"Prestige ist stark an akademische Titel gebunden"

Rüdiger vom Bruch im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.11.2012
Debatten über zu geringe Anforderungen an die Doktoranden habe es schon um 1900 gegeben, sagt der Historiker Rüdiger vom Bruch. Trotzdem müsse jeder, der als Akademiker etwas gelten will, promovieren - heute wie zu Goethes Zeiten.
Joachim Scholl: Das Ansehen des Doktortitels ist in Deutschland ziemlich geschwunden in letzter Zeit. Was Wunder, bei den permanenten Plagiatsdebatten! Es herrscht der Eindruck, eine Promotion sei nicht mehr als eine flott hin- oder sogar teils abgeschriebene Arbeit, nur für die Karriere dienlich, von hehrer Wissenschaft keine Spur! Aber sind heutige Doktorarbeiten wirklich so viel schlechter als früher? Bei uns im Studio ist jetzt Rüdiger vom Bruch, Wissenschaftshistoriker und emeritierter Professor an der Berliner Humboldt-Universität, zugleich im Vorstand der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Willkommen, Herr vom Bruch!

Rüdiger vom Bruch: Danke!

Scholl: Derzeit stehen Ruf und Doktortitel von Bildungsministerin Annette Schavan auf dem Spiel und in der akademischen Prüfung. Herr vom Bruch, man kann jetzt wieder ganz viel lesen aus dieser Arbeit von 1980. Ist diese Promotion, diese geisteswissenschaftliche Promotion mit heutigen Doktorarbeiten überhaupt zu vergleichen?

vom Bruch: Ja, zunächst mal müssen wir uns klar machen, dass die Doktorarbeit und die Promotion die älteste Prüfung überhaupt im Universitätswesen ist, also, mittlerweile etwa 900 Jahre. Also, 20, 30 Jahre, von denen wir sprechen, sind da natürlich eine winzige Zeitspanne. Wir kommen vielleicht noch kurz darauf zu sprechen, weil sich das Prüfungswesen insgesamt ja verändert hat, nur: Der Doktortitel ist auch in seiner Begehrlichkeit geblieben, denken Sie Goethes "Faust", im Eingangsmonolog, "Heiße Magister, heiße Doktor gar" … - also, insofern ist der Doktor nach wie vor offenbar doch ein hoher Standard, den man sich möglichst versucht zu erringen, wenn man als angesehener Akademiker gelten will.

Nun die Frage: Hat sich in den letzten 30 Jahren etwas verändert? Allerdings, sehr grundlegend! Sie müssen davon ausgehen – wir kommen vielleicht noch kurz darauf –, wir haben im Grunde vier verschiedene Typen von Hochschulprüfungen: Wir haben die hochschuleigene Prüfung, Magister und Promotion, wir haben die Staatsprüfung, Staatsexamina, wir haben die Verbandsprüfungen, Diplom, und wir haben die – ich möchte es mal nennen – Agenturprüfungen, also Bachelor und Master. Und da ist am konstantesten die Promotion, auch am höchstbewertesten. Wobei in den 60er-Jahren es ohne Weiteres möglich war, nur mit der Promotion ein Studium erfolgreich abzuschließen.

Scholl: Das ist zum Beispiel auch Frau Schavan so gelungen, 1980, …

vom Bruch: Genau.

Scholl: … eine grundständige Promotion. Das heißt also, aus dem Studium heraus praktisch, ohne vorherigen Magister oder Diplomabschluss. Ist das eigentlich noch üblich?

vom Bruch: Nein. Das war damals schon ganz unüblich. Der Magister als erster qualifizierender Hochschulabschluss hat sich in den späten 60er-Jahren allmählich durchgesetzt gegen viele Widerstände auch in der Wirtschaft, vor dem Hintergrund, dass ursprünglich die eigentlich berufsberechtigenden Prüfungen – das waren im Wesentlichen Staatsexamina –, dass die an Bedeutung verloren haben, weil durch die Differenzierung der Wirtschaft und Berufsfelder also immer weniger in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden konnten.

