Protestkultur in Belarus

Ein Vierteljahrhundert Widerstand

16:44 Minuten
Ein junger Mann hat sich die rot-weiße Flagge als Cape umgebunden und formt mit beiden Händen ein Victory-Zeichen.
Die rot-weiße Flagge als Ausdruck des Freiheitsstrebens: ein Demonstrant bei einem Protest gegen Lukaschenko am 18. Oktober in Minsk. © picture alliance/Natalia Fedosenko/TASS/dpa
Ingo Petz im Gespräch mit Johannes Nichelmann · 19.10.2020
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Zehn Wochen schon dauern die Proteste in Belarus an. Doch der Widerstand gegen Alexander Lukaschenko ist nicht neu. Seit seinem Amtsantritt 1994 begehren Künstler gegen ihn auf: erst vor allem mit Musik, später im Internet und mit Performance-Kunst.
Am Sonntag (18.10.2020) gingen in Minsk und in anderen Städten in Belarus wieder zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen das Regime von Alexander Lukaschenko zu protestieren. Seit der Wahl am 9. August, infolge der sich Lukaschenko zum Sieger erklärte, reißt der Protest nicht ab: Die Opposition wirft dem Staatschef Wahlfälschung vor. Doch der Unmut gegen das Regime gärt nicht erst seit diesem Sommer – und im Widerstand gegen den seit 1994 amtierenden Lukaschenko spielen auch Kunst und Kultur seit langem eine wichtige Rolle.
Die Protestkultur in Belarus habe viele verschiedene Ausformungen, sagt der Journalist und Belarus-Kenner Ingo Petz: Sie zeige sich etwa in der Literatur, in der Kunst, in den sozialen Medien, aber auch in Form von Cyberpartisanen, die offizielle Webseiten hacken.
"Was über die Jahre in Nischen stattgefunden hat, drängt jetzt an die Öffentlichkeit", so Petz. "Das sieht man bei den Sonntagsmärschen, aber auch bei den anderen Protestformen im Laufe der Woche immer wieder, dass sie versuchen, den öffentlichen Raum zu besetzen, der in so einem autokratischen System wahnsinnig reguliert ist."

Demonstrationen als "Happening"

Bei den Demonstrationen sehe man sehr kreative Plakate, eine weiß-rot-weiße Symbolik, es gebe Auftritte von Musikern und Theatergruppen. "Es hat einen Happening-Charakter."
Nachdem Lukaschenko Präsident wurde, formierte sich der Protest zunächst viel in der Musikszene und insbesondere bei dem bald vom Regime geschlossenen Radiosender FM 101.2 Eine Hymne der Protestbewegung sei der schon 20 Jahre alte Song "Try Charapachi" von der Band N.R.M., erzählt Petz. Bereits im Namen der Band N.R.M., Abkürzung für "Nezaležnaja Rėspublika Mroja", übersetzt "Unabhängige Republik der Träume", schwingt der Protest gegen das Regime und der Freiheitswille mit.
Gegründet wurde sie von dem Rockmusiker Lavon Volski. Er sei "nicht nur die Ikone der musikalischen Protestkultur, sondern der Protestkultur überhaupt", so Petz. Da sich Volski häufig kritisch über das Lukaschenko-Regime äußert, wurde ihm in Belarus verboten, Konzerte zu geben.

Stabile Netzwerke der Gegenkultur

Ab Mitte der 2000er-Jahre habe sich mit dem Internet ein neuer Raum für den Protest in Belarus geöffnet. Beispielsweise habe die Gruppe Novinki mit satirischen Videos und Ironie einen neuen Ton in die Protestkultur gebracht, so Petz. Mit Memes wurde sich über das Regime lustig gemacht. Über das Internet hätten sich in den vergangenen 15 Jahren stabile Netzwerke der Gegenkultur entwickelt, die so anpassungsfähig seien, dass sie in einem feindlichen Umfeld überleben können, wovon auch der heutige Protest profitiere.
Auch die Literatur, das Theater und die Bildende Kunst prägen die Protestbewegung. Petz erzählt von einer aussagekräftigen Aktion des Künstlers Michail Gulin: Am 9. Oktober 2012 trug Gulin pinkfarbene und gelbe Quader durch das Zentrum von Minsk, baute sie an öffentlichen Plätzen auf und beobachtete die Reaktion der Menschen: Fotografieren sie? Machen sie Selfies? Gulin wurde für diese nicht per se politische Aktion verhaftet, da er "die Paranoia des Regimes" getriggert habe, so Petz:
"Den öffentlichen Raum in Unordnung zu bringen, in Schwingung, das ist das, was wir jetzt auch erleben, und was damals schon durch Gulins Aktion sichtbar geworden ist."
(jfr)
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