Proteste gegen Wahlfälschung in Belarus

Aufrufe zur Beendigung der Gewalt

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Frauen nehmen mit Blumen an den Demonstrationen gegen den Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen teil.
Seit Tagen halten die Proteste in ganz Belarus an. © picture-alliance/Sputnik/Viktor Tolochko
Jakob Wöllenstein im Gespräch mit Dieter Kassel  · 13.08.2020
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Der Vertreter der Konrad-Adenauer Stiftung, Jakob Wöllenstein, blickt von Litauen aus auf die Entwicklungen in Belarus, weil dort Informationen besser zugänglich sind. Bisher zeige Präsident Lukaschenko keine Dialogbereitschaft, so Wöllenstein.
Dieter Kassel: Die Demonstranten, die in Minsk und auch in anderen Städten von Belarus auf die Straße gehen, verhalten sich – zumindest nach allem, was man erfährt – überwiegend friedlich. Die Reaktion der Regierung auf diese Demonstrationen gegen den offiziellen Ausgang der Präsidentenwahl am Sonntag scheint allerdings alles andere als das zu sein.
Es gibt Meldungen über Tausende von Inhaftierten, es soll inzwischen mindestens zwei Tote gegeben haben. Es ist zum Teil relativ unklar, was da im Einzelnen passiert, aber man kann es ein bisschen klären, wenn man die richtigen Quellen hat. Wir wollen versuchen, ein bisschen was zu klären mit Jakob Wöllenstein.
Er ist der Leiter des Auslandsbüros Belarus der Konrad-Adenauer-Stiftung, das sich allerdings nicht in Belarus befindet – das hat allerdings nichts mit diesen Wahlen und Demonstrationen zu tun, das ist schon jahrelang so –, sondern im Nachbarland Litauen, in Vilnius, und da erreichen wir ihn jetzt auch. Was wissen Sie über die Lage in Belarus?

Schlimme Polizeigewalt

Wöllenstein: In der Tat, wie Sie sagten, ist es sehr schwierig, genaue Informationen zu bekommen. Allerdings war über die letzten Tage der Eindruck, dass es besser ist, im Ausland zu sitzen, wo das Internet stabil ist, wo man Zugang hat eben auch zu belarussischen Quellen, die teilweise ja aus Warschau senden, wie der Fernsehsender Belsat, und dass man hier eine bessere Übersicht hat.
Die Eindrücke sind jetzt, dass die Demonstrationen zum einen in der Menge und Masse nachgelassen haben, und auch die Polizeigewalt, die ja gestern einen traurigen Höhepunkt erreicht hatte von den Eindrücken, dass es wirklich bestialische Szenen gab von Gewalt auf der Straße, auch gegen Unbeteiligte, dass das deutlich sich abgemildert hätte und auch die Proteste jetzt eine Form angenommen haben von Frauen mit Blumenketten zum Beispiel.
Das war gestern an vielen Orten zu sehen, auch in Minsk, die da hingingen, wo dieser eine Demonstrant in Minsk gestorben war zum Beispiel, aber eben auch landesweit vor allem durch Frauen gestern geprägt, und andererseits die Streiks, die weitergegangen sind und zu denen auch heute wieder aufgerufen wurde. Da könnte der Faktor, dass das Internet wieder weitgehend funktioniert, auch dazu führen, dass sich das jetzt besser koordinieren lässt als in den Tagen vorher, wo die Informationslage unklar war.
Die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexejewitsch von 2015
Auch die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexejewitsch fordert den Rücktritt von Präsident Alexander Lukaschenko© picture-alliance/www.picturedesk.com
Eine spannende Entwicklung ist auch, dass verschiedene Leute aus den belarussischen Gebieten – nicht unbedingt den Staatseliten direkt, der Verwaltung aber – aus der Kultur, die Nobelpreisträgerin Alexijewitsch zum Beispiel oder auch Moderatoren aus dem staatlichen Fernsehen oder die Top-300-IT-Unternehmen, in einem Anruf zum Ende der Gewalt aufrufen und Präsidentschaftswahlen und Neuwahlen fordern oder eben die Anerkennung des Ergebnisses jetzt.

