"Premium Mediocre"

Die Suggestion eines Lifestyles

Ein Pärchen beim Selfie auf der Kölner Hohenzollernbrücke
Für wen leben wir eigentlich – und spielen wir im Netz nur Theater? © Deutschlandfunk / Andreas Diel
Venkatesh Rao im Gespräch mit Martin Böttcher  · 03.02.2018
Das Essen ist schick genug für Instagram – aber es schmeckt einfach nicht: Diese Art der alltäglichen Inszenierung des Mittelmäßigem nennt der Blogger Venkatesh Rao "Premium Mediocre". Er bezeichnet das als eine neue Art von Konsum – befeuert auch durch das Internet.
Martin Böttcher: Wie sind Sie auf den Begriff "Premium Mediocre" gekommen?
Venkatesh Rao: Meine Frau und ich waren in einem Diner namens Veggie Grill essen, das gehört zu diesem neuen Typ Restaurant, das auch als "Fast Casual" bezeichnet wird – es liegt also irgendwo zwischen Burger-Kette und "Fine Dining" und ich war überrascht, dass das Essen so viel besser aussah als es schmeckte – da kam mir das in den Sinn, dass das so eine neue Art von Konsum darstellt.
Böttcher: Was ist denn typisch "Premium Mediocre"? Gibt es etwas, das dieses Konzept perfekt anschaulich macht?
Rao: Das beste Beispiel ist in der Tat etwas, das auf Instagram besser aussieht, als es im wirklichen Leben ist. Wie das eben erwähnte Essen oder aber auch Kleider. Die können auf einem Selfie ja großartig aussehen, auch wenn sie vom Material her zum Beispiel eher schlechte Qualität sind. Das lässt sich auf alles Mögliche übertragen. Apartments, die auf Bildern modern aussehen, aber in Wirklichkeit billig eingerichtet wurden. Da gibt es eine Menge Beispiele in den USA.
Böttcher: An wen richten sich denn die Produkte der veredelten Mittelmäßigkeit, wer konsumiert im Premium-Mediocre-Bereich?
Rao: Ich denke, es sind vor allem Leute, die versuchen, für sich eine Rolle in der New Economy zu finden. Also junge Leute in den Zwanzigern, und zwar nicht die super gefragten Talente mit den IT-Abschlüssen, die finden leicht einen guten Job bei Google oder so. Ich meine Leute, die jetzt nicht wirklich die relevanten Skills zum Programmieren haben und trotzdem in die großen Städte gehen, um einen Weg in die New Economy zu finden.

"Man versucht sichtbar zu sein"

Böttcher: "Premium Mediocre" bedeutet also, dass etwas Mittelmäßiges so weit wie möglich aufgewertet wird, aber dabei immer noch mittelmäßig ist. Inwiefern unterscheidet sich denn so ein Konzept von althergebrachten Klassenkonzepten, also zum Beispiel vom Kleinbürgertum?
Rao: Wenn es um soziale Dynamiken geht, dann gibt es dieses englische Sprichwort: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Es gibt immer Phänomene, die gleich bleiben, aber immer auch neue Elemente. Im Vergleich zu der Zeit vor hundert Jahren zum Beispiel, wo die Kategorie Petit Bourgeois ja eine große Rolle spielte, gibt es einige Unterschiede. Ein neues Phänomen sind zum Beispiel die Wirtschaftssysteme der großen Metropolen, die an die Stelle der kleinstädtischen Wirtschaft oder der Landwirtschaft getreten sind.
Man versucht sichtbar zu sein und Möglichkeiten zu finden in Städten wie Berlin oder New York – das ist eine andere Aufgabe, als in einer Kleinstadt im 19. Jahrhundert zu reüssieren. Ein anderer gewichtiger Unterschied ist die massive Präsenz der sozialen Medien heute. Vor hundert Jahren brauchte man Verbindungen zu wichtigen Leuten und Empfehlungsschreiben um etwas Neues für sich zu finden. Heute gibt es Millionen Möglichkeiten: Die ganze Welt ist erreichbar über Instagram, Twitter, über Blogs, Linkedin oder Facebook. Da gibt es Millionen Möglichkeiten, in die New Economy reinzurutschen, und das verändert die Art, wie man sich bewegt in der Gesellschaft. Das ist ein großer Unterschied zwischen heute und dieser Gesellschaft vor hundert Jahren, die doch ein anderes Klassenbewusstsein hatte.
Böttcher: Würden Sie denn trotzdem sagen, dass die Konsumenten von Premium Mediocre eine neue Klasse sind? Oder eine neue Generation?
Rao: Ich denke, sie sind beides. Die Premium-Mediocre-Klasse beschreibt die Kinder der alten Mittelschicht. Also die Klasse an Leuten, die für ihr Geld arbeiten mussten und die davon ausgegangen sind, auch ein Leben lang einen Job zu haben. Das gibt es natürlich noch in Deutschland, aber die Kinder dieser alten Mittelschicht leben heute in einer viel unsichereren Wirtschaftssituation. Die Jobs sind andere und auch die Karrieren. Sie kommen also aus der Mittelschicht und bilden aber eine neue Art Klasse, weil sie viel mehr Eigeninitiative und Selbständigkeit an den Tag legen müssen. Sie müssen viel mehr kämpfen, haben wenige Routine und keine gradlinigen Karrieren – das definiert diese Klasse.
Böttcher: Welche Klasse, welche Schicht steht denn dann über Premium Mediocre?
Rao: Das ist eine interessante Frage, die ich mit vielen Freunden diskutiert habe. Ich glaube, die Klasse darüber ist nicht so sehr darüber definiert, was sie konsumiert. Das sind auch nicht zwangsläufig bessere Produkte. Man könnte natürlich sagen, sie gehören einer Art Äquivalent der Oberschicht der Vergangenheit an. Aber das trifft es nicht ganz. Sie spielen nicht in dieser Art Casino-Wirtschaft mit. Ihre Chancen zu Wohlstand zu kommen, sind einfach realistischer. Ich habe sie in meinem Blog die Krypto-Bourgeoisie genannt, das war eine Art Witz über Bitcoins, weil diese Krypto-Währungen eine der wenigen modernen Möglichkeiten sind, wie Leute plötzlich viel Geld machen können. In der Regel ist es schwierig, heute zu Wohlstand zu kommen. Was die Klasse über der Premium-Mediocre-Klasse also auszeichnet, ist, dass sie realistischere Chancen hat, das zu schaffen.

