Proteste in Bulgarien

Sehnsucht nach dem Rechtsstaat

09:44 Minuten
Demonstranten sitzen am Straßenrand und blockieren mit aufgeschlagenen Zelten die Straßen.
Am 1. August 2020 versammeln sich Menschen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia, um gegen die Korruption im Staat zu protestieren. © Getty Images / NurPhoto / Hristo Rusev/
Von Clemens Verenkotte · 10.08.2020
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Ein buntes Bündnis fordert in Bulgarien ein Ende der Korruption und deren Folgen für die Demokratie. Die Demonstranten wollen Ministerpräsident Bojko Borissow entmachten, der für sie die Symbiose aus Macht, Oligarchie und Bestechung darstellt.
"Bitte seht: Die Bierdosen sind ein Symbol dafür, dass wir Bürger die Mafia irgendwann zerquetschen werden. Wir rufen 'Mafia! Rücktritt! Mafia raus!' vor dem Regierungsgebäude, vor dem Parlament, vor dem Justizpalast, und die wahre Macht liegt an den Orten wie den 'Acht Zwergen'. Heute sind wir auf dem Territorium der Mafia, vor ihrem Versteck, und wir sind stärker als sie. Die Mafiosi sind weg, sie haben sich versteckt. Sammelt hier die Bierdosen und lasst uns zum Protest vor das Regierungsgebäude gehen. Beteiligt euch an allen Protesten, überall wo ihr könnt!"
Zusammengedrückte Bierdosen stehen vor den Fensterscheiben eines Ecklokals in Sofias Innenstadt. "Die acht Zwerge" heißt das inoffizielle "Büro" eines sehr einflussreichen Ex-Untersuchungsbeamten und heutigen Anwalts, in dem man – so die Recherchen des Journalisten Nikolaj Stajkow von der Nichtregierungsorganisation "Anitkorruptionsfond" – für Geld Strafanzeigen kaufen oder einstellen lassen kann.

Morddrohungen gegen den Whistleblower

Ein Lokal, das aufgrund der Dokumentarfilme, die Stajkow Ende Juni ins Netz gestellt hat, für zahlreiche Bulgaren der Inbegriff all dessen ist, wogegen sie protestieren. An diesem Abend sind es rund 100 bis 150 Menschen, die vor den "Acht Zwergen" demonstrieren. Es geht heiter und zuweilen freudig zu, aus einer mitgebrachten Verstärkeranlage dröhnt Musik.
Nikolaj Stajkow steht ein wenig abseits. Seine Recherchen haben ihn ins Zentrum der Bestechlichkeit bulgarischer Strafermittlungsbehörden geführt. Morddrohungen gegen ihn und seine Kinder waren die Folge.
"Es war klar, dass das keine typische Recherche war. Als wir den ersten Teil unserer Doku veröffentlichten, war das ein für die Öffentlichkeit geschlossenes Restaurant – und am nächsten Tag war es offen, es sollte so getan werden, als wäre es ein normales Lokal. Tatsächlich ist es das informelle Büro eines sehr einflussreichen Ex-Untersuchungsbeamten. Er hat den Spitznahmen: 'Der Euro' oder – besser gesagt – 'der Euro-Schein', um es korrekt zu übersetzen. Dieser Typ – sein Name ist Petjo Petrow – ist zum Symbol für die unerklärlich einseitigen Ermittlungen gegen die Staatsanwaltschaft geworden, um es korrekt auszudrücken."

Gekaufte Strafermittlungen gegen Konkurrenten

Anhand eines ins Ausland geflohenen Kronzeugen, dem vormals das größte Fahrstuhlunternehmen Bulgariens gehörte, das er nach einem Besuch im inoffiziellen Büro "Acht Zwerge" des "Euro-Schein" genannten Ex-Untersuchungsbeamten vollständig verlor, könne er – so sagt der Journalist Stajkow – den Beweis führen, dass bis in höchste Kreise hinein die Strafermittlungen, etwa gegen politische oder geschäftliche Konkurrenten, gekauft werden könnten:
"Personen in unserem Video sagen, dass sie hier die Chefs der Sonderermittlungsbehörde und der Nationalen Ermittlungsbehörde getroffen haben. Alle warteten hier, um den Besitzer in seinem informellen Büro zu sehen."

Ruf nach Borissows Rücktritt

Mittwochabend, der 29. Juli: Erneut sind es Tausende, die in Sofias Innenstadt auf die Straße gegangen sind, und "Borissow – Schande! Rücktritt und Gefängnis!" skandieren, was sich im Bulgarischen reimt.
"Danke, dass ihr nicht schweigt! Danke, dass wir zusammen sind! Danke, dass wir kämpfen! Ich habe jahrelang für diesen Kampf gebetet – um das zu sehen. Danke, dass ihr hier seid! Wir werden bis zum Schluss kämpfen, bis wir das gewünschte Ziel erreicht haben, zum Wohle aller von uns, denn wir sind unterschiedlich, aber wir sind alle Bulgaren. Danke euch!"

