Prozess in Nürnberg

Kein einziges Todesurteil gegen Nazi-Juristen

Urteilsspruch im Prozeß gegen 16 Nazi-Juristen in Nürnberg
Urteilsspruch im Prozeß gegen 16 Nazi-Juristen in Nürnberg © picture alliance / dpa
Von Bernd Ulrich · 17.02.2017
Vor 70 Jahren wurde eins der wichtigsten Nachfolgeverfahren des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses eröffnet: Im "Juristenprozess" stand mit 16 angeklagten Richtern, Staatsanwälten und Justizbeamten auch der Missbrauch des Rechts zur Verwirklichung verbrecherischer Ziele vor Gericht.
"Die Alliierten übernahmen die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. Sieger-Justiz ohne Zweifel und dadurch beeinträchtigt, dass nach Kriegsverbrechen der Sieger niemand fragen durfte. Aber - wer sonst hätte den Prozess führen sollen?"
Abgeklärt wie immer – der Historiker Golo Mann in seiner glänzend erzählten "Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts". Und er hatte ja recht: Es gab im besiegten Deutschland so gut wie keine unbelasteten Richter und Staatsanwälte, die ein solches Verfahren hätten führen können.
Das zeigte sich insbesondere bei dem Prozess gegen 16 deutsche Juristen, der am 17. Februar 1947 in Nürnberg begann: dem so genannten Juristenprozess. Dieses von einem amerikanischen Gericht auf deutschem Boden durchgeführte Verfahren verlief vollkommen rechtsstaatlich – und von "Siegerjustiz" konnte schon deshalb keine Rede sein, weil auch entlastende Momente Berücksichtigung fanden und vier Freisprüche zur Folge hatten.

16 Juristen vor Gericht

Die vor Gericht gestellten Juristen aber – Anwälte, Staatsanwälte, Richter und Militärrichter, hohe Justizbeamte im Dienste der NS-Diktatur – hatten das Recht gebrochen, indem sie vermeintlich Recht sprachen. Wie sich das im direkten Sinne des Wortes anhörte, demonstrierte der "erste Jurist des Dritten Reiches", Hans Frank, in einer Rede am 30. September 1933:
"Wir bekennen uns offen dazu, dass wir nationalsozialistischen Juristen in jedem Recht nur das Mittel zu dem Zweck sehen, einer Nation die heldische Kraft zum Wettstreit auf dieser Erde sicherzustellen."
"Rechtssystem prostituiert für verbrecherichsche Ziel"
Der Juristenprozess war eins von zwölf Verfahren, die in der Folge des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesses zwischen 1946 und 1949 gegen Vertreter diverser Berufsgruppen durchgeführt wurden.
Die Angeklagten hatten als "Schreibtischtäter" oder als "Blutrichter" gewütet und waren sich keiner Schuld bewusst. Der bis zu seiner Pensionierung 2008 als Regierungsdirektor und Fachhochschulprofessor für Straf- und Strafprozessrecht tätige Ingo Müller:
"Dass diese Verbrechen, die Justizverbrechen begangen wurden unter Benutzung des Rechts oder ganz pointiert ausgedrückt, wie es in dem Urteil steht, "der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen". Dass ein Rechtssystem prostituiert wurde zu verbrecherischen Zielen, das ist noch eine neue, höhere Dimension des Unrechts."
Viele Karrieren gingen unbeeinflusst weiter
Es war unter anderem diese "höhere Dimension des Unrechts", die den Strafrechtler dazu gebracht hatte, 1987 sein Buch mit dem Titel "Furchtbare Juristen" über die "unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz" zu publizieren – und mit seinen erschreckenden Ergebnissen ganze Generationen von Jurastudenten zu beeinflussen.
Wie etwa den heutigen Anwalt für Strafrecht, den Menschenrechtler Wolfgang Kaleck:
"Was uns als junge Jurastudenten bei der Lektüre des Werkes so in Rage brachte, waren die ungebrochenen Karrieren, von denen Müller berichtete. Etwa vom Autor des Plädoyers für die ‚Ausscheidung der Minderwertigen durch Tötung‘, Hans Puvogel, der 1976 niedersächsischer Justizminister wurde. Oder vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Marinerichter noch drei Wochen nach Kriegsende einen Soldaten wegen Gehorsamsverweigerung verurteilte."
Strafen zwischen drei und zehn Jahren
Der Juristenprozess endete am 3. und 4. Dezember 1947 mit den Urteilsverkündungen: Von Lebenslänglich bis Freispruch war alles dabei. Ein Angeklagter hatte bereits vor Beginn des Prozesses Selbstmord begangen. Generell hatte der Gerichtshof festgestellt:
"Die Preisgabe des Rechtssystems eines Staates zur Erreichung verbrecherischer Ziele untergräbt diesen mehr als ausgesprochene Gräueltaten, die den Talar des Richters nicht besudeln."
Ab 1950 kaum mehr Verfahren
Die Verurteilten kamen zwischen 1950 und 1957 alle wieder frei. Bis heute erschütternd: Sie konnten neuerlich auf Beschäftigung hoffen, diesmal in der westdeutschen Justiz, oder aber, falls sie mittlerweile das Rentenalter erreicht hatten, auf üppige Pensions- und Gehaltsnachzahlungen.
Überdies, so Ingo Müller: "Spätestens Anfang der 50er Jahre strömten zuvor entlassene alte Nazis wieder in den öffentlichen Dienst. Bis 1950 gab es etwa 6.000 Verfahren gegen Nazi-Verbrecher, ab 1950 gab es pro Jahr noch mal 30, 20, manchmal nur 15, aber es hörte eigentlich schlagartig auf, Anfang der 50er-Jahre."
Damit trat erneut zutage, dass die Entnazifizierungspolitik gescheitert war.
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