Protestkultur

Demos nicht nur für Bildungsbürger

Pegida-Demonstration am 12. Januar in Dresden
Pegida-Demonstration am 12. Januar in Dresden © picture alliance / dpa / Foto: Arno Burgi
Von Ulrike Köppchen · 19.01.2015
Die 68er machten das Demonstrieren in Deutschland gesellschaftsfähig - auch bei Konservativen. Mit Pegida erreicht der Straßenprotest nun diejenigen, die für politisch nicht artikulationsfähig gehalten wurden, meint der Soziologe Simon Teune.
Die Deutschen sind protestfaul, heißt es, und demonstrieren nicht gern.
"Im Vergleich bewegen sich die Deutschen im Mittelfeld ..."
... sagt der Soziologe Simon Teune vom Wissenschaftszentrum Berlin und verweist auf mehr als 4800 Protestveranstaltungen, die im vergangenen Jahr allein in Berlin stattgefunden haben. Es geht also doch. Allerdings mussten die Deutschen das Demonstrieren erst mühsam lernen. Kein Wunder, denn die Erfahrungen, die man hier mit Politik auf der Straße gemacht hat, sind schließlich nicht die besten.
"Natürlich spielt auch die Geschichte der Weimarer Republik eine große Rolle, wo es auf der Straße Auseinandersetzungen gab zwischen Kommunisten auf der einen Seite und Faschisten auf der anderen Seite."
Vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik lieferten sich Kommunisten und Nationalsozialisten erbitterte Straßenschlachten mit Dutzenden von Toten und sorgten für bürgerkriegsähnliche Zustände.
"Und das hat dazu geführt, dass Protest zu Beginn der Bundesrepublik nicht als legitime Form in der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen wurden von großen Teilen der Bevölkerung zumindest."
Demonstrationen und Protestaktionen gab es natürlich dennoch. Riesige sogar. Hunderttausende gingen im Frühjahr 1958 auf die Straße, um gegen die geplante Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu protestieren. Doch die Kampagne "Kampf dem Atomtod" galt als kommunistisch unterwandert, wenn nicht gar von der DDR gesteuert. Insofern haftete den Protesten etwas Anrüchiges an. Da blieb der brave Bürger dann doch lieber zu Hause.
Die 68er erhielten Zuspruch für ihre Demos
Eine Änderung in der Wahrnehmung von Straßendemonstrationen gab es erst mit der Studentenbewegung Ende der 60er-Jahre. Zwar war Demonstrieren in den Augen der Mehrheit nach wie vor etwas für Linke, Radikale, Langhaarige, Chaoten, die sich nicht an die Regeln halten wollten. Aber es gab eben nicht nur die Springer-Presse, die verbal auf die protestierenden Studenten eindrosch, sondern auch eine starke linksliberale Presse, die zumindest Verständnis für deren Anliegen hatte.
"Das hat dazu geführt, dass diese Proteste in Teilen eine positive Medienresonanz gekriegt haben. Das war sozusagen ein Meilenstein in der Geschichte der Bundesrepublik, der dazu geführt hat, dass Proteste als etwas Wichtiges und Normales in der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen werden."
Sodass sich in den 70er-Jahren endlich auch Otto Normalbürger auf die Straße wagte, vor allem wenn vor seiner Haustür etwas gebaut werden sollte, das ihm nicht gefiel: Zum Beispiel die Startbahn West des Frankfurter Flughafens oder ein Atomkraftwerk.
So waren am Protest gegen den Bau des Atomkraftwerks in Wyhl Mitte der 70er-Jahre viele Bauern beteiligt und auch Menschen mit konservativen politischen Einstellungen. Der "Wutbürger" wurde also nicht erst bei den Protesten gegen Stuttgart 21 erfunden – auch wenn man das gern so dargestellt hat.
"Stuttgart 21 hat deswegen so viel Aufmerksamkeit bekommen, weil es eben die Annahme gab, da passiert etwas Neues, da ist das Bürgertum auf der Straße, das bis dahin nicht protestiert hat. Das ist eine falsche Annahme. Das ist auch empirisch nicht ganz richtig, weil es zwar diesen Anteil von konservativen Protestierenden gab, aber in der Mehrheit auch die Protestierenden in Stuttgart eher linksliberal orientiert gewesen sind."
Keine Protestform für Gebildete mehr
Dass Sit-Ins, Demonstrationen, Sitzblockaden legitime politische Ausdrucksmittel sind, haben die Deutschen inzwischen gelernt. Allerdings sind es vor allem die Bessergebildeten und auch die Besserverdienenden, die von diesen Protestformen Gebrauch machen, während diejenigen, die in der sozialen Hierarchie weiter unten stehen, sich kaum daran beteiligen. Aber das ändert sich möglicherweise gerade.
Noch weiß man nicht genau, wer oder was sich hinter den Pegida-Protesten verbirgt. Aber der Soziologe Simon Teune vermutet, dass mit Pegida jetzt auch die Gruppe derer den Straßenprotest für sich entdeckt hat, die bisher für politisch nicht artikulationsfähig gehalten wurden.
"Meine Annahme wäre, dass der Anteil der Leute, die sich vorher noch nicht an Protesten beteiligt haben, die sich vielleicht auch bei Wahlen nicht beteiligt haben, dass der relativ hoch sein dürfte bei Pegida und dass da sozusagen die Demokratieverdrossenen ein Forum gefunden haben."
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