Bulgaren sind von der EU enttäuscht

Bojko Borissow, der Ministerpräsident und seit 2009 von wenigen Unterbrechungen abgesehen im Amt, steht für viele Menschen im ärmsten und korruptesten Land innerhalb der Europäischen Union für die scheinbar undurchdringbare Symbiose aus Macht, Oligarchie und Bestechung. In den Reihen der Europäischen Union sowie in der NATO gilt der 61-jährige Borissow als verlässlicher Partner, als Garant einer gesicherten EU-Außengrenze zur Türkei, als Vermittler zwischen EU, Russland, Erdogans Türkei und den Balkanstaaten, als enger politischer Freund von Angela Merkel, gut vernetzt zudem in der christdemokratisch-konservativen EVP-Parteienfamilie.
Bojko Borissow sitzt mit ernster Miene an einem Verhandlungstisch.
Bojko Borissow, der bulgarische Ministerpräsident, im Juni 2020 in Sofia.© imago images/photothek/Thomas Imo
Unter den Demonstranten herrscht große Enttäuschung über die Europäische Union vor, der Bulgarien seit 2007 angehört. Enttäuschung darüber, dass das Schweigen aus Brüssel und Berlin so "ohrenbetäubend" stumm sei.
Der 36-jährige Todor Zwjatkow hält auf der großen Demonstration am 29. Juli in Sofia ein Schild mit der Aufschrift in deutscher Sprache hoch: "Liebe Angela und liebe Ursula, sind Sie blind oder auch korrupt?" Und er sagt: "Sie müssen ihre Augen aufmachen. Ohne die Hilfe von Deutschland und den europäischen Staaten werden wir den Kampf gegen die Korruption nicht gewinnen können. Andererseits spielen sie vielleicht in einem Team."

Letzter Platz auf dem Korruptionsindex

Seit dem EU-Beitritt 2007 prüft Brüssel bis heute jedes Jahr, ob und in welchem Ausmaß Bulgarien "Fortschritte" bei der Erfüllung dessen gemacht habe, was eigentlich als Aufnahmekriterien galt. Vor allem beim Thema Korruption habe die Europäische Union über die Tatsache hinweggesehen, dass Bulgarien unter Borissow auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf den letzten Platz innerhalb der EU abgerutscht ist. Professor Antonij Todorow, unabhängiger Politologe an der größten Privatuniversität Sofias:
"Die EU sagte überhaupt nichts. Borissow scheint nützlich zu sein, für – sagen wir – die bulgarisch-türkische Grenze und die Frage der Flüchtlinge. Erstens. Zweitens: Vielleicht ist er nützlich für all diese ziemlich schwierigen Beziehungen zwischen der EU, Russland, Türkei, dem Balkan und so weiter."

Übernahme der ganzen Staatsstruktur

Borissow gründete 2006, ein Jahr vor dem EU-Beitritt, die bis heute dominierende Partei des Landes, GERB, übersetzt "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens", eine rechtskonservative, nationale Partei. Bei allen Wahlen, ob Kommunal-, Europa- oder Parlamentswahlen, gewann GERB seitdem die meisten Stimmen, mit einer einzigen Ausnahme: Bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2016, als der von den Sozialisten unterstützte Ex-Luftwaffen-Kommandeur Rumen Radew gegen den GERB-Kandidaten gewann. Die institutionelle Machtausübung der Borissow-Partei sei es auch, gegen die die Demonstranten protestierten, sagt der Politologe Antonij Todorow:
"GERB war erfolgreich dabei, die gesamte Struktur des Staates zu übernehmen. Überall. Dieses Monopol also erzeugt natürlich eine Menge Probleme und ist meiner Meinung nach der Hauptgrund für diese Proteste."

Wohin neigt sich die Waage?

Eines haben die Proteste bereits bewirkt, die seit der fehlgeleiteten Durchsuchungsaktion des Borissow-treuen Generalstaatsanwalts Iwan Geschew im Amtssitz von Präsident Radew Anfang Juli jeden Abend fortgesetzt werden: Die internationale Aufmerksamkeit richtet sich inzwischen nunmehr auf die innenpolitischen Zustände Bulgariens. Es sind vor allem die jungen Demonstranten, wie die 20-jährige Alexandra, die ihr Land als einen funktionierenden Rechtsstaat erleben wollen – und nicht mehr länger als Schlusslicht der EU beim Thema Korruption:
"Ich bin derzeit gezwungen, im Ausland zu studieren, weil es hier nicht genügend Möglichkeiten für eine gute Ausbildung, für einen guten Job, ein gutes Leben gibt. Ich möchte nach Bulgarien zurückkehren, eine Familie hier haben und dass meine Kinder nicht Tausende von Kilometern zurücklegen müssen, um eine hochwertige Ausbildung zu erhalten. Meiner Meinung nach hat die EU Angst, sich in die Politik Bulgariens einzumischen. Die EU wartet darauf, dass die Waage auf die eine oder andere Seite kippt, damit sie die sichere Seite unterstützt."
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