Außerdem kam hinzu, dass eine Promotion, also eine Dissertation als Vorschussleistung immer ein Risiko ist. Man sagte, die Absolventen müssen ihre wissenschaftliche Befähigung nachweisen, ohne unbedingt etwas Neues erforschen zu müssen. Deswegen Magister als allgemeiner Abschluss oder Staatsexamen, und dann, wenn möglich, die Promotion zusätzlich. Also, 1980 war für Promotion als alleinigen Studienabschluss schon relativ spät und auch nur in relativ wenigen Fächern möglich. Die Erziehungswissenschaften gehörten dazu, wobei wir, wir kommen vielleicht noch kurz darauf, die ja im Grunde zwei verschiedene Komponenten, als sozialwissenschaftlich-empirisch und geisteswissenschaftlich-hermeneutisch … Die Arbeit, von der Sie sprachen, ist eindeutig geisteswissenschaftlich-hermeneutisch, also vor allem auf Literaturbasis gegründet.

Scholl: In anderen Ländern hat ja der Magister einen weitaus größeren Stellenwert, also, Briten und Amerikaner schreiben ihren M.A., ihren Master of Arts hinter ihren Namen. Warum ist in Deutschland eigentlich der Abstand zum Doktor so groß? Sie haben jetzt schon ein wenig das erläutert, dass sozusagen der Doktor die eigenständige Forschungsleistung ist, aber warum zählt der trotzdem so viel mehr als ein Magister oder ein Staatsexamen?

vom Bruch: Na ja, also … Wir haben im Deutschen nicht mehr das System, das im angelsächsischen Bereich heute noch üblich ist und das im Grunde an die Anfänge des Universitätswesens in Europa erinnert, nämlich eine allgemeine Grundlagenbildung, was früher in der Artistenfakultät geschehen ist und die erst sehr viel später als selbstständige, gleichberechtigte philosophische Fakultät im Grunde erst im 18. Jahrhundert sich entwickelt hat, während im angelsächsischen Bereich ein grundständiges Studium blieb. Das konnte geisteswissenschaftlich sein, auch wenn man dann Naturwissenschaftler werden wollte, jedenfalls erst der B.A., also vom früheren Bakkalaureat abgeleitet, der Bachelor, dann der Master. Das hat sich dort erhalten, während bei uns relativ zügig eine berufsbildende Ausbildung als Jurist, als Theologe, als Mediziner erfolgte, die nicht mehr gebunden war an eine propädeutische Artistenausbildung.

Scholl: Doktorarbeiten heute, Doktorarbeiten früher. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch. Ein verstorbener Onkel von mir, Herr vom Bruch, war Arzt. Seine Doktorarbeit trug den Titel "Über Herzfrequenzen beim laufenden Schwein". Die Arbeit umfasste 23 Seiten. Alle geisteswissenschaftlichen Doktoranden, die ich später kennenlernte, schufteten drei bis vier Jahre an ihren Arbeiten, legten Monografien von 300 bis 400 Seiten vor. Diese Diskrepanz zwischen den Fächern, ist das auch eine Diskrepanz im Anspruch?

vom Bruch: In gewisser Weise ja. Der reine Seitenumfang muss nichts sagen, ich kenne mathematische Dissertationen, die 14 Seiten umfassen, also noch kürzer sind, obwohl sie über ein sehr hohes Niveau verfügen. Aber worauf Sie abzielen, ist, dass in einem Fach wie der Medizin, wo das Doktorexamen sozusagen identisch ist mit der Berufsbezeichnung "Herr Doktor" … Man muss nicht den Doktor haben, das Staatsexamen als Approbation genügt vollkommen, um den Beruf auszuüben, aber man erwartet es. Und entsprechend inflationär sind die Anforderungen an die Doktorprüfungen.

Übrigens ein Thema, das sich durch die Geschichte hinzieht: Um 1900 etwa gab es erstmals so eine Art Kultusministerkonferenz in Deutschland. Der Grund war der Verfall des medizinischen Doktorexamens, der immer weniger attraktiv für ausländische Studierende wurde. Wie kriegt man die Amerikaner, die Japaner und so weiter nach Deutschland, wenn der Doktorgrad sozusagen nicht mehr die Bedeutung hat? Und das Problem war auch eben wieder die Medizin!

Scholl: Weil Sie gerade die Geschichte ansprechen, Herr vom Bruch: 1876 gab es eine, ja, doch wütende Philippika des Historikers Theodor Mommsen, der Zustände im deutschen Promotionswesen anprangerte, die zum Himmel schreien würden. 1876, wohlgemerkt! War also früher doch nicht alles besser?

vom Bruch: Na ja, wir müssen natürlich uns klar machen: Als Mommsen das schrieb, der ja selber ein begnadeter Historiker, Forscher und Erzähler war, war die deutsche Forschungsuniversität, wie wir sie nennen, auf einem ersten Höhepunkt angekommen. Also, die Vorstellung, dass die Universität nicht in erster Linie Wissen weiterzugeben, sondern neues Wissen zu erzeugen habe in Verbindung mit den Studierenden, das ist das Besondere sozusagen seit Humboldts Zeiten in Deutschland gewesen.

