Progressives Judentum

Die Religion dem Leben anpassen

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Bild aus der unabhängigen liberal-progressiven jüdischen Synagogengemeinde Bet Haskala in Berlin.
Zwischen Tradition und Moderne: Die Thorarolle der progressiven jüdischen Gemeinde Bet Haskala in Berlin. © imago images / Uwe Steinert
Von Victoria Eglau · 21.03.2021
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Liberale jüdische Gemeinden berufen sich auf eine Reformbewegung des 19. Jahrhunderts. Sie sind dafür, die Religion an veränderte Realitäten anzupassen. Vorschriften könnten neu gedeutet werden. Kritikern ist das zu einfach.
Zu einer jüdischen Purim-Feier gehört die vollständige Lesung des biblischen Buchs Esther – denn Königin Esther war es, die dieser Erzählung zufolge einst in Persien die Juden und Jüdinnen vor der Ermordung rettete. In der Berliner Synagogen-Gemeinde Bet Haskala wurde der Purim-Gottesdienst Ende Februar wegen der Corona-Pandemie gestreamt.
Immerhin: Das süße Gebäck, die Haman-Taschen, die traditionell zu Purim gegessen werden, durften sich die Bet Haskala–Mitglieder beim Gemeinde-Vorsitzenden Benno Simoni persönlich abholen.

Progressive Anfänge der Orthodoxie

Bet Haskala ist eine von 27 Gemeinden, die der Union Progressiver Juden in Deutschland angehören. Die kleine Synagoge im Berliner Bezirk Wedding ist unabhängig, so wie die meisten Reformgemeinden. Einige andere befinden sich unter dem Dach einer jüdischen Einheitsgemeinde. Bet Haskala mit seinen knapp zwei Dutzend Mitgliedern wurde vor sieben Jahren gegründet.
Der Gemeinde-Vorsitzende Simoni erklärt, was "progressiv" für ihn bedeutet: "Es entwickelt sich einfach weiter. Das, was wir heute als Orthodoxie bezeichnen, war vor tausend Jahren sehr progressiv. Das ist eigentlich das Wichtige, man muss immer mit der entsprechenden Zeit gehen. Ich glaube, diesen Schritt hat man bisher glücklicherweise im Judentum immer wieder geschafft – sonst wären wir auch untergegangen."

Nicht statisch, sondern fließend

Das progressive Judentum geht auf eine Reformbewegung zurück, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstand. Ihr Vordenker Abraham Geiger sah das Judentum nicht als statisch, sondern als etwas Fließendes, sich immer wieder Erneuerndes.
Für Walter Homolka, Gründer des Potsdamer Rabbiner-Seminars Abraham Geiger Kolleg und Vorsitzender der Union Progressiver Juden in Deutschland, bedeutet das, "dass jede Generation ein neues Glied in der Kette der Tradition schmiedet, und dass dadurch ein immer lebendiger Austausch mit dieser Tradition stattfindet. Das unterscheidet uns von der Orthodoxie, die eigentlich der Fiktion anhängt, dass es immer so war, wie sie es beschreiben."
Der Rabbiner erläutert, im Unterschied zur Orthodoxie gehe das liberale Judentum nicht von einer einmaligen göttlichen Offenbarung aus. Die Offenbarung werde vielmehr als ein von Gott ausgehender, aber durch Menschen vermittelter dynamischer Prozess begriffen.

Judentum im Wandel

"Der Wandel ist konstitutiv für das Judentum, und das lässt sich auch sehr leicht belegen durch das Material, das die jüdische Tradition ausmacht", sagt Homolka. "Die vielen Kodizes und Schriftquellen, die sich nach der Bibel entwickelt haben – Mischna, Talmud, Rechts-Kodizes – das sind alles eigentlich Werke, die eine Frage von allen Perspektiven her beleuchten, und versuchen, dann für ihre jeweilige Zeit eine Antwort zu finden."
Bei Bet Haskala in Berlin erklärt die stellvertretende Gemeinde-Vorsitzende Jennifer Herold: "Ich würde sagen, jemand der orthodox ist, passt sein Leben an die Religion an. Und wenn man progressiv ist, passt man die Religion eher an sein Leben an". Herold hat sich eine liberale Synagoge ausgesucht, weil sie dort als Frau gleichberechtigt ist, den Gebetsschal Tallit anlegen und aus der Thora vorlesen kann.
Dass progressive Gemeinden egalitär sowie offen für sexuelle Minderheiten sind und Menschen ohne jüdische Mutter oder auch nicht-jüdische Ehepartner weitgehend integrieren, macht sie so erfolgreich. Die World Union for Progressive Judaism ist heute die weltweit größte religiöse Organisation des Judentums – mehr als 1200 Gemeinden in vierzig Ländern gehören ihr an.

