Profiteur der Krise

Von Tilo Wagner · 24.09.2013
Über 17.000 Chinesen leben in Portugal, wo sie als diskrete Bürger gelten. Im Rahmen der strategischen Partnerschaft gehen allerdings Kapitalflüsse von China nach Portugal, die unter dem Stichwort "diskret" längst nicht mehr zu subsumieren sind.
Ein Laden mitten in der Lissabonner Altstadt. Mouraria heißt das Viertel, das früher für sein urportugiesisches Leben bekannt war: Enge Gassen, Fado, Fischverkäufer und Textilgeschäfte. Die Straßenzüge rund um den zentralen Platz Martim Moniz sind mittlerweile fest in den Händen einer neuen Generation von Händlern. Sie kommen aus Asien: Pakistan, Indien und vor allem China. Mittendrin steht der kleine Laden von Abel Mira, der hier seit 40 Jahren Bettwäsche verkauft:

"Unser Geschäft läuft schlecht. Nur für die Chinesen läuft es gut. Ihre Ware ist viel billiger. Wir verkaufen nur portugiesische Textilien und die sind teurer in der Herstellung. Vor 15 Jahren haben wir hier gut verdient. Dann kam die Invasion der Chinesen. Das ganze Viertel ist voll. Waren Sie schon einmal in einem der Einkaufszentren da unten? Gehen Sie mal rein, der Eintritt ist frei. Da ist alles voll von Chinesen."

Im Innern eines mehrstöckigen Gebäudes sind Dutzende von kleinen Läden untergebracht. Es sind Zwischenhändler, die ihre Waren aus China nicht als Einzelstücke verkaufen, sondern in der Mehrfachpackung an Kunden aus dem Einzelhandel. Viele der Produkte wurden früher auch von portugiesischen Fabriken und Manufakturen hergestellt, vor allem Schuhe und Textilien. Doch mit dem Eintritt Chinas in den Welthandel im Jahr 2001 gingen viele portugiesische Betriebe pleite.

Manuel de Sousa Lopes sitzt an diesem sonnigen Morgen nicht weit von dem Einkaufszentrum entfernt in einem altehrwürdigen Lissabonner Café und nippt an seiner Espresso-Tasse. Der höfliche Herr mit den weißen Haaren hat bis vor ein paar Jahren selbst ein Textilgeschäft in der Altstadt betrieben. Er habe nichts gegen Chinesen, sagt er, aber eines sei ihm wichtig:

"Ich wünsche mir, dass meine Stadt nicht ihren Charakter verliert. Wenn Besucher aus dem Ausland nach Lissabon kommen, dann sollen sie hier portugiesische Einzelhändler antreffen, portugiesische Restaurants und portugiesische Qualitätsprodukte: Den Schafskäse aus den Bergen oder den Wein, der aus dem Norden oder aus dem Süden stammt. Ich bin mir sicher, dass die meisten Touristen in Lissabon nicht die gleichen chinesischen Plastikwaren vorfinden wollen, die es in Madrid, in Budapest oder in Frankfurt gibt."

Manuel de Sousa Lopes wehrt sich gegen die Billigläden in der Lissabonner Altstadt. Doch der chinesische Einfluss lässt sich so leicht nicht aufhalten. Chinesische Geschäftsinteressen sind seit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise in Portugal so präsent wie noch nie. In großen Energiekonzernen wie dem ehemaligen Staatsbetrieb EDP und in lokalen Wasserversorgungsunternehmen. Oder in den Marmorbergen im Südosten Portugals.

Die Schuttberge über Vila Viçosa
Manuel Simões rast mit seinem Jeep über eine Schotterstraße in der Nähe der Kleinstadt Vila Viçosa, rund 30 Kilometer von der spanisch-portugiesischen Grenze entfernt. Überall im Auto setzt sich der feine Marmorstaub ab, sogar auf seiner verspiegelten Sonnenbrille. Das Handy klemmt er beim Schalten zwischen seine Schulter und den dunklen Sechstagebart. Der 37-jährige, stämmige Gesteinshändler hat ein paar Jahre rund 200 Kilometer westlich in einem klimatisierten Lissabonner Büro gesessen, bis er merkte, dass er lieber das Familiengeschäft in der rauen und doch auch schönen Welt der Steinbrüche hier draußen weiterführen wollte.

Manuel parkt den Wagen zwischen ein paar riesigen Marmorblöcken, läuft an den Rand eines Steinbruchs, der die Größe von drei Fußballfeldern hat und zeigt auf einen Berg aus Gesteinsresten, der über den weißen Marmorfelsen in den Himmel ragt.

