"Provokative Monstrosität des Schreibens“

Rezensiert von Pieke Biermann · 11.11.2005
Der Erstdruck des "Simplicissimus" datiert auf 1668. Der Autor Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ist als Soldat im 30-jährigen Krieg gewesen. In seinem Schelmenroman breitet der Held seine "abentheurlichen" Lebenswege aus. Der Herausgeber hat die "provokative Monstrosität des Schreibens" erhalten.
Grimmelshausen ist der berühmteste deutschsprachige Schriftsteller der frühen Neuzeit, der "Simplicissimus" der erste deutsche Roman der Weltliteratur. Wirkmächtig über Sprach- und Landesgrenzen und über die Jahrhunderte hinweg.

Ein Schelmenroman, gespeist aus der großen europäischen Tradition des 16. und frühen 17.Jahrhunderts und selbst Speise für die nachfolgenden Jahrhunderte. Ohne Don Quijote und Buscón, ohne Gargantua, Pantagruel und den Sorelschen Francion kein Simplicissimus. Aber ohne den auch kein Defoe und Sterne im 18.Jahrhundert, kein - um nur zwei Deutsche zu nennen - Günter Grass und keine Irmtraud Morgner im 20. Jahrhundert.

Der "seltzame Vagant", der seine "abentheurlichen" Lebenswege durch eine "Zeit, von welcher man glaubt/daß es die letzte seye" vor uns ausbreitet, wie ihm der (hessische) Schnabel gewachsen ist, ist der kleine Jedermann. Der deutsche Simpel, so scheint’s, bevor es ein Deutschland überhaupt gab. Einer von unten, vom Rand. Als Naivling ein "unzuverlässiger Erzähler", bei dem man nie weiß, wen er gerade verspottet: die Herrschaften, die Welt- und vor allem Kriegsläufte seiner Zeit, sich selbst oder womöglich uns. Oder alles auf einmal.

Können wir ihm überhaupt trauen? Ist er, wie das im Medienzeitalter heißt, nachrichtensicher? Verbirgt sich womöglich mehr hinter der Behauptung, der Roman sei "überaus lußtig/und männiglich (= für jedermann) nutzlich zu lesen"? Selbstverständlich tut es das! Wie bei allen großen Erzählern, und am nachhaltigsten bei denen, die keine Belehrung und schon gar keine Bekehrung im Schilde führen.

Grimmelshausen hat einige der Wirren des 30-jährigen Kriegs selbst erlitten. Geboren wahrscheinlich 1622 im hessischen Gelnhausen. Vater und Großvater waren Bäcker. Als armer Leute Kind wird er von einem kroatischen Streifkorps geschnappt und zieht als Soldat mit verschiedenen Armeen herum und lernt als Regimentssekretär viel über Realpolitik. Die feine, gelehrte Bildung ist das nicht.

Mehr über die conditio humana hat er in den 15 Jahren aber allemal aufgesogen. Die am eigenen Leib erfahrene verkehrte, "wahnbefangene" Welt wird sein großes Thema als Schriftsteller, der er lange nach dem Krieg wird. Seine Form: der Blick von unten, die Distanz schaffende Satire. Ein Realismus-Projekt mitten in der Barockkultur, die wir fälschlich für "bloß verspielt" halten.

Der hier besprochene Band ist die Taschenbuchedition des ersten Bandes der von Dieter Breuer herausgegebenen dreibändigen Werkausgabe, die von 1989 bis 1997 im Deutschen Klassikerverlag in Frankfurt/Main erschien. Identisch paginiert, zierlich, handlich und wunderschön.

"Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch" samt der "Continuatio" umfasst knapp 700 der gut 1000 Seiten. Den Rest füllen das sehr klare, informative bio-bibliographische Nachwort und ein vorzüglicher Anhang. Allein die über 200 Seiten mit Kommentaren zu einzelnen Stellen sind, wie auch die Fußnoten auf den Textseiten, spannend wie das Grimmsche Wörterbuch der deutschen Sprache.

Neu ist dieser "Simplicissimus" vor allem, weil er die Erstdrucke der einzelnen Teile wieder in ihr Recht setzt. Im Zweifelsfall sei "die Unverständlichkeit oder Unschönheit einer Textstelle an den Leser weiterzugeben", argumentiert, sehr zu recht, Dieter Breuer. Denn es geht um "die von Grimmelshausen angestrebte provokative Monstrosität des Schreibens".

Nichts ist mehr "klassizistisch geglättet", nichts einer neuen angeblichen "Lesefreundlichkeit" geopfert, die den Leser "abholt". Zu Grimmelshausen muss man selber gehen. Und man tut es gern. Ebenso gern, wie man sich die Mühe des Lesens macht: Nicht nur, weil große Schriftsteller sich die Mühe des Schreibens machen. Sondern vor allem, weil solche Mühe üppig belohnt wird.


Wer Mundart im Schriftbild scheut, wer den Reichtum an Bildern, Klängen, Aussprachen des gesprochenen, also gelebten Wortes lästig findet, sollte Grimmelshausen getrost weiter ignorieren und mit ihm den besten Teil der Weltkultur. Alle anderen sollten einfach lesen, lesen, lesen. Anfangs vielleicht laut - um nach ein, zwei "Capiteln" zu merken, dass sie immer weniger auf die Fußnoten achten und immer mehr dem Zauber des sprachgewaltigsten deutschen Erzählers erliegen.

Ein Rausch, übrigens, der einem den Kopf klar macht.

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, Simplicissimus Teutsch, hg. von Dieter Breuer, 1084 Seiten, TB-Ausgabe des Deutschen Klassikerverlags, Frankfurt/Main 2005, 18€