Preiswürdiges Medienmüllrecycling

Von Jochen Meißner · 20.03.2007
Der Hörspielpreis der Kriegsblinden zählt zu den wichtigsten Auszeichnungen für Hörspielautoren. In diesem Jahr erhält den Preis der Sänger und Autor Schorsch Kamerun für sein Stück "Ein Menschbild, das in seiner Summe null ergibt". In der Begründung der Jury heißt es, das Stück überzeuge mit seiner radikalen Aussage und dem souveränen Gebrauch des Mediums Radio.
"Meine Damen und Herren, liebe Ein- und Ausgeweihte, willkommen im Breitklang der Möglichkeiten und Bedingungen. Drehen Sie Ihr Radio auf, lassen Sie sich ein, aber achten Sie auf die Richtigkeit der folgenden Anweisungen, es könnten und Fehler unterlaufen sein in unseren Versprechungen. Wenn alles super ist, ist nichts mehr super. Unserem frischen Hasen könnt der letzte Haken bereits geschlagen sein. Das Leben werden Sie kaum noch selbst erleben, das erledigen wir, ihre bezahlten Vertreter. Alle Reize liegen blank."
Es ist die kaum verhüllte Leidenschaft für den leicht verzerrten Sound eines Megaphons, mit dem Schorsch Kamerun sein Hörspiel einleitet. Kämpferisch und apodiktisch im Ton, chaotisch und erhellend zugleich in der Aussage. "Ein Menschbild, das in seiner Summe null ergibt" ist nach "Eisstadt" und den "Hollywood Elegien" bereits das dritte Hörspiel, das der Sänger der Punkband "Die goldenen Zitronen" für den WDR produziert hat.

"... auch wenn sie aus längst abgelegten Strömungen zusammengesetzt ist. Frisch erfinden darf hier niemand mehr ..."

... denn was man hier hört, ist das Recycling des Medienmülls und seiner Formen. Die Schilderung eines ebenso unglaubwürdigen wie erniedrigenden Rituals mit weichgespülter Wellness-Stimme vorgetragen, das ist nicht mehr RTL 2, sondern dessen präzise Überzeichnung. Und wenn direkt im Anschluss an die fiktive Ethnologie ein unbedarfter Mitmensch sich um Kopf und Kragen redet, dann ist das kein in denunziatorischer Absicht aufgenommener O-Ton, sondern ein improvisierender Schauspieler, der die Authentizitätsanmutung des Unperfekten als Gemachtes entlarvt.

"... Vorsicht, schwarz rot heiß.
In Nordamerika lebt ein Indianerstamm, der ein wirklich ungewöhnliches Jagdmotivationstraining betreibt. Einmal im Jahr, in der ersten Vollmondnacht nach der winterlichen Sonnenwende stellen sich die jungen Männer des Stammes spielerisch über die unvermählten Frauen ihrer Gemeinde. Hierbei knien sich die Squaws auf den Boden und lassen sich von jeweils einem einzelnen Mann beleidigen. Die Indianer trinken Büffelblut aus einem Wildlederbeutel und spucken es den Frauen mitten ins Gesicht. Hierbei schreien sie unablässig: 'Ich besiege dich, ich verachte dich, ich bin dir über, also demütige ich dich'. Bis alle werdenden Mannsbilder einmal dominieren dürfen, vergehen bis zu drei volle Tage, in denen ununterbrochen gespuckt und gebrüllt wird.

Also ich find zum Beispiel so 'ne Politik der kleinen Schritte gut. Zum Beispiel, dass man jetzt sieht, dass Verhandlungen auch mal wieder was bringen können, beispielsweise ich hab jetzt gerade gehört, die Continental AG hat zum Beispiel nach langen Verhandlungen sich entschieden, dass sie die PKW-Reifenproduktion, ich glaub in Hannover, bis 2007 fortsetzt und dann sieht man ja, dass das Verhandeln eben doch was bringt und dann ist es halt zu diesem Kompromiss gekommen, bei dem es glaube ich keine Gewinner und keine Verlierer gibt auf beiden Seiten ..."

In der kontrastiven Montage entfalten die "Monologführer" und "Originalton-Spender", wie Kamerun seine Figuren nennt, ihre Komik. Auch wenn sie sich als "Originalmenschen" aufstellen müssen - wie Unternehmen in der Standortkonkurrenz -, sind sie doch lediglich als statistische Größe relevant, nämlich als die Nachfrage, die das Angebot braucht, um sich zu reproduzieren. Angebot + Nachfrage = Null - ein Menschbild, das in seiner Summe null ergibt.

"Es ist doch wirklich grotesk, das wir, die wir ein besseres Leben fordern, durch die schamlose Privatisierung jeglicher Öffentlichkeit mittlerweile das Gefühl haben, wir müssten uns schützend vor das stellen, was wir einst Schweinestaat nannten."

"und bloß weil ich friere ist noch lange nicht Winter."

"Plötzlich einem wildfremden Menschen in der Kantine das Tablett entreißen, ihm mit einem Buttermesser hinterrücks den Büstenhalter auftrennen, mit einem stumpfen Gegenstand seine Zehen zerquetschen, die in modischen Gesundheitssandalen stecken. - Ich höre auch viel Deutschlandfunk in letzter Zeit. - Denke oft ich bin ein schlechter Mensch, weil ich mich vom Nettsein so angestrengt fühle, wie in der Mitte durchgebrochen."

"Sie haben den Ausgang verpasst aus Ihrer unentschuldigten Unmündigkeit. ... "

Kameruns Hörspiel jongliert souverän mit dem medialen Formenrepertoire und schafft damit eine neue Art Hörspiel - eine Synthese aus den exaltierten Sprachgewittern eines Christoph Schlingensief und den hochstilisierten Texten einer Kathrin Röggla.

Von den 20 Nominierungen der ARD-Anstalten, des Deutschlandradios sowie des Österreichischen und des Schweizer Rundfunks, schafften es vier in die engere Wahl. Saša Stanišićs opulente Romanadaption aus des Jugoslawienkrieg "Wie der Soldat das Grammofon repariert” vom Bayerischen Rundfunk:

"Wie lange ein Herzstillstand für hundert Meter braucht, was der Chefgenosse des Unfertigen als Zauberer drauf hat und was man so als Künstler drauf haben muss"."

Hans Magnus Enzensbergers Dialogstück zwischen einer gealterten Sängerin und einem jungen Ökonomen "Josefine & ich" vom Hessischen Rundfunk:

""Ha! Die Gerechtigkeit. Schöne Idee, Nie war von dieser vollkommen unnatürlichen Vorstellung soviel die Rede wie heute. Wahrscheinlich, weil sie sich nirgends blicken lässt."

und Matthias Baxmanns aus den frühen Tagebüchern Einar Schleefs kompiliertes Hörspiel "Entweder bin ich irr oder die Welt" vom Südwestrundfunk:

"Kommentar 1998. - Die Einsen waren mein Waffe, zunächst in der Schule, jetzt wusste ich langsam, wie man ein Eins macht. [ ... ] Meinem Vater war es manchmal unmöglich mich zu schlagen. - Nur Demütigungen wegen dir. - obwohl er mich noch mit 20 schlug."

Am Ende konnte sich keines dieser Stücke durchsetzen.

Mit 14 von 18 Stimmen wählte die Jury, die zu je einem Drittel aus Vertretern des Bundes der Kriegsblinden, der Filmstiftung NRW und Fachkritikern besteht, "Ein Menschbild, das in seiner Summe null ergibt" von Schorsch Kamerun zum besten Hörspiel des Jahres 2006.

Begründung der Jury