Vorschlag aus dem Baltikum

Kassel: Das ist ganz interessant, was Sie zum Schluss gesagt haben, Herr Wöllenstein, weil das passt zu einem, ja, Plan ist übertrieben, einem Vorschlag, den die beiden wichtigsten Nachbarländer von Belarus unterbreitet haben, nämlich Litauen und Polen.
Das ist ein Vorschlag einer Art Volkskammer, einer Art Volksgremium, in denen dann Vertreter der Regierung, also das Lukaschenko-Lager und der Opposition oder vielleicht auch allgemein Prominente sitzen sollen. Ich hab eigentlich geglaubt, dass dieser Vorschlag gar keine Chance hat, aber nach dem, was die jetzt sagen, sehen Sie Chancen für diesen Vorschlag?
Wöllenstein: Zum einen, meines Wissens waren es Litauen, Polen und Lettland, also die drei direkten Nachbarn der EU von Belarus, die diesen Vorschlag gemacht haben mit diesem Drei-Stufen-Plan, der vorsieht, Gewalt eben sofort einzustellen, die Gefangenen freizulassen. Das passiert scheinbar auch, das ist eine Meldung von vor einer Stunde, dass viele Gefangene wohl freigelassen werden, einfach weil die Kapazitäten am Ende zu seien scheinen.

Freilassungen aus Platzmangel

Es gab gestern einen Bericht, dass in einer Zelle, die für vier Personen ausgelegt wäre, 37 Leute gewesen wären, also das geht gar nicht physisch, die alle drinzuhalten, und eben Punkt drei dieses Stufenplans, das, was Sie genau sagten, Dialog mit der Gesellschaft aus einem nationalen Rat. Nur hat der Präsident bis jetzt überhaupt gar nicht andeuten lassen, dass er zu einem Dialog bereit ist und überhaupt das Problem nicht anerkennt.
Der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko. 
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko beschimpft die Demonstranten als Kriminelle und Agenten des Auslands. © picture-alliance/www.picturedesk.com
Er hat sich in den letzten Tagen bemüht, möglichst Normalität auszustrahlen und das Ganze kleinzureden, das seien wenige Verrückte oder Arbeitslose, Alkoholiker, Schafe, die vom Ausland gesteuert werden, also überhaupt nichts, nicht mal eine Anerkennung, dass das Gesprächspartner sein könnten.
Es wäre wichtig, dass es zu einem Dialogprozess kommt, nur ob der Präsident selbst dazu bereit ist oder sich sonst aus der Verwaltungselite dann Menschen finden, da einzutreten, gegen den Willen des Präsidenten, das ist gerade die ganz große Frage.
Kassel: Das heißt, Sie trauen es Lukaschenko wirklich zu, dass er komplett stur bleibt und dass er mit aller Macht versucht, das jetzt auszusitzen beziehungsweise niederzukämpfen?
Wöllenstein: Es ist zumindest überhaupt kein anderes Zeichen zu erkennen gewesen. Von vornherein war der gesamte Wahlkampf davon geprägt, dass er von vornherein ausschloss, das Land jemand anderem zu geben, dass er seine Gegner und Herausforderer von vornherein dämonisiert hat. Das seien alles Kriminelle oder eben Agenten des Auslands.
Er müsste das also alles zurücknehmen und er hat ja auch Äußerungen gemacht, die ziemlich klar – bei uns mindestens – als frauenfeindlich einschätzen würde gegen Tichanowskaja. Jetzt anzuerkennen, dass er gegen sie verloren haben könnte, ich sehe überhaupt nicht, dass er dazu bereit ist, das ist durch nichts zu erkennen.