"Die Schuttberge sind zeitgleich mit den Steinbrüchen entstanden. Als mein Großvater vor 50 Jahren hier anfing, da gab es schon die ersten Schuttberge. Wir wollten die Marmorreste für den Bau der Hochgeschwindigkeitszugtrasse benutzen, die von Lissabon nach Madrid geplant war und hier vorbeikommen sollte. Also für die Gleisbette, aber auch für den Bau der ganzen Zugänge und Bahnhöfe. Die Marmorreste hätten wir zu Kunststein gepresst und hätten somit endlich das Problem der Schuttberge in den Griff bekommen."

Daraus wurde nichts. Für Hochgeschwindigkeitszüge war bald kein Geld mehr in den portugiesischen Staatskassen. Im vergangenen Jahr kam das endgültige Aus. Die Schuttberge wuchsen weiter in den Himmel über Vila Viçosa. Bis die chinesischen Investoren vor ein paar Monaten davon Wind bekamen. Jetzt wollen sie im Alentejo, der gesteinsreichen Region südlich von Lissabon, eine Fabrik aufbauen, in der die Marmorreste zu Kunststeinen für den boomenden chinesischen Immobilienmarkt verarbeitet werden. Die Verhandlungen mit den chinesischen Geldgebern dauern an.

Manuel Simões: "Das ist schon eine komische Geschichte. Wie kommen die Chinesen hierher? Das ist ganz einfach: Über einen portugiesischen Unternehmer, der schon vorher seine Deals mit China gemacht hat. Er hat einen chinesischen Geschäftspartner gefunden, der das nötige Kapital hat, um hier zu investieren. Ich hoffe, dass das alles jetzt wirklich in die Gänge kommt. Es werden Arbeitsplätze geschaffen und wir haben endlich eine nachhaltige Lösung für die Schuttberge, die schließlich auch ein Umweltproblem sind. Ich sehe eigentlich nur Vorteile und keinerlei Nachteile. Heißt das, dass wir alle in der Region irgendwann einmal von den Chinesen ganz übernommen werden? Das weiß ich nicht, aber ich halte es zum jetzigen Zeitpunkt nicht für möglich."

Seit 2011 haben chinesische Staatsbetriebe rund 3,5 Milliarden Euro in Portugal investiert. Die Finanzkrise stößt für die Chinesen Türen auf, die lange Zeit versiegelt waren. EU-Länder wie Portugal verkaufen ihr Tafelsilber. Und chinesische Staatsbetriebe greifen dankbar zu. Doch umgekehrt funktioniert die Rechnung ebenso, wenn auch in viel bescheidenerem Umfang: Die boomende chinesische Wirtschaft ist für die Exportprodukte portugiesischer Unternehmen zum Rettungsanker in Zeiten der Krise geworden.

Spitzen-Rotwein geht vor allem nach China
90 Kilometer nordwestlich des Steinbruchs zieht João Ataíde in einem kleinen Verkaufsladen Weinflaschen aus dem Regal. "Monte Raposinha" heißt das zwölf Hektar große Weingut, wo der 30-jährige João und sein Vater jedes Jahr 120.000 Flaschen Wein produzieren:

"Der Rotwein hier aus dem Jahr 2011 hat in China bei einem Wettbewerb gerade eine Goldmedaille gewonnen. Den gibt es im freien Handel noch nicht zu kaufen. Wir werden diesen Wein im September oder Oktober in den Markt einführen. Wir setzen alles auf den Export. Der Binnenmarkt ist wegen der Krise noch umkämpfter geworden, deshalb wollen wir mit unserem Wein in die wichtigen ausländischen Märkte, vor allem aber nach China. Deshalb werden wir jetzt auf einer Messe in Hongkong ausstellen. China ist ein Markt mit einem enormen Potenzial."

Portugiesischen Betrieben ist der Einstieg in den chinesischen Markt lange Zeit sehr schwer gefallen, obwohl Portugal schon immer enge Verbindungen nach Asien hatte. Macau war bis 1999 portugiesische Kolonie und ist erst danach an China abgegeben worden. Im vergangenen Jahr hat Portugal Produkte im Wert von gerade einmal 780 Millionen Euro an China exportiert. Das deutsche Exportvolumen war 80 Mal größer. Doch ganz langsam rückt der chinesische Markt in das Bewusstsein von exportorientierten Wirtschaftszweigen in Portugal – und der Weinbau gehört auch dazu. João Ataíde sieht es mit einem lachenden und einem weinenden Auge:

"Mir wäre es lieber, wenn wir Produkte wie Wein, Kork oder Olivenöl nach China exportieren, ansonsten aber unsere Unabhängigkeit bewahren würden. Doch leider ist unsere Wirtschaft sehr geschwächt und das wird nun ausgenutzt."

