Prima Klima

Weltrettung im Straßentest

04:21 Minuten
Demonstration der weltweiten "FridaysForFuture"-Bewegung: Schülerinnen halten ihre mit dem Satz "Our Future" und "In Your Hands" beschrifteten Handfläche in die Lust, aufgenommen am 15. März 2019 in Berlin
Publizist Reinhard Mohr sieht uns gefangen zwischen Weltrettung und Weltreise, Friday for Future und Montag nach Mallorca. © imago images / IPON
Ein Kommentar von Reinhard Mohr · 01.04.2019
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Die Welt verändern. Das wollten die 68er. Das wollen die für Klimaschutz demonstrierenden Schüler. Das wollen die links-orientierten Bürger im Prenzlauer Berg. Nur wie? Autor Reinhard Mohr blickt in den tiefen Graben zwischen Theorie und Wirklichkeit.
Die Älteren unter uns werden sich noch an das ominöse Theorie-Praxis-Problem erinnern, das vor allem im Gefolge der 68er-Revolte mit größter Leidenschaft diskutiert wurde, ob an der Uni, in der Wohngemeinschaft oder den unzähligen Gruppen und Grüppchen, die die Welt verändern wollten.
Das drängendste Problem war stets jene vertrackte Dialektik: Keine zukunftsweisende Theorie ohne dazugehörige Praxis, aber auch keine revolutionäre Praxis ohne erkenntnisleitende Theorie.

Alte Weisheit: Global denken, lokal handeln

Kopf und Bauch, Argument und Aktion, Wissen und Handeln sollten stets zusammenkommen. Es war ein bisschen wie bei Henne und Ei: Alles musste ineinandergreifen, aber schon die Frage "Wie genau?" führte zu schweren Verwerfungen. So vertieften sich die einen in dicke Bücher, während die anderen Bomben warfen.
Global denken, lokal handeln – auch dies war eine beliebte Weisheit der eher roten als grünen siebziger Jahre, und sie war ja nicht ganz falsch. Werfen wir also einen Blick auf die aktuelle Praxis, genauer: den Alltag meiner Wohnstraße im Prenzlauer Berg rund um den Kollwitzplatz. Dort, wo das linksgrün-orientierte fortschrittliche Bürgertum in Berlin zu Hause ist und Linkspartei, Grüne und SPD bei der letzten Bundestagswahl eine knappe Zweidrittelmehrheit erreichten.

Links-grün wählen, aber auf wenig verzichten wollen

Jeden Donnerstag ist Ökomarkt der "Grünen Liga", um die Ecke bieten die "Wohlfühler" Physiotherapie zum Entspannen an, und die Kinder auf dem Spielplatz tragen bunte Schutzhelme. Dass sie überwiegend aus Plastik sind, ist kaum zu vermeiden, es sei denn, betuchte Eltern kaufen ihren Kids ein Exemplar aus "veganem Leder", das von Eukalyptus- oder Blattfasern der Ananas stammen soll.
Öffentlich fordert der linke Bezirksbürgermeister von Pankow einen "weitgehenden Verzicht auf Flugzeug, Auto und Fleisch".
"Weitgehend" ist das Stichwort. Meine Straße ist tatsächlich weitgehend vollgestopft mit Autos wie alle anderen in Berlin, München oder Frankfurt – trotz akribischer "Parkraumbewirtschaftung". Mehr noch: Die Anzahl der Porsches und SUVs, oft von eiligen Müttern gesteuert, hat in letzter Zeit hör- wie sichtbar zugenommen. Ebenso die PS-starken Motorräder, die gerne gestartet werden, bevor sich der Fahrer in aller Ruhe Jacke, Helm und Handschuhe zurechtzupft.

Paketbestellungen und Pendler zuhauf

Direkt gegenüber arbeitet ein Zeitgenosse, der den Motor seines Riesengeschosses, mit dem man gewiss auch durch den brasilianischen Urwald fräsen könnte, voll Besitzerstolz minutenlang wummern lässt, bevor es auf Stadtsafari geht.
Wenn Müllabfuhr, Kehrfahrzeuge und Laubbläser allmorgendlich ihre ohrenbetäubende und feinstaubintensive Arbeit verrichtet haben, rücken die motorisierten Amazon-, Hermes-, UPS- und DPD-Kolonnen an. Im Paketshop in der Parallelstraße werden tags darauf die unzähligen Retouren wieder abgeholt. Dazwischen halten Taxis, die die wöchentlich pendelnden Nachbarn – Berlin-Frankfurt, Berlin-München, Berlin-Köln – vom Flughafen Tegel nach Hause bringen. Endlich Wochenende!

Die Wahrheit liegt auf der Straße

Und so geht es am Samstagvormittag ganz entspannt zum großen Markt am Kollwitzplatz, wo es Bio-Möhren und Eier aus brandenburgischer Freilandhaltung gibt. Doch nirgends bildet sich eine längere Schlange als vor dem Thüringer Wurst- und Fleischstand.
Soweit die Praxis. Und die Theorie? Die liegt offenkundig im Dauerclinch mit jener ganz realen bunten Gesellschaft, die voller Widersprüche und Konflikte steckt. Da ist sie wieder: Die vertrackte Dialektik – nun zwischen Weltrettung und Weltreise, Friday for Future und Montag nach Mallorca.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist Journalist und Autor. Er schrieb für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: 2013: "Bin ich jetzt reaktionär?, Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".

© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
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