Fake wie ein Bühnenbild

Böttcher: Haben Sie eine Erklärung, warum es die Menschen nicht ablehnen, so etwas Geschmackloses wie Premium Mediocre zu konsumieren? Warum sie sogar so tun, als wäre Spitzen-Mittelmäßigkeit ein Beweis für Stil, als wäre es eine wirklich interessante Sache?
Rao: Da gibt es verschiedene Hypothesen, meine liebste ist die phänomenologische. Denken Sie an ein Bühnenbild. Das muss nicht so solide gebaut sein wie ein echtes Haus. Ist ja fake – kann also auch mit Billigholz konstruiert werden. Und dieser Ansatz lässt sich auch auf das Premium-Mediocre-Konzept übertragen. Es geht darum, anderen einen bestimmten Lifestyle zu signalisieren. Es geht um Suggestion. Es ist ja auch nicht komplett fake, man nimmt ja auch mit Premium-Mediocre-Nahrung ein paar Nährstoffe zu sich. Aber das Ziel ist, ein tolles Foto der Konsumgüter zu machen, das dann an die Freunde geschickt wird, die dann denken, dass man total cool ist – die es alle aber genauso machen und so auch wissen, dass das alles ein bisschen fake ist. Aber sie sind eben alle Teil dieser Theaterproduktion, deswegen kommt man durch mit diesem Billigkonsum.
Böttcher: Glauben wir denn selbst, dass, wenn wir die Trüffelbutter von Aldi verzehren oder den Billigflieger als Priority-Seating-Kunden zuerst betreten dürfen, dass wir uns auf der gesellschaftlichen Leiter dadurch nach oben bewegen?
Rao: Ich glaube, das kommt darauf an, wie lange man sich schon in dieser Phase des Lebens befindet. Das ist ja alles nicht sehr stabil. Man suggeriert, einer höheren Klasse anzugehören, kann es sich aber eigentlich nicht leisten. Wenn man jetzt gerade aus der Uni kommt, 22 ist und optimistisch zum Beispiel nach Berlin zieht in der Hoffnung, einen guten Job im Tech-Sektor zu finden, dort in einem Coworking-Space arbeitet und eben diesen Lifestyle hat und hofft, dass die Chancen sich irgendwann eröffnen, ist das erstmal okay. Wenn man das aber viele Jahre so macht, sechs, sieben Jahre und schon mehrere Startups gescheitert sind, du seit Jahren bloggst, aber kein Post jemals ein Hit war – dann funktioniert die Maske irgendwann nicht mehr. Und irgendwann hört man dann selbst auf zu glauben, zieht vielleicht in eine kleinere Stadt und versucht einen Job in einem Segment der Wirtschaft zu finden, das vielleicht nicht ganz so sexy ist.

Wir alle spielen Theater

Böttcher: Das heißt, sie glauben, dass man an einem Punkt resigniert, weil man sich dann nicht mehr mit dem Scheinluxus zufrieden geben will?
Rao: Ich denke, auf manche Leute trifft das zu, für andere ist es, wie ins Casino zu gehen. Man spielt um das Leben in einer unsicheren Wirtschaft. Ganz so dem Zufall überlassen wie im Casino ist man aber natürlich auch nicht. Es gibt schon Skills, die helfen, die Chancen zu erhöhen. Das ist also eher wie Black Jack spielen. Die Leute resignieren nicht, aber sie haben akzeptiert, dass es keine zwangsläufige Beziehung gibt zwischen Anstrengung und Erfolg. Es braucht aber ein Element Glück und das wird akzeptiert.
Böttcher: Wir leben in einer hochgradig kapitalistischen Ära, Premium-Mittelmaß dürfte ein Zeichen für das Dilemma sein, in dem sich viele von uns befinden. Aber noch mal nachgefragt: Für wen spielen wir da Theater? Für uns oder für andere?
Rao: Wir spielen es für verschiedene Leute aus verschiedenen Gründen. Zum Teil spielen wir für uns, denn man muss schon wenigstens ein bisschen an etwas glauben, um es auch realistisch spielen zu können. Das müssen ja auch Schauspieler bis zu einem gewissen Grad. In meinem Blog habe ich auch die These aufgestellt, dass wir das Theater für unsere Eltern spielen. Die Millenials wollen nicht, dass ihre Eltern denken, ihr Leben bricht zu zusammen. Die wollen den Eindruck erwecken, es läuft alles gut. Dann gibt es natürlich dieses eine Prozent der Klasse, die Leute, die wirklich in Machtstrukturen sitzen und Einfluss haben in der New Economy. Um deren Türen öffnen zu können, muss man auch eine Show inszenieren können. Und ein paar meiner Leser haben auch eine Parallele zu den Dating-Gewohnheiten in der New Economy gesehen: Die Online-Dating-Kultur spielt da vielleicht auch mit rein.
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