Premiere an der Berliner Schaubühne: "Orlando"

Fließende Geschlechter im Kamera-Korsett

06:26 Minuten
Von einer Videoleinwand über der Bühne schaut Orlando, gespielt von Jenny König, intensiv in den Zuschauerraum. Auf der eigentlichen Bühne sitzt Orlando die Arme verschränkt auf dem Bett und wird dabei gefilmt.
Mann oder Frau, wer schaut da den Zuschauer an? Jenny König spielt "Orlando". © Stephen Cummiskey
Von Barbara Behrendt · 05.09.2019
Audio herunterladen
Virginia Woolfs "Orlando" gilt als Klassiker der feministischen Literatur. Die Britin Katie Mitchell hat den Roman an der Berliner Schaubühne in einer filmischen Zeitreise inszeniert – herrlich satirisch, als große Kostüm-Komödie.
"Und dann erwachte Orlando. Er streckte sich. Er erhob sich. Er stand aufrecht in völliger Nacktheit vor uns, und uns bleibt keine Wahl, als zu gestehen – er war eine Frau."
Es ist die Schlüsselszene in Virginia Woolfs Roman. Als englischer Gesandter in Konstantinopel erwacht Orlando nach einem siebentägigen Schlaf.

Orlando steht nackt da

Und weiter: "Orlando stand splitternackt da. Kein menschliches Wesen seit Anbeginn der Welt sah je hinreißender aus. Orlando war eine Frau geworden, das ist nicht zu leugnen. Aber in jeder anderen Hinsicht blieb Orlando genau so, wie er gewesen war."
Auf der Bühne verdeckt die Schlafzimmerwand den Blick auf die Verwandlung. Den magischen Moment kann man nur auf der großen Leinwand darüber miterleben. Die zarte Jenny König steht mit ihrem roten, wallenden Haar nackt vorm Spiegel in einer historischen Filmkulisse und lässt, herrlich kindisch burschikos, mit Entzücken die neuen Brüste wippen.
Woolf hat 1928 das beschrieben, was man heute "Gender Fluidity" nennt – ein Changieren zwischen Geschlecht und sexueller Orientierung. Ob Orlando Mann oder Frau ist, ist für ihre Identität völlig nebensächlich. Nur die Erwartungen der Gesellschaft verändern sich mit dem Geschlechterwechsel.

Der Roman sprüht vor kühnem Witz

Für die Frauenbewegung wollte sich Woolf damit nicht vereinnahmen lassen, der Roman sprüht vor kühnem Witz, Ironie und dem, was man später magischen Realismus nennen sollte. Eine leichte Satire – auch auf die literarische Gattung der Biografie und auf den Literaturbetrieb, dessen Saturiertheit Woolf wunderbar giftig ausstellt.
Die Erzählerin muss sich immer wieder ratsuchend an den Leser wenden, angesichts der Verwirrung in Orlandos Leben – und umgekehrt. Dafür sitzt Cathlen Gawlich in einer Sprecherkabine auf Leinwandhöhe und liest weite Teile des Romans vor. So wird zwar der süffisante, spritzige Tonfall des Originals hörbar – dafür bleibt der Abend eine bebilderte Erzählung, die nur hier und da von der direkten Rede der Schauspieler unterbrochen wird.
Jenny König und Konrad Singer als ihr bräsiger Verehrer werfen ironisch-genervte Blicke in die Kamera. So pointiert und komödiantisch dieser Abend ist, so nah an Woolfs Sprache – so wenig traut er doch den Mitteln des Theaters.

Der Blick auf die Bühne erübrigt sich oft

Noch mehr als sonst bei Mitchells hoch technisierten Inszenierungen erübrigt sich der Blick auf die Bühne über weite Strecken. Kulissen werden verschoben, Kameras gerollt, fast 90 Kostüme am Bühnenrand gewechselt. Ein beeindruckender, technisch perfektionierter Vorgang, bei dem die Spieler allerdings zu Erfüllungsgehilfen des Films werden, nicht im Kontakt mit dem Publikum, sondern mit der Kamera.
Viele Bilder sind zudem voraufgezeichnet: Orlando, der durch Mohnblumen streift, im Laub unterm Eichbaum, Orlando vor historischen Herrenhäusern, später dann als Frau im Flugzeug und im Auto durch das verregnete London von heute.
Perfekt ausgeleuchtete Bilder, die die Zeitreise der Hauptfigur detailliert illustrieren und ironisch brechen. Ein hoch komischer, fast karikaturesker Abend, der in all seiner Technisierung aber das Schauspiel selbst, die lebendigen Menschen auf der Bühne, unlebendig wirken lässt.

Schauspieler, ins Korsett gezwängt

Das ästhetische Konzept scheint zunächst zum Inhalt zu passen: Realität trifft auf Projektion, Schein auf Sein. Doch bald wirkt das Korsett, in das Mitchell ihre Spieler zwängt, so starr wie jenes, das den Geschlechtern auferlegt wird.
Bei aller Perfektion bleibt ein Unbehagen, wie hier das mediale Bild den Körper von der Bühne verdrängt.

Weitere Termine von "Orlando" an der Berliner Schaubühne:
7.9., 8.9., 11.9., 12.9., 13.9., 25.10., 26.10., 27.10. 2019

Mehr zum Thema