Und im Gegensatz dazu haben sich alte Missstände aufrechterhalten, wogegen Mommsen wetterte, vor allem die sogenannte Promotion in absentia. Also, man konnte, brauchte gar nicht anwesend zu sein und konnte sich von außen bewerben, konnte sogar jemand stellvertretend die Prüfung durchführen lassen. Und das ist natürlich eine uralte Tradition: Wenn Sie etwa fragen, warum gab es im Mittelalter, in der frühen Neuzeit vergleichsweise wenige Doktoren? Nicht, weil der Doktor so schwierig war, sondern so teuer! Der kostete wahnsinnig viel Geld, das konnten sich die wenigsten leisten.

Scholl: Nun haben wir diesen Vorwurf in aktuellen Debatten, dass Doktorarbeiten respektive Titel nur, ja, Karriere fördernde Vehikel seien, werden mit möglichst wenig Aufwand geschrieben. Ist da aus Ihrer Sicht, Ihrer Erfahrung nach etwas dran?

vom Bruch: Ja, schwer, das so allgemein zu sagen. Auch wenn ich jetzt als Historiker zurückblicke: Wir haben Jahrhunderte, in denen Doktorarbeiten, wie wir wissen, von den betreuenden Professoren selbst geschrieben worden sind, die dadurch von den Studenten Geld bekamen. Also, das ist sozusagen ein Problem, das sich durch die Geschichte hindurchzieht. Aber in unserer nivellierenden Zeit, die gerade wieder Segregationsmerkmale, die Abhebung braucht, die neue Elitemaßstäbe produzieren muss, ist Prestige etwas, was sozusagen unmittelbar gehaltsfördernd ist und ist in sehr starkem Maße gerade an akademische Titel gebunden.

Scholl: Mal ketzerisch gefragt: Braucht es eigentlich wirklich für die Wissenschaft – also, wohlgemerkt: für die Wissenschaft, nicht nur fürs Renommee und für den Status –, braucht es überhaupt noch Promotionen?

vom Bruch: Als Forschungsleistung ganz sicherlich. Wenn Sie bedenken: Es gibt sehr viele bekannte, bedeutende Professoren, deren Bedeutung nach wie vor mit der Doktorarbeit verbunden ist. Die Doktorarbeit ist sehr häufig in der Karriere auch eines sehr produktiven Wissenschaftlers der entscheidende Durchbruch. Also, insofern würde ich schon sagen, auch wenn, was hinter Ihrer Frage steckt, auch was wir eingangs kurz angesprochen haben etwa, ein Großteil meiner heutigen Magisterstudenten qualitativ bedeutendere Leistung vorlegt als sehr viele Doktorarbeiten, sagen wir, aus den späten 50er- und frühen 60er-Jahren, die oft nur sehr schmale Heftchen gewesen sind.

Scholl: Ist das Niveau heute höher, hat die Universität jetzt durch diese Debatten eigentlich einen Ruf verloren, den sie nur schwer wieder erringt?

vom Bruch: Wir schauen natürlich vor allem auf die Ausreißer, also auf diejenigen, die in der Regel extern promovieren. Praktisch alle Debatten, die wir in den letzten beiden Jahren geführt haben um Fälschungen, Täuschungen und so weiter, sind fast immer Doktoranden, die entweder schon berufstätig sind oder aus anderen Gründen außerhalb. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir seit etwa fünf, sechs Jahren flächendeckend ein sehr intensives System von Graduiertenschulen, Doktorandenkollegien und so weiter haben, also strukturierte Promotionsstudiengänge, die es so vorher nicht gab und die insgesamt dazu beitragen, das finanzielle Risiko zu mindern, die Einsamkeit des Doktoranden abzuschwächen und ihn sozusagen in Diskussionsprozesse einzubinden.

Scholl: Ein Blick in die Geschichte deutscher Doktorarbeiten und das Niveau des Wissenschaftsstandorts Deutschland haben wir mit Rüdiger vom Bruch diskutiert. Er ist Wissenschaftshistoriker, emeritierter Professor an der Humboldt-Universität Berlin. Ich danke für Ihren Besuch, Herr vom Bruch, und für das Gespräch!


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