann, wo man sich wirklich mal Zeit nehmen muss und sich sagen muss: Das wird nicht mehr passieren. Und, das sage ich jedes Mal: An mir kommt kein Kind vorbei, ohne dass ich nicht denke, wie sähe denn mein Kind aus. Ich war eben in der Zeit, als sich andere einen Partner suchen mit der Psychose beschäftigt, also da war ich krank, also von 33 bis 44, da habe ich eine andere Karriere gemacht."
Anja erzählt heute auch über die belastete Beziehung zu ihrer Familie; über ihre Mutter, die die psychische Krankheit ihrer Tochter bis heute verleugnet, die Schwester, die seit zehn Jahren kein Wort mit Anja spricht – und den Vater, der ihr als Einziger zur Seite steht, bei jeder psychotischen Krise anreist.
Am Ende der Therapie-Stunde atmet Anja tief durch; das Sprechen hat ihr gut getan.
Sie weiß, dass sie großes Glück mit der Unterstützung hat, die sie bekommt.
Denn immer noch gibt es zu wenig therapeutische Plätze, gerade für Menschen mit schweren Psychosen.
Anja will nun gleich los in die Apotheke, denn sie hat heute auch ein Rezept bekommen – für ein neues Medikament: Geringere Nebenwirkungen soll es haben – das schürt auch die Hoffnung, endlich lästige Pfunde loszuwerden.
Doch ist ihr jetzt schon bange davor das Rezept über den Apotheken-Tresen zu reichen. Auch hier fühlt und fürchtet sie das ewig gleiche Stigma der „Verrückten“.
"Jeder Gang dahin ist schwierig, weil ich mir jedes Mal denke, obwohl es natürlich Fachleute sind in der Apotheke, aber ich denke mir jedes Mal, was wird diese Person wohl jetzt gerade denken, dass so eine Frau wie ich jetzt so ein psychotisches oder schizophrenes Problem hat."
Anja öffnet die Tür. Bisher steht nur ein weiterer Kunde am Nachbar-Tresen. Die Apothekerin betrachtet erst das Rezept, wirft dann einen prüfenden Blick auf Anja über ihre goldumrandete Lesebrille. Die nimmt all ihren Mut zusammen und spricht direkt aus, was sie in diesem Moment beschäftigt.
Anja: „Bei dieser Erkrankung ... es ist manchmal so ein bisschen schwierig, da zum Apotheker zu gehen ...
Apothekerin: "Das ist richtig."
Anja:"Vielleicht auch weil man denkt, der Apotheker denkt sich dann so seine Sachen dabei, aber das ist nicht der Fall, oder? Dafür sind sie alle viel zu professionell und da muss ich mir gar keine Gedanken machen!?"
Apothekerin: "Jeder Mensch, der in die Apotheke kommt, dem möchte geholfen werden. Und das ist eigentlich auch unsere Arbeit. Tagtäglich."
Anja ist beruhigt über diese kurze und klare Antwort der Apothekerin.
Keine Ablehnung, keine Befremdung über die psychische Erkrankung, die ihr sonst so häufig entgegen schlägt.
Anja: "Tschüss, Wiedersehen.
Das hat, glaube ich, viel gebracht, ... also ich bin auch erleichtert, absolut.
Ja, und sie hat bestätigt, dass sie eben nicht darüber sinniert, was ich für ne bescheuerte Kundin bin ..."
Ein paar Wochen später. Erste Blätter färben sich rot und gelb, die Sonne hat nur noch wenig Kraft. Obwohl der Herbst jedes Jahr eine schwierige Zeit für Anja ist, wirkt sie jetzt gerade sehr beschwingt. Denn: Nach langer Suche hat sie endlich eine Wohnung gefunden, bezahlbar dank einer kleinen Rente aus ihrem früheren Manager-Leben.
"Es ist gewesen, als hätte ich Krebs"
Ihr neues Zuhause liegt im Berliner Westen an einem ruhigen Platz, gesäumt von zahlreichen Bäumen. Direkt unter ihrem Fenster: Eine Bäckerei, aus der jeden Morgen der Duft frischer Brötchen hinauf weht. Es gibt ein helles Zimmer, kleines Bad, winzige Küche, und für sie ganz wichtig: Keine Mitbewohner mehr. Nach Jahren der Psychiatrie, ambulant und stationär, im Obdachlosenheim, in verschiedenen betreuten Wohnheimen, hat sie ihn jetzt wieder – den eigenen kleinen Rückzugsort.