Ricardo Luís steht in einem Windrad in der Nähe der Küstenstadt Peniche. 60 Meter über ihm summt die Turbine. Der ehemalige portugiesische Staatsbetrieb EDP ist zu einem der weltweit wichtigsten Wind- und Wasserkraftunternehmen aufgestiegen. Auch dank riesiger staatlicher Investitionen in Windparks, die entlang der portugiesischen Westküste Strom erzeugen. Im Dezember 2011 verkaufte der hoch verschuldete portugiesische Staat für 2,7 Milliarden Euro 21,35 Prozent des Mutterkonzerns EDP an den chinesischen Energieriesen "China Three Gorges". Und ein Jahr später investierte das chinesische Staatsunternehmen weitere 359 Millionen Euro, um 49 Prozent des EDP-Tochterbetriebs für erneuerbare Energien zu übernehmen. Ricardo Luís hat vor den chinesischen Investoren keine Angst:

"Es geht hier um Investment. Eine Geldanlage in ein Unternehmen, das Profit einfährt. Mein Arbeitgeber EDP ist der weltweit drittgrößte Produzent von Windenergie. Und das ist für die Chinesen auch eine Tür nach Europa, in die Windenergiewirtschaft, aber auch in die Produktion von Turbinen. Diese Turbinen hier halten nicht ein Leben lang, sondern nur 20 bis 25 Jahre. Das heißt, in spätestens 17 Jahren müssen die Turbinen in diesem Windpark ausgewechselt werden. Und die Produktion könnten dann die Chinesen übernehmen und sich so in einem neuen Markt etablieren."

Sichere Jobs dank Chinas Investments
Zu Beginn seines Berufslebens hat Ricardo Luís ein halbes Jahr lang auf einem Öltanker anheuern müssen. Weit weg von seiner Frau und seinen kleinen Kindern. Nie wieder, sagt er. Nach China würde der 35-jährige Ingenieur vielleicht gehen – aber nur für ein paar Wochen. In einer Zeit, in der Zehntausende hochqualifizierte Portugiesen ihr Land und ihre Familie verlassen müssen, um im Ausland nach einem Job zu suchen, ist Ricardo Luís froh, dass er in seiner Heimat einen der wenigen sicheren Arbeitsplätze gefunden hat. Auch dank der Geldspritze aus China:

"Stabilität ist mir sehr wichtig. Viele andere aus meiner Generation erleben die Situation, dass sie morgens nicht mehr wissen, ob sie abends noch einen Arbeitsplatz haben. In meinem Job ist das anders. Wer qualifiziert, verantwortungsbewusst und motiviert ist, der hat sein Leben lang Arbeit. Ich habe einen Job für die Zukunft. Das wird hier nicht mehr aufhören. Der Wind hört niemals auf."

Chinesische Unternehmen übernehmen in Portugal jedoch nicht nur Energieriesen. Sie interessieren sich auch für kleinere lukrative Investments, die ähnlich krisensicher sind wie das Geschäft mit dem Wind.

Orlando Figueiredo geht an einem Bach spazieren, rund 60 Kilometer nordwestlich von Lissabon. Der Wasserlauf ist die Grenze zwischen zwei Regierungsbezirken:

"Wir stehen hier auf der Brücke, die die beiden Bezirke verbindet. Das Wasser unter uns im Bach ist frei, es hat keinen Besitzer, es ist nicht chinesisch und auch nicht portugiesisch. Hier auf dieser Seite beginnt der Bezirk Mafra. Der gesamte Wasserbetrieb wurde an ein chinesisches Unternehmen verkauft, das jetzt für die Wasserversorgung zuständig ist. Und hier auf der anderen Seite liegt ein anderer Bezirk. Das Wasser dort wird von einem öffentlichen portugiesischen Betrieb verwaltet."

Zusammen mit ein paar Freunden hat Orlando Figueiredo vor eineinhalb Jahren den einzigen sichtbaren Protest organisiert, um den Verkauf von portugiesischen Staatsbetrieben an Konzerne zu verhindern, die in China wegen umweltschädigender Großprojekte und Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehen. Er fürchtet, dass Europa in der Krise weit mehr verkauft als bloß ein paar Aktienanteile:

"Wollen wir unser Leben wirklich so weiter führen? Wir lassen zu, dass diese Firmen in unsere Märkte kommen und ein Monopol erlangen über lebenswichtige Güter wie Wasser und Elektrizität. Das heißt, wir müssen uns den Regeln dieser Unternehmen unterwerfen. Sind wir dafür bereit? Sollen wir in Europa unser Leben den Werten dieser chinesischen Unternehmen anpassen und deren eigenwillige Vorstellung von Menschenrechten und individueller Freiheit übernehmen. Oder ist es nicht viel wichtiger, dass die chinesische Bevölkerung sich an unserem Lebensstandard in Europa orientiert und ein würdiges Leben führt, für das wir in Europa so hart und lange gekämpft haben?"
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