Premiere am Theater Basel

"Drei Schwestern" können sich nicht aufraffen

Viel Bewegung und viel Langeweile - der Blick aus ein Zugfenster aus ein Feld
Viel Bewegung und viel Langeweile - der Blick aus ein Zugfenster aus ein Feld © dpa / M. C. Hurek
Von Elske Brault · 10.12.2016
Simon Stones Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" ist eine Delikatesse: gewagt die Schnoddrigkeit des Textes, famos aber die Gültigkeit und Wirkung wie einst. Eigentlich wollen alle raus aus den alten Bahnen, wollen ein neues Leben, aber dann...
Ein Haus auf dem Land, asymmetrisch, formschön, aus Holz und Glas gezimmert, als habe der schwedische Möbelkonzern IKEA die Bauhaus-Architektur als Selbstbausatz in Serie hergestellt. Hier treffen sie sich, die drei Schwestern und ihr Bruder André, zu Irinas, der jüngsten, 21. Geburtstag, dann zu Weihnachten und schließlich, um das Haus zu räumen, bevor es verkauft wird. Der Vater habe das Ferienhäuschen gebaut, heißt es, Bruder André wird es am Ende verspielt haben. Doch die Asche des Vaters, aufbewahrt in einer Urne, sie wird nie verstreut. Was du ererbt von deinen Vätern...Die drei Schwestern verlieren im Laufe des Stücks das materielle Erbe des Vaters, doch sein geistiges Erbe bleibt ihnen, die Beziehungsunfähigkeit des notorischen Fremdgängers, seine narzisstische Suche nach Bestätigung von außen.

Hemmungslos und undiszipliniert

Irina trennt sich im 1. Akt von Nikolai, im 2. versucht sie, ihn zurückzuerobern, im 3. schildert er, wie ihr das dank jahrelanger Ausdauer gelungen ist, nur um ihn dann abzuwehren: "Sex nur ganz selten und wenn, dann wolltest du nur von hinten." Simon Stones Übersetzungen der seelischen Sehnsüchte in körperliche Handlungen sind explizit, die Sex-Szenen in der oberen Etage seines gläsernen Hauses so deutlich, dass man die Empfehlung auf der Webseite des Theater Basel "ab 14" mit wenigstens zwei Jahren Aufschlag versehen möchte oder die jüngeren Zuschauer in die ersten Reihen setzen, wo das Schlafzimmer nur bedingt einsehbar ist. Doch Stone und seine exquisite Schauspielertruppe machen uns zu Voyeuren des eigenen Lebens: So sind wir, so hungrig nach Aufmerksamkeit und Abwechslung, so rücksichtslos den anderen niederquatschend, so hemmungslos und undiszipliniert, wenn Alkohol oder andere Drogen oder ein kurzer Liebesrausch sich anbieten. Und zugleich so mutlos, wenn es darum geht, eine eigene Entscheidung zu treffen und sie durchzuhalten.
Die mittlere Schwester Mascha (wunderbar leidenschaftlich: Franziska Hackl) und der genau wie sie anderweitig verheiratete Nachbar Alexander (wunderbar linkisch: Elias Eilinghoff) träumen das ganze Stück über davon, die jeweilige Ehe hinter sich zu lassen und gemeinsam neu anzufangen. Aber natürlich gelingt es ihnen nie. Aus "Nach Moskau!" ist "New York! Brooklyn!" geworden. Doch im Prinzip ist es ganz gleich, von welcher Stadt sie sprechen, ein gemeinsamer Neubeginn wäre auch im Wohnwagen möglich, wenn sie sich nur aufraffen könnten. Man möchte den beiden einen Klarspüler für ihre Seelen in die Hand drücken und schreien: "Dann klappt’s auch mit dem Nachbarn!"

Stillstand in ständiger Bewegtheit

Es ist der Delikatesse von Simon Stones Inszenierung zu verdanken, dass sie bei aller Alltäglichkeit und Schnoddrigkeit des Textes jenen Tschechow-Zauber entfaltet, der die Zuschauer in den bequemen Theatersesseln an inneren Türen rütteln lässt. So wie die da auf der Bühne möchte man das nicht, solchen Stillstand in ständiger Bewegtheit, solch Mangel an Aushalten und Durchhalten. Während die Darsteller sich nach zweieinhalb Stunden beglückt und erlöst verbeugen, fassen wir im Zuschauerraum den Entschluss: Nach Moskau! Gleich morgen. Wo auch immer das für den einzelnen liegen mag.
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