An diesem Wochenende sind Janna und Christina zu Besuch.
Ihre beiden besten Freundinnen hat Anja seit Jahren weder gesehen noch gesprochen – während einer psychotischen Phase, in der sie besonders stark mit Wahnideen, Wut und Ängsten kämpfte, brach Anja den Kontakt zu beiden komplett ab.
Vor ein paar Tagen aber hat sie die Freundinnen angerufen, gefragt, ob sie einander sehen können. Janna und Christina reagieren sofort, fliegen zu Anja nach Berlin. Beim Italiener um die Ecke sprechen sich die drei zum ersten Mal aus. Heute, einen Tag später, sitzen sie bei Croissants und Käsekuchen in Anjas neu bezogener Wohnung – im Schneidersitz auf dem frisch gebohnerten Parkett.
"Also wir haben gestern bei dem Abendessen auch Phasen gehabt, wo sie alle beide bitter geweint haben und ich gar nicht so. Weil ich hatte Tränen in den Augen und hab mich dann als ich zurück gegangen bin, und heute morgen habe ich gedacht: Du bist ein Schwein. Du bist ein Schwein, Du lässt Deine guten Freundinnen, die dir so viel Liebe entgegen gebracht haben und auch heute noch entgegen bringen, lässt du da im Stich."
Anja greift dabei schnell nach der Hand von Janna, die bei diesen Worten das Gesicht von ihr abwendet.
"Es ist gewesen, als hätte ich Krebs. Und hätte mit allen gut abschließen wollen und sie hätten mich so in Erinnerung halten sollen, wie ich gewesen bin. Und wäre dann irgendwo nach Australien gegangen an einen Strand und wäre da gestorben, in dem Sinne."
Janna schaudert, hüllt sich in eine Wolldecke, Christina ist auf dem Fußboden in Richtung Wand gerutscht, ihr Rücken schmerzt, sie muss sich anlehnen.
Über die Vergangenheit zu reden ist wichtig, sagen sie. Alle drei haben sich vorgenommen, offen und ehrlich zu sein, auch Fragen zu stellen und Dinge zu hören, die schwer auszuhalten sind.
Janna: "Man hat auch Angst gehabt, Anja so direkt zu fragen, muss ich ehrlich sagen, also wir sind jetzt heute auch das erste Mal so ein bisschen ... oder gestern Abend auch, dass sie selber auch mal ... von einer Zeit erzählt hat, die du durchgemacht hast, von der wir gar nicht wussten ... und ... eine gute Freundin verloren zu haben. Das ist alles."
Anja: "Ja, das tut mir sehr leid."
Janna: "Nee, um Gottes Willen, das braucht dir nicht leid zu tun. Du, Anja, das braucht dir nicht leid zu tun, weil du brauchtest das für dich selber und du hast das entschieden und ich hab das ja so akzeptiert, weil ich dachte, das brauchte die Anja, die braucht das, und ich war einfach nur traurig über unsere gute Freundschaft, die wir hatten."
Anja: "Ja."
Absurdes Schutz-System der Seele gegen die totale Selbstzerstörung
Auch Christina stehen bei Anjas Schilderungen immer wieder Tränen in den Augen. Die erfolgreiche Geschäftsfrau erlebt damals besonders nah, wie sich Anjas Zustand allmählich verschlechtert. Lange glaubt sie, Anja habe ein Burnout. Mehr Sport und Ruhe, so denkt sie, das müsse reichen.
Doch dann, eines Tages, besucht Christina ihre Freundin in der Psychiatrie.
Christina: "Das war auch das erste Mal, wo die Tür zu ging hinter uns. Und das war für mich ganz schwer. Ich hatte das Gefühl: Jetzt sind wir hier eingeschlossen. Also diese schwere Tür, die dann so „bäng“ zu geht und du musst dann jemand bitten, die Tür aufzumachen. Und dann waren wir in deinem Zimmer allein. Und da warst Du sehr, sehr traurig. Und abwesend. Und dann plötzlich stehst Du auf und dann drehst Du dich um und schaust mich an. Und dann seh ich, dann seh ich eine andere Person. Eine Aggressivität, Augen die leer sind, und dann hab ich gedacht: Mein Gott, das ist kein Burnout. Das war für mich so ein Schlüsselerlebnis. Ich bin dann kurz danach gegangen und bin dann ein paar hundert Meter mit dem Auto gefahren, zum See, und dann kam alles raus. Tränen, das Nachtessen, alles. Weil dann hab ich verstanden: Das ist nicht ein Burnout, wo man drei Wochen in Kur geht und dann ist die Welt wieder in Ordnung. Und dann hab ich die ganze Nacht im Internet über Schizophrenie gelesen."
