Professor als Geliebter

Rezensiert von Joachim Scholl · 11.11.2005
Eine Studentin wird ermordet. Ihr Professor, der mit ihr eine verhängnisvolle Affäre hatte, entdeckt in ihrem Nachlass Forschungsunterlagen, die eine spannende Biografie offen legen. Paul Anderson verknüpft in "Hungersbräute" auf kunstvolle Weise drei Biografien und Perspektiven miteinander.
Als der noch völlig unbekannte kanadische Autor Paul Anderson eine erste Fassung seines Romans im Umfang von 1000 Seiten bei einem Verlag einreichte, bekam er eine erstaunliche Antwort: "Das reicht noch nicht! Machen Sie das Buch länger!" Vielleicht lag es daran, dass der Verleger eine Frau war, denn zwei starke Frauen stehen im Zentrum des Romans.

Die erste heißt Juana Inez de la Cruz. Sie ist eine reale, in ihrem Heimatland Mexiko hochberühmte Gestalt der Vergangenheit. Geboren 1651, gilt sie als bedeutendste Dichterin des spanischen Barock, ein Wunderkind, das sich mit drei Jahren selbst das Lesen beibrachte, achtjährig die ersten Verse schrieb. Nach einem Intermezzo als Hofdame der Vizekönigin trat sie in ein Kloster ein, um ganz ihrem Hunger nach Bildung und Literatur zu frönen.

Ihre Intelligenz, ihre Dichtkunst, ihr poetischer Wagemut und ihre legendäre Schönheit machten sie den kirchlichen Autoritäten verdächtig, und so war sie mehr als zwanzig Jahre lang den Bedrohungen der Inquisition ausgesetzt, ein früher, durchaus auch feministischer Kampf um Recht, Aufklärung und Freiheit.

Sie wurde zu einer Berühmtheit, nicht nur in höheren Kreisen, sondern auch vom Volk geliebt und verehrt, aber mit nur 44 Jahren starb Juana de la Cruz 1695 an der Pest. Paul Anderson lässt dieses Leben von Juana Inez de la Cruz von einer weiteren, erfundenen Frau erzählen – von der kanadischen Studentin Beulah Limosneros, die während ihres Studiums auf Juana stößt, ein Buch über sie plant und schreibt und dabei auf fatale Weise der Faszination von deren Vita und Dichtung verfällt.

An dieser Stelle kommt ein Mann ins Spiel, er ist der Dritte in diesem Bund, der Literaturprofessor Donald Gregory, der sich in eine verhängnisvolle Affäre mit der psychisch hochgefährdeten Beulah verstrickt. Sie wird sich etwas antun, der Professor gerät selbst unter Verdacht, er verliert seinen Job, taumelt in eine Ehekrise - und wie um sich zu retten, gibt er das Manuskript seiner Studentin plus ihrer beider Liebesgeschichte heraus.

So ergeben sich drei Schichten, drei Perspektiven, die Paul Anderson auf sehr komplexe und kunstvolle Weise miteinander verknüpft und die es ihm auch ermöglichen, verschiedenste Textebenen und –arten zu integrieren: die Rahmenerzählung lässt sich kombinieren mit dem fiktiven, inneren Monolog von Juana, mit Briefen, mit Tagebuch-Eintragungen, offiziellen Dokumenten aus der Zeit des Barock bis hin zu dramatischen Bearbeitungen, und nicht zu vergessen – die originale Lyrik der Dichterin, die auf diese Weise und für die meisten deutschen Leser wohl erstmals zugänglich wird.

Bislang unbekannt war uns ebenfalls Paul Anderson. "Hungersbräute" ist sein erster Roman, zuvor hat er Kurzgeschichten veröffentlicht, aber nur im englischsprachigen Raum. Mit Anfang zwanzig hat Paul Anderson Kanada verlassen, ist um die Welt gesegelt, er hat in Asien gelebt, in Europa studiert, als Lehrer in Lateinamerika gearbeitet.

Zwölf Jahre lang hat der Autor an seinem Erstling gearbeitet, die Resonanz in Kanada und den USA war euphorisch, der Roman ist bereits in mehreren Auflagen verbreitet. Wer nur vor dem puren Gewicht von 4,5 Pfund anspruchsvoller Literatur zurückschreckt, der kann sich auf Paul Andersons Website über verschiedene "gesunde Lesestellungen" informieren, die eventuellen Haltungsschäden vorbeugen.


Paul Anderson: Hungersbräute
Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Matthias Müller, Michael Windgassen und Maja Ueberle-Pfaff.
Gedichtübertragungen aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Pendo Verlag München und Zürich,
1424 Seiten. € 24,90.