Prinzip der individuellen Freiheit

22.10.2012
Englische und barocke Gärten, das ist in der Geschichte der Gartenbaukunst bisher immer ein gewichtiger Unterschied gewesen. Doch der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp sieht mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, die wichtigste ist das Prinzip der individuellen Freiheit.
Im 18. Jahrhundert vollzieht sich in der Gartenkunst ein Wandel: Allmählich wird der englische Landschaftsgarten dem Barockgarten vorgezogen. In dieser ästhetischen Neuorientierung zeigt sich eine veränderte Geisteshaltung. Das Lustwandeln auf verschlungenen Wegen im Garten englischen Stils gilt als Ausdruck wiedergefundener Freiheit. Man entdeckt die Natur neu, der man sich zuwendet, ohne sie sich unterwerfen zu wollen.

Als Beherrscher der Natur, die er mit der Heckenschere und dem Winkelmaß nach seinem Bilde formt, feiert sich der Mensch hingegen im barocken Garten. Dass diese bis heute gültige Unterscheidung der beiden Gartenkonzepte korrekturbedürftig ist, legt die neue Studie des in Berlin lehrenden Kunsthistorikers Horst Bredekamp nahe.

Bredekamp, der sich gern von Details, kleinen Formen und auf den ersten Blick unspektakulären Nebensächlichkeiten inspirieren lässt – in seinem Buch "Die Fenster der Monade" (2004) gelingt es ihm, den Kosmos des Leibnizschen Denkens aus einer Bundschuhfalte zu erklären –, sieht in Leibniz einen bisher zu Unrecht übersehenen Gartentheoretiker. Zentral für seine These ist eine Anekdote, die Johann David Schubert auf einem Kupferstich festgehalten hat.

Bei einer Unterhaltung im Garten von Herrenhausen sind auf dem Stich Leibniz, Carl August von Alvesleben und die Kurfürstin Sophie zu sehen. Leibniz traf sich häufig mit der Kurfürstin in ihrem Herrenhauser Garten, der für Leibniz zu einem Ort der "Reflexion und der Betätigung" wurde. Bei einem der gemeinsamen Spaziergänge überrascht die Fürstin ihre Begleiter mit der These, dass es nicht zwei vollkommen gleiche Blätter geben würde. Ein Edelmann, der den Gegenbeweis antreten wollte, suchte lange im Herrenhauser Garten nach entsprechenden Blättern, ohne jedoch erfolgreich zu sein. Der Moment, als Leibniz seine zentrale These von der "durchgehenden Unterscheidbarkeit aller Dinge" ausführt, ist auf dem Stich festgehalten. Der Garten erweist sich für Leibniz als ein Modellfall der "unendlichen Einschachtelung". In der Natur existiert keine völlige Übereinstimmung, sondern eine unendliche Vielfalt von stets neuen und in sich verschiedenen Formen.

Leibniz – so Bredekamp – ist im barocken Garten von Herrenhausen auf das Prinzip der individuellen Freiheit gestoßen, das man bisher mit dem englischen Landschaftsgarten in Verbindung gebracht hat. Das Moment der unbegrenzten natürlichen Freiheit, das jedem Besucher eines englischen Gartens in der äußeren Form in seiner ganzen Wirkmächtigkeit sofort vor Augen steht, findet sich, so Bredekamp, auch im Garten von Herrenhausen. Allerdings in einer nach "innen gewendeten Unendlichkeit". Der barocke Garten spiegelt die Unendlichkeit im Detail. Anschaulich wird sie bei näherer Betrachtung einer jeden Hecke, in der sich kein Blatt findet, das einem anderen gleicht.

Eine überzeugende, sehr lesenswerte und reich bebilderte Studie, dieses exzellenten Wissenschaftlers, die man gern zur Hand nimmt. Auf höchstem Niveau führt einen Bredekamp gänzlich unangestrengt in eine Wissenschaftslandschaft ein, wobei er sich stets die interessierten Leser und nicht nur an die Kollegen vom Fach wendet.

Besprochen von Michael Opitz

Horst Bredekamp, Leibniz und die Revolution der Gartenkunst.
Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012
165 Seiten, 29,90 Euro