Proletarische Version der Buddenbrooks

21.10.2010
Wie das ist, wenn ein junger Mann, der kein Jude ist, von seinen Kollegen zum Juden gemacht und gemobbt wird – weil er Salzmann heißt und seine Großmutter ihr Leben im Konzentrationslager gelassen hat: das erzählt Erich Hackl in seiner "Familie Salzmann", einer "Erzählung aus unserer Mitte".
Ein junger Mann, untadeliger Mitarbeiter der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse in Graz, wird von Kollegen gemobbt. Mehrmals täglich mit "Schalom" gegrüßt, als "Oberrabbiner" angesprochen, als "Schwollschädel" - wobei nicht klar wird, welche Vokabel die größere Beleidigung darstellen soll. Als er sich beschwert, wird ihm Verfolgungswahn nachgesagt, harmlose Scherze seien das.

Der dies vor nicht allzu langer Zeit erlebte, heißt Hanno Salzmann. Seine Geschichte und die seiner Familie erzählt der österreichische Autor Erich Hackl. Beginnen lässt er sie mit der Geburt von Hannos Großvater 1903, der letzte Satz erwähnt den Tod von Hannos Bruder im Jahr 2009. Der Autor, Jahrgang 1954, nennt "Familie Salzmann" eine "Erzählung aus unserer Mitte". Er schreibe "Musterstücke des Weltlaufs, die erzählen, was sich eigentlich ereignet hat" lobte einmal Ruth Klüger den ehemaligen Lektor und Lehrer, der sich auch als Übersetzer einen Namen gemacht hat. Seine Spezialität ist die literarische Gestaltung gut recherchierter, historisch dokumentierter Einzelschicksale. Hackls Blick gilt vor allem Personen, die in klassischen Geschichtsbüchern nicht vorkommen.

Hugo Salzmann ist Metalldreher. In Bad Kreuznach früh engagiert beim Gewerkschaftsbund und dem Kommunistischen Jugendverband, wird er 1929 jüngstes Mitglied im Stadtrat. Leitet das Sozialreferat, ist integer und verlässlich, ein angesehener Bürger. Nach 1933 flieht er vor den Nazis. Seine Frau Juliana und sein kleiner Sohn Hugo folgen ihm nach Paris. Bei Ausbruch des Krieges wird Hugo Salzmann interniert, seine Frau festgenommen, Hugo junior mithilfe des Roten Kreuzes zu seiner Tante in die Steiermark transportiert. Sein Vater, vom Volksgerichtshof abgeurteilt, überlebt den Krieg im Zuchthaus. Seine Mutter stirbt im Dezember 1944 in Ravensbrück.

Nach Kriegsende dauert es Jahre, bis sich Vater und Sohn wiedersehen. Der alte Hugo stürzt sich als Gewerkschaftssekretär und Mitglied des Kreuznacher Bürgerrats sofort wieder in die politische Arbeit. Stellt die Versorgung von Einwohnern und Flüchtlingen sicher. Bemüht sich, die Dienststellen von alten Nazis zu säubern, jüdische Bürger zur Rückkehr einzuladen. Als Hugo junior aus der Steiermark eintrifft, haben sich die beiden nichts zu sagen. Über den Tod der Mutter, die Haft des Vaters und Fremdheit des Sohnes wird nicht gesprochen.

Über die Jahre wächst die Entfremdung, noch einmal mehr, als der junge Hugo beschließt, in die DDR zu übersiedeln. 1965 kehrt er mit Frau und seinem Erstgeborenen zurück. Da verstößt ihn der Vater. Hugo zieht nach Österreich, zur Tante, bei der er einst so etwas wie Heimat gefunden hatte. Sein zweiter Sohn, Hanno, kommt zu Welt. Dessen Unglück beginnt, als er in den 1990er Jahren einem gleichaltrigen Kollegen gegenüber erwähnt, seine Großmutter sei im KZ umgekommen. Dieser Umstand in Kombinatíon mit dem Familiennamen Salzmann macht ihn in den Augen der Kollegen zum Juden - der er nicht ist.

Erich Hackl legt mit "Familie Salzmann" eine Art proletarische Version der "Buddenbrooks" vor. Seine Figuren sind plastisch, dabei ganz unpathetisch gezeichnet. Das macht ihre Kraft aus. Sie sind liebenswert, widersprüchlich, ungerecht, heroisch – menschlich eben. Die einen rühren. Vor anderen hat man Respekt. Was man hingegen über steirische Krankenkassenmitarbeiter erfährt, schlägt auf den Magen.

Besprochen von Carsten Hueck

Erich Hackl: Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte
Diogenes Verlag, Zürich 2010
184 Seiten, 19,90 Euro
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