Protest gegen atomare Aufrüstung

Erinnerungen eines Friedensbewegten

12:42 Minuten
Demonstranten tragen ein Transparent mit der Aufschrift "Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen".
Die in Europa stationierten Atomraketen hätten in den 1980er-Jahren ein atomares Inferno auslösen können. Dagegen gingen vor allem viele junge Leute auf die Straßen. © imago / Sven Simon
Von Winfried Sträter · 28.03.2021
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Vor 40 Jahren trieb die Angst vor dem Atomkrieg Hunderttausende auf die Straße: Die Friedensbewegung hatte in Westdeutschland ihren Höhepunkt. Unser Autor Winfried Sträter war dabei – und sieht Parallelen zur heutigen Klimabewegung.
Aufstehen war unsere Sache nicht. Früh aufstehen. Wir studierten Geschichte, Politik, Betriebswirtschaft an der Universität Münster, aber die frühen Vorlesungen und Seminare mussten meistens ohne uns auskommen.
An diesem Tag jedoch war alles anders. Lange vor dem Morgengrauen saßen wir am Frühstückstisch unserer Wohngemeinschaft und bald im Auto auf dem Weg nach Bonn. Und waren vom Donner gerührt, als wir die Frühnachrichten des WDR einschalteten. Wir waren das Thema der ersten Nachricht. Wir, die Demonstranten. Wie viele Sonderzüge, Busse und Autos auf dem Weg waren: Das meldete der WDR als Top-Nachricht.

Gefahr eines atomaren Infernos

In Bonn hörten wir dann das: "Wir grüßen als Veranstalter all die vielen Menschen, die zu Lande, zu Wasser und durch die Luft hierher nach Bonn gekommen sind, und jemand hat ausgerechnet, dass die über 3000 Busse, die in der Nacht in diese Stadt gefahren sind, eine Schlange von über 60 Kilometer ergeben."
Die Rüstungsspirale hatte den Kalten Krieg an einen Punkt gebracht, an dem er außer Kontrolle geraten konnte. Ein Missverständnis, eine technische Panne – und die Atomraketen, die in Europa stationiert werden sollten, hätten ein atomares Inferno auslösen können. Die Rüstungslogik des Ost-West-Konflikts sollte durchbrochen werden: Deshalb standen wir auf der Hofgartenwiese in Bonn.
Der evangelische Pastor und ehemalige regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz gehörte zu den Rednern: "Was bedeutet dann die Sicherheit, die die Supermächte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR anzubieten haben? Denn in keinem anderen Land der Welt bedeutet Krieg zugleich die Zumutung, dass ein Teil des Volkes, zu dem wir doch angeblich noch alle gehören, den jeweils anderen als erstes Opfer umbringen soll."

Aufbruch in der Mitte der Gesellschaft

Ich hatte als Student vorher immer mal wieder an einer Demonstration teilgenommen. "Erhalt der Frauenstraße 24" – ein besetztes Haus in Münster. "Atomkraft nein danke!" Das Gefühl, sich mit anderen für eine gute Sache einzusetzen, hatte etwas Erhebendes. Die Konzerte von Liedermachern, gewissermaßen die Begleitmusik: Konstantin Wecker, Udo Lindenberg, Wolf Biermann – rauschende Feste.
Demonstranten tragen ein Transparent mit der Aufschrift "SHB Münster - Erhalt der Frauenstrasse 24".
Als Student nahm Winfried Sträter immer wieder an Demonstrationen teil – hier etwa für den Erhalt des besetzten Hauses in der Münsteraner Frauenstraße 24© Deutschlandradio / Winfried Sträter
Trotz alledem: Eigentlich war vieles ungeheuer deprimierend gewesen. Ende der 70er-Jahre las man auf den Flugblättern in der Mensa fast nur Pamphlete ideologisch besessener K-Gruppen. Der RAF-Terror, der Deutsche Herbst 1977: Tiefpunkt nach dem 68er Aufbruch. Immerhin: Die Bewegung gegen die Atomkraftwerke war ein Ausbruch aus den ideologischen Grabenkämpfen und dem Terror. Auch die Hausbesetzerbewegung an der Wende zu den 80er-Jahren. Aber – immer wieder abschreckende Nachrichten von Straßenschlachten. Es hatte Gründe, warum diese Bewegungen einen begrenzten Radius hatten. Und nun – diese Massen in Bonn.
Von der Bühne schallte: "Eine Kundgebung des Friedens, an der niemand mehr vorbeikommen kann. … Zwischen einer Viertelmillion und einer halben Million Menschen nehmen an dieser Kundgebung teil, nahezu 1000 Organisationen haben den Aufruf unterschrieben."
Es war nicht nur ein Aufbegehren gegen die Vor-, Nach- und Hochrüstung. Es war auch eine Befreiung von den abgenutzten Ritualen der 70er-Jahre-Kämpfe. Endlich ein Aufbruch in die Mitte der Gesellschaft: Das Gefühl bewegte viele am 10. Oktober 1981 und in der Friedensbewegung jener Jahre. Man erreicht viel mehr Menschen, wenn man gewaltlos dagegen aufsteht, dass die Politik einen vernichtenden Krieg riskiert. Denn die Angst vor einem unbeabsichtigten Atomkrieg war weit verbreitet.