Swetlana Tichanowskaja in Litauen

Kassel: Die Oppositionskandidatin, Swetlana Tichanowskaja, die laut offiziellen Angaben so ungefähr sieben Prozent der Stimmen bekommen hat, ist nach Litauen, ich sage es mal ganz neutral, ausgereist. Sie hat es auch wohl tun müssen – ich rede hier mal nicht von einer Flucht, das war es nun nicht direkt. Hat sie sich eigentlich noch mal geäußert, wissen Sie, was mit der gerade ist?
Wöllenstein: Sie hat sich nicht geäußert bis jetzt, allerdings gab es mehrere Aussagen des litauischen Außenministeriums, von dem ja auch die Nachrichten erst kamen, dass sie hier sei und dass die Umstände wohl ganz eindeutig unter Druck entstanden sind. Es gab halt diese zwei Videos, von dem eins aufgenommen wurde in der zentralen Wahlkommission in Minsk.
Man muss sich das vorstellen: Sie ist da hingegangen, um das Ergebnis anzufechten. Sie wollte auf dem legalen Weg diese Wahl anfechten, wurde da festgehalten offenbar für mehrere Stunden, hat dieses Video dann veröffentlicht, abgelesen, dass sie die Leute dazu aufruft, nicht mehr zu protestieren, und ist dann nach Litauen eben scheinbar durch den Staat, den Belarusstaat selbst gebracht worden.
Hier hatte sie kurz ein Video veröffentlicht, dass sie sich zurückzieht von allem, offenbar bedroht wurde, und sie soll sich aber jetzt wohl zeitnah noch mal äußern, sagte der litauische Außenminister, ihr gehe es aber persönlich soweit gut.

Erwartungen an die EU

Kassel: Apropos zeitnah: Heute oder spätestens morgen wird erwartet, dass die EU konkret mitteilt, was sie nun zu tun gedenkt über eine verbale Verurteilung dieser Ereignisse hinaus. Das ist ja schwierig, wenn wir an die – das ist nicht hundertprozentig vergleichbar, ich weiß –, aber an die Ukraine erinnern, an Länder woanders auf der Welt: Einmischung kann ja das Gegenteil erzeugen. Was würden Sie denn im Moment sinnvollerweise erwarten, was Europa tun sollte?
Wöllenstein: Einmischung ist sowieso natürlich nicht sinnvoll und nicht in unserem Sinne. Aber ich glaube, es ist immer die Mischung oder die Kombination aus mehreren Elementen: einmal ganz klar zu zeigen, dass Aufmerksamkeit da ist, das auch unabhängig jetzt von der jetzigen Lage, sondern dem Land zu zeigen, dass wir uns dafür interessieren, was da passiert.
Und dann eben die zwei Elemente, eine Kombination aus den Druckmitteln, die man hat, eben dass diese Gewalt endet, dass man da irgendwie den Worten auch Taten folgen lassen kann und nicht nur sich besorgt äußert. Da wird man über Sanktionen sicherlich auch weiter sprechen, allerdings ist dann natürlich immer die Frage, wie schnell kann so was wirken und kriegt man in der Europäischen Union dafür Einigkeit hin.
Aber das Problem ist eben, wir haben nicht viele Druckmittel im diplomatischen Repertoire, die man anwenden kann. Die direkten Zahlungen, die ins Budget von Belarus gehen aus EU-Fördermitteln, sind irgendwie 30 Millionen Euro pro Jahr, das wäre nicht viel.
Aber eben das andere – und das ist das ganz Wichtige –, eben Unterstützung anzubieten, diesen Vorschlag jetzt der Nachbarländer hier aufzunehmen, Vermittlung anzubieten, die eigenen Erfahrungen einzubringen und eben zu sagen, wenn das Land zur Ruhe kommt und in einen Dialogprozess eintritt, sind wir bereit, auf einer ganz breiten Basis die Zusammenarbeit fortzuführen. Es gab da ja ganz viele aussichtsreiche Initiativen in den letzten Jahren im Rahmen der öffentlichen Partnerschaft, das also auszubauen und Hilfe anzubieten natürlich für die Leute, die jetzt zu Opfern geworden sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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