Privattragödie ohne gesellschaftspolitischen Gehalt

Von Uwe Friedrich · 29.10.2011
In einem Labyrinth der Liebe hält die Zauberin Alcina jene Männer gefangen, die ihr ins Netz gegangen sind. Willenlos springen und scharwenzeln sie um die herrisch auftretende Frau im Flatterkleid herum. Von ihren sexuellen Begierden getrieben, haben sie die Umwelt, die Gesellschaft und ihre Verpflichtungen längst vergessen. Auch Ruggiero ist dem Zauber der Libertinage verfallen, hat seine Geliebte Bradamante verlassen und vergessen, gibt sich ganz dem Augenblick hin. Aber Bradamante kommt, um den Geliebten zurückzuholen in die bürgerliche Existenz mit Frau und Kindern.
Den Regisseur Jan Philipp Gloger interessiert die traurige Geschichte der scheiternden Zauberin Alcina deutlich weniger als die des Mannes Ruggiero zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Konzepten von Liebe und Lebensgestaltung. So verschiebt er die Gewichte in der Oper zugunsten Ruggieros und stellt ihn als eine Art barocken Vorläufer von Richard Wagners Tannhäuser auf die Bühne. Folgerichtig gönnt er ihm auch das in der Barockoper unverzichtbare Lieto Fine nicht, sondern treibt Ruggiero in den Selbstmord, weil er sich nicht zwischen den beiden Frauen entscheiden kann oder will.

Damit verkleinert er den Sieg der Tugendwächter um Bradamante über das sinnliche der Zauberin zur Privattragödie eines entscheidungsschwachen Mannes und nimmt der Oper den gesellschaftspolitischen Gehalt. Bühnenbildner Ben Baur hat ihm dafür einen klassizistischen Salon auf die Bühne gestellt, dessen Wände hin und her gleiten und immer wieder unterschiedlich bespielte Salons an den Seiten sichtbar werden lässt. Das ist sehr dekorativ und hätte funktionieren können, wenn nicht die musikalische Eben vor allem quälende Langeweile beigetragen hätte.

Obwohl im Programmheft von "historisch informierter Spielweise" die Rede ist, dirigiert Rainer Mühlbach die dadurch unterforderte Dresdner Staatskapelle als wäre es ein Stück von Brahms. Folgerichtig klingt Amanda Majewskis Version von Alcinas Trauerarie wie "Ihr habe nun Traurigkeit" aus dem "Deutschen Requiem" in einer vollkommen konturlosen Aufführung. Regelmäßig verschleppt Mühlbach das Tempo, gönnt den rhythmischen und harmonischen Strukturen kein Rückgrat, lässt die Phrasen verläppern, entwickelt weder musikalische Farbe noch emotionalen Charakter dieser genialen Musik. Von der barocken Affektlehre bleibt so wenig übrig, der verzierte Gesang wird regelmäßig in Richtung Virtuosenstück des 19. Jahrhunderts getrimmt, allerdings bei deutlich gedrosselter Geschwindigkeit. Das ist stilistisch unangemessen und vor allem ermüdend.

Weil Intendantin Ulrike Hessler und Operndirektor Eytan Pessen den Ehrgeiz hatten, auch die Barockoper aus ihrem Ensemble zu besetzen, kämpft sich die exzellente Wagnersängerin Christa Mayer tapfer durch die Koloraturen der Bradamante, strengen sich auch die anderen Mitstreiter mächtig an. Unter diesen Umständen ist die Ankunft der Hornisten im Graben ein willkommenes Signal ans Publikum, denn die werden bei Händel nur zur flotten Jagdarie und für den Schlusschor benötigt. Wegen der dramaturgisch notwendigen musikalischen Umstellungen, dauert es aber nach dem Chor noch gefühlte Stunden, bis das Licht langsam ausgeht. Dazu sitzt Alcina ermattet auf der Hinterbühne und denkt darüber nach, was sie wohl falsch gemacht hat.

Alcina
Oper von Georg Friedrich Händel
Regie: Jan Philipp Gloger
Musikalische Leitung: Rainer Mühlbach
Sächsische Staatsoper Dresden