Ohne Vermittler mit Gott klarkommen

In den USA ist die progressive Strömung vorherrschend. Auch in Israel wächst sie, ebenso wie in Deutschland, wo das Reformjudentum nach der Shoah fast verschwunden war. Benno Simoni schätzt an dieser Strömung die individuelle Entscheidungsfreiheit: "Ich muss mit mir selber und dem da oben klarkommen, und nicht mit irgendeinem Dritten, der sich da als Vermittler einschaltet. Jede Entscheidung ist individuell, muss aber natürlich irgendwie den religiösen Vorschriften entsprechen."
Ein Beispiel: Orthodoxe Juden gehen samstags zu Fuß zur Synagoge, weil Fahren für sie Arbeit ist – und Arbeit ist am Schabbat verboten. Das habe zu einer Zeit Sinn ergeben, in der man noch Pferde anschirren musste, um zu fahren, sagt Benno Simoni. In die S-Bahn zu steigen, sieht er nicht als Arbeit an – deshalb fährt er zum Schabbat-Gottesdienst.
Anita Kantor hält ein Gebetbuch in den Händen.
Im Gespräch über Gesetze und Gebote: Rabbinerin Anita Kántor sucht den Dialog mit der Gemeinde, um die jüdische Tradition immer wieder neu und zeitgemäß auszulegen.© dpa / Wolfgang Kumm
Anita Kántor ist die Rabbinerin von Bet Haskala, sie stammt aus Ungarn und hat das Abraham-Geiger Kolleg absolviert. Der liberalen Geistlichen ist der ständige Dialog über die Art und Weise der Religionsausübung, den sie mit den Gemeinde-Mitgliedern führt, sehr wichtig: "Einerseits habe ich meine Freiheit, mit den Leuten zu sprechen über Tradition und Gesetze, Gebote und Verbote, die Thora, den Talmud, die rabbinische Literatur. Aber andererseits habe ich auch diese Verantwortung, was, wie und wann ich etwas sage, so dass es eine richtige Herausforderung für mich ist."

Veränderungen auch beim Pessachfest

Um zu unterstreichen, wie schwierig es ist, die jüdische Tradition immer wieder neu und zeitgemäß auszulegen, zitiert die Rabbinerin Leo Baeck. Der Religionsgelehrte sagte 1928 bei der ersten internationalen Tagung des progressiven Judentums, die Orthodoxen fänden im Schulchan Aruch, einem mittelalterlichen Kompendium religiöser Gesetze, die fertigen Antworten, die fertigen Entscheidungen. Liberal zu sein sei viel schwerer.
Auch wenn die als progressiv oder liberal bekannte Strömung erst im 19. Jahrhundert entstand – Reformen habe es im Judentum schon viel früher gegeben, betont der Rabbiner Walter Homolka: "Ich kann doch nicht sagen, dass das jüdische Gebet sich unverändert gehalten hat, über Jahrtausende, wenn ich deutlich sehen kann: Hier ist ein Anfang, und hier ist eine Neuentwicklung, und hier ist eine Hinzufügung, und da wurde etwas weggelassen. Das kann man zum Beispiel sehr schön sehen an einer Betrachtung des Pessachfestes. Wie das Pessachfest abläuft, das sieht man ja eigentlich im Buch Exodus in der hebräischen Bibel. Und dann guckt man ein paar Jahrhunderte später in die Mischna, im 3. Jahrhundert nach Christus, da wird dann auch das Pessachfest beschrieben. Und erstaunlicherweise finden Sie in der Mischna dann eine Beschreibung des Pessachfests, wo vom Opferlamm nicht mehr die Rede ist, die bestimmte Texte völlig ausmerzt."

Modernisierungen auch in der Orthodoxie

Kein Zweifel: Das liberale Judentum mit seinem Anspruch, Antworten auf aktuelle Fragen und Probleme zu geben, ist in Mode. Die Orthodoxie habe eine viel schlechtere Presse, meint Daniel Neumann, Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen: "Liberal suggeriert eben von vornherein fortschrittlich, modern, weltoffen, egalitär – das orthodoxe Judentum wird im Gegensatz dazu oft als rückwärtsgewandt, als verstockt, als realitätsfern betrachtet. Und das ist es aber gar nicht in jedem Fall. Das orthodoxe Judentum als fortschrittsfeindlich per se zu bezeichnen, oder ihm abzusprechen, dass es dort Entwicklungen und Modernisierungen gibt, ist eben auch Unsinn. Das orthodoxe Judentum bewegt sich durchaus, nur in aller Regel langsamer als die progressiven Richtungen."
Neumann, der auch Vorsitzender der Jüdischen Einheitsgemeinde in Darmstadt ist, hat eine ambivalente Haltung zum liberalen Judentum. Einerseits seien lebendige progressive Gemeinden wichtig - ebenso übrigens wie konservative Masorti-Gemeinden –, weil sie zur Vielfalt des Judentums beitrügen. Dieses dürfe auf keinen Fall monolithisch orthodox sein.

Leichtfertiger Umgang mit Vorschriften?

Auf der anderen Seite wählten viele die progressive Richtung, weil sie sich nicht die Mühe machen wollten, sich mit dem traditionellen Judentum auseinanderzusetzen, glaubt Daniel Neumann: "Es ist halt häufig so, dass die progressive Richtung es sich ein bisschen zu einfach macht bei der Frage 'Auf welche Füße stellen wir das Judentum heute?', ein bisschen zu bereitwillig Traditionen über Bord wirft, bestimmte Heiligkeitsvorschriften, die für das Judentum elementar sind, im Prinzip fallen lässt. Da stellt sich die Frage: Was macht mich denn eigentlich noch jüdisch?"
Allein durch seine Konzepte von Ethik und Moral könne sich das Judentum nicht abheben, meint Neumann. Die gebe es in anderen Religionen auch. Er spart allerdings auch nicht mit Kritik an der Orthodoxie: Als Reaktion auf das Erstarken der Progressiven halte sie besonders stark an den ursprünglichen Traditionen fest. Die Folgesei zum Teil ein religiöser Überbietungswettbewerb, bedauert der Darmstädter Gemeinde-Vorsitzende. Er dient wohl weder der Tradition noch der Reform.
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