Frieden, aber auch Revolution

Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll stand auf der Bühne. "Die Politiker haben ja die Wahl, uns zu apathischen Zynikern zu machen. Das ist sehr leicht geschehen, sie können es haben. Sie können eine gelähmte Bevölkerung auf der ganzen Welt haben, die gelähmt ist von diesen Waffenzahlen. Wir wollen uns nicht lähmen lassen."
Ich erinnere mich noch gut an die Hoffnungen, die damals aufkeimten. Es könnte einen Aufbruch jenseits der formierten Blöcke in Ost und West geben. Mit Leuten aus einer Münsteraner Amnesty-Gruppe stand ich in der Fußgängerzone und verkaufte die "Sandino-Dröhnung", den Nicaragua-Kaffee, mit dem wir für die Revolution der Sandinistas warben. Für Ernesto Cardenal, den Priester, Poeten und Mönch der Revolutionsregierung.
"Es war ein Befreiungskrieg. Er hat uns den Frieden gebracht", so Cardenal über die dortige Revolution: "In Nicaragua erlebten wir in den aufständischen Städten, wie ein ganzes Volk das Evangelium in die Praxis umsetzte. Einer opferte sein Leben für den anderen. Das ganze Volk war bereit zu sterben. Nur so konnte es sich befreien."

Theologie der Befreiung als dritter Weg

Woche für Woche pilgerte ich in die Vorlesung von Johann Baptist Metz und war fasziniert von der Theologie der Befreiung. Niemand entwarf mit größerer Zärtlichkeit die Utopie einer Kirche der Armen, der christlichen Basisgemeinden in Lateinamerika. Wenn Metz in freier Rede eine Vorlesung über Theologie nach Auschwitz hielt, verließen alle am Ende schweigend den Hörsaal. Ich studierte nicht Theologie, sondern Geschichte und Politik, aber diese Vorlesungen waren die eindrucksvollsten meines ganzen Studiums.
Deshalb stand ich in Münster am Sandino-Tisch und warb dafür, die nicaraguanische Revolution zu unterstützen. Das kleine lateinamerikanische Land schien der Welt den Weg aus der Konfrontation zwischen totalitärem Kommunismus und gefräßigem Kapitalismus zu weisen.
Der Deutschlandfunk kommentierte 1981, zwei Jahre nach der Machteroberung durch die Sandinisten: "Eine authentische Volksrepublik also im Geiste der Gemeinsamkeit und der Brüderlichkeit. Ein Ziel – bisher nirgends in der Welt verwirklicht." Dass heute der damalige Revolutionschef Ortega ein brutaler Diktator ist: Derart deprimierend hätte ich mir den Lauf der Geschichte damals nicht vorstellen können.
Die Großdemonstration in Bonn vermittelte auch ein Gefühl von einem dritten Weg: Wir brechen aus der Logik der herrschenden Systeme aus.
Auf der Demonstration in Bonn wurde nicht der Krieg erklärt, sondern der Frieden: "Und als Letztes ein kurzes Gedicht, das heißt, Erklärung: Für den Fall, dass dieser Staat, wo ich arbeite, einem zweiten Staat, wo andere Leute arbeiten, den Krieg erklärt, erklär ich jenen Leuten schon heut den Frieden."

Haben wir etwas geändert?

Vielleicht war unser Gefühl damals verwandt mit dem der Fridays-for-Future-Aktiven heute. Ihr Regierenden könnt sagen, was ihr wollt, aber es muss sich etwas ändern! Sonst wird es furchtbar.
Winfried Sträter 1981 in seinem WG-Zimmer in Münster und noch einmal auf einem Porträt aus dem Jahr 2016.
Winfried Sträter war bei der Friedensbewegung 1981 dabei - und sieht Parallelen zur heutigen Klimabewegung.© Deutschlandradio / Winfried Sträter
Haben wir etwas geändert? 1982 waren wir wieder in Bonn, auf den Rheinwiesen, und wir waren noch mehr. 400.000. Gegen diese Bewegung werde keine Politik mehr gemacht werden können, notierte ich damals. Die Politik ging trotzdem zur Tagesordnung über und beschloss die Raketenstationierung.
Der Westen gab nicht nach – aber, völlig überraschend, der Osten. Gorbatschow, Glasnost, Perestroika. Hatte das etwas mit uns zu tun, den Friedensdemonstranten in Bonn? Oder eher mit der Strategie der USA, die Sowjetunion totzurüsten und damit zu überfordern?
Wenige Jahre später, am 4. November 1989, hörte ich Stefan Heym auf dem Ostberliner Alexanderplatz: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation."
Eine noch viel größere Demonstration als seinerzeit in Bonn. Zwischen einer halben und einer Million Menschen waren aufgestanden, um friedlich ihre diktatorisch regierende Staatsmacht zur Demokratisierung zu zwingen. Die Bürgerbewegten waren überwältigt von diesem Aufbruchserlebnis. Der Traum von einer völlig neuen DDR schien zum Greifen nahe. Aber – auch hier kam alles ganz anders. Mauerfall. Demokratisierung: ja, aber unter dem Dach der gesamtdeutschen Bundesrepublik.
Welche Überraschungen wird wohl die Fridays-for-Future-Bewegung erleben, wenn sie Erfolg hat?

Die Bedrohung war real

PS: Wovor die Friedensbewegung 1981 gewarnt hatte, das wäre fast Wirklichkeit geworden. Am 26. September 1987 meldete das Frühwarnsystem bei Moskau einen Angriff amerikanischer Atomraketen. Der verantwortliche sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow blieb jedoch besonnen und nahm an, dass es ein Fehlalarm sei. Korrekt. Er löste keinen Gegenschlag aus und bewahrte so die Welt vor dem Atomkrieg, vor dem wir 1981 in Bonn gewarnt hatten.
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