Anja hört sich diese Schilderungen ihrer Freundin ruhig und konzentriert an.
Ermutigt durch so viel Offenheit gibt sie sich einen Ruck; und sagt, sie wolle Janna und Christina noch etwas erklären, das in deren Ohren vielleicht paradox klinge – nämlich dass sie gerade den psychotischen Zuständen viel zu verdanken habe.
"Also die hat mich überleben lassen, denn ich hätte mich eigentlich umbringen müssen. Ja. Also die war sozusagen der Schritt neben mich selber. Und wenn ich die nicht gehabt hätte, wäre die einzige rationale Entscheidung gewesen, dem Leben ein Ende zu machen. Absolut."
Anjas Psychose, ein absurdes Schutz-System der Seele gegen die totale Selbstzerstörung? Christina reibt sich mit beiden Händen über die Augen, tupft dann mit einem Taschentuch ihre Nase. Sie denkt über Anjas Worte nach, versucht alles besser zu verstehen; so wie damals, als sie zum ersten Mal ahnungslos in einer Psychiatrie steht, verzweifelt Rat und Erklärungen zum Seelen-Zustand ihrer besten Freundin sucht.
„Und in der Phase, in der Zeit, da mache ich den Ärzten einen Vorwurf. Weil ich war bei dir und sie haben es gewusst, und sie haben nie das Gespräch mit mir gesucht. Und ich war völlig überfordert. Als normaler Mensch, in normaler Umgebung, es wäre so einfach gewesen und ... Ich meine du machst ja sonst alles, du machst Opfertherapie wenn dir was passiert, aber in dem Bereich hat mir niemand, niemand geholfen."
Inzwischen ist es Abend geworden. Janna bleibt noch eine Weile in Berlin. Die vielen Gespräche heute haben ihr auch klar gemacht, wie wichtig gerade für psychisch kranke Menschen ein erfüllender Job ist; darum will sie noch ausführlich mit Anja über deren Berufs-Pläne als Innendesignerin reden.
Christinas Taxi wartet bereits vor der Haustür, in ein paar Stunden geht ihr Flieger zurück nach Hause. Diesmal, so versichern sie einander beim Abschied, sind es nicht Jahre, sondern nur ein paar Wochen, die bis zum nächsten Treffen vergehen sollen.
Vier Wochen später. Anja hat wieder einen Termin im Berliner St.-Hedwigs-Krankenhaus. Diesmal nicht zum Einzelgespräch, sondern zur Gruppentherapie. Hier trifft sie auf andere Menschen, die mit schweren Psychosen und Depressionen leben müssen. Man tauscht sich aus, über Probleme und Gemeinsamkeiten. Psychiater und Psychotherapeut Sebastian von Peter leitet die Gruppe. Er schließt die Tür hinter den Patienten, einige reiben sich die Hände, draußen ist es kalt geworden.
Das Thema der Sitzung heute: Psychose und Beziehung. Sprich: Wie gehen die Angehörigen mit der Krankheit um, welche Verletzungen sind entstanden? Dr. von Peter wendet sich an eine Patientin, die schüchtern auf den Boden blickt, kurze braune Haare, schwarze Jeans, ihre Winterjacke hat sie lieber angelassen.
Psychiater Sebastian von Peter: Haben Sie das thematisieren können in Einzelfällen?
Blume: "Nee, leider nicht. Also bei zwei Freundinnen ist es jetzt eigentlich auch so, seit es schlimm geworden ist, dass ich wirklich merke, dass sie irgendwie nicht verstehen können, was da passiert ist, obwohl die direkt damit betroffen waren; die haben mich sogar hier ins Krankenhaus gebracht – und ich glaube, die waren so geschockt von dem Ganzen, was ich klar auch verstehen kann, aber die haben sich also total weg-, abgewandt von mir. So was passiert eben dann auch und ist schlimm ..."
Andere Patientin: "Das fühlt sich schon nicht gut an ..."
Junge Patientin: "Nee, weil da wird man dann wirklich nur auf diese Krankheit reduziert und das Drumherum wird eigentlich nicht mehr gesehen."
Psychiater Sebastian von Peter: "Und was glauben Sie, sie sagten, das hat die geschockt? Ist das der Hauptaspekt? Was glauben sie, warum die sich abgewandt haben oder: Woran könnte es noch liegen?"
Junge Patientin: "Ich denke schon, dass sie irgendwie auch Angst haben, Berührungsängste davor, weil sie halt einfach noch nie in Berührung damit gekommen sind. Aber ich finde es auch verständlich, weil bevor ich meine Psychose hatte, da hatte ich mit so psychischen Krankheiten auch nie was zu tun; und fand das auch eher immer so, naja, man kennts ja aus Filmen, war auch eher so: Naja, ist zwar interessant aber eigentlich so richtig was zu tun haben will man damit nicht. Dann ist man auf einmal selber in dieser Situation und lernt dann auch viele Leute hier im Krankenhaus auch kennen und, ja, weiß einfach, dass das alles auch ganz tolle Menschen sind und ..."
Hilft gnadenlose Offenheit?
Psychiater Sebastian von Peter: "... und dass es auch jeden treffen kann ..."
Blume: "... ja, das es auch jeden treffen kann."
Dass niemand gefeit ist vor psychischem Leid, und dass es oft keine klar definierten Grenzen zwischen gesund und krank gibt, sondern eher ein breites Spektrum – das wissen die sechs Patienten, die hier im Stuhlkreis sitzen ganz genau. Doch die Unsicherheit mit Bekannten oder Kollegen über die eigene Krankheit zu reden, ist bei allen groß. Gemeinsam überlegen sie: Hilft gnadenlose Offenheit? Oder ist Diskretion die bessere Lösung?
Junges Mädchen: „Und es ist auch manchmal schwer, die Kraft aufzubringen immer entgegenzuwirken, manchmal hat man keine Kraft mehr - und dann denkt man: Ich kann nicht Leute zwingen zum Nachdenken, die nicht nachdenken wollen.“
Es ist früher Abend, auf der Straße vor der Klinik eilen unter den gelblich leuchtenden Straßenlaternen die Menschen in den Feierabend. Während die Patienten im Stuhlkreis diskutieren, schauen sie durch das Fenster und blicken den Passanten hinterher. Noch ein paar Minuten – dann ist die Therapie-Sitzung vorüber. Sebastian von Peter neigt den Kopf und blickt für eine Weile in die großen, hellgrünen Augen von Anja Sommer – sie wirkt nachdenklich, hat zu dieser Debatte noch nicht viel gesagt.
Psychiater Sebastian von Peter zu Anja: "Frau Sommer, Sie hören sich das so an?"
Anja Sommer: "Ja, ich muss sagen, ich bin vorsichtig. Ich kriegte auch die Frage von dem Makler für die Wohnung: Ja sie sind 46 und bekommen eine Rente, was ist denn da los? Und dann hab ich gesagt, ja, ich hab ein Burnout. Also ich verstecke mich beruflich und offiziell, wenn ich irgendwie agiere, hinter dem Burnout. Da hab ich ein gutes Gefühl bei und das ist auch anerkannt. Der Makler sagte dann: Ja, ich glaub, ich hab auch eins. Und dann haben wir gelacht, ja ... und da ist man noch hinter dem Mäntelchen, und da ist man noch akzeptiert in der heutigen Zeit."
Psychiater Sebastian von Peter: "Es wäre so schön, wenn man sagen könnte: Ich hab eine Psychose und der Makler würde dann sagen: Ja, ich glaub, ich hab auch eine ..."
Anja Sommer: "Genau ... ich weiß nicht, was es ist, aber es hört sich gut an!"
Psychiater Sebastian von Peter: "Oder so!"
Anja Sommer: "Ja ... nee so weit sind wir leider noch nicht, so weit sind wir noch nicht. Da müssen wir noch ein bisschen Aufklärungsarbeit leisten."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Die Journalistin Ariane von Dewitz© Foto: privat
Ariane von Dewitz: "Man hört viel über Burnout, aber all die anderen vielen psychischen Leiden wie zum Beispiel die Psychosen, da redet kaum jemand drüber. Ich wollte wissen, wie sieht es eigentlich in dieser sehr verschwiegenen Parallelwelt aus? Wie lebt jemand, der täglich mit dieser Krankheit kämpfen muss und mit den Vorurteilen, die dazu kommen?"