Praxistest Familiennachzug

Das lange Warten

Ein junger Mann aus Eritrea sitzt am Steuer eines Gabelstaplers
Shumay arbeitet, zahlt Steuern: Frau und Tochter, die er seit vier Jahren nicht gesehen hat, könnte er mitfinanzieren. © Gerhard Richter
Von Gerhard Richter · 11.11.2018
Tausende Flüchtlinge in Deutschland warten auf ihre Familie, die sie gerne nachholen möchten. Nur wenige schaffen es, denn der Weg ist steinig - und voller bürokratischer Fallstricke. Shumay aus Eritrea versucht es trotzdem.
Shumay fegt den Boden seiner Drei-Zimmer-Wohnung und hört dazu Musik aus der Heimat. Eritreische Klänge im brandenburgischen Städtchen Lindow. Es ist April, ein Hauch von Frühling weht durch den DDR-Plattenbau. Shumays Wohnung ist bescheiden eingerichtet - Herd, Tisch, Stühle, Schränke, Sofa, Töpfe und Geschirr – alles ist gebraucht, vieles gespendet. Aber er ist stolz und glücklich. Denn die Drei-Zimmer-Wohnung macht es möglich, dass er endlich seine Frau und seine Tochter nach Deutschland holen darf.

Voraussetzung für den Familiennachzug: eine eigene Wohnung

Seit vier Jahren hat er sie nicht mehr gesehen. Eine angemessene Wohnung ist Voraussetzung für den Familiennachzug. Genau das ist für die meisten die größte Hürde. Shumay hat sie mit Bravour genommen. Strahlend steht er vor dem Kinderbett für seine fünfjährige Tochter. Dann setzt er sich aufs Sofa und sinkt für einen Moment zusammen und seufzt. "Es ist schwer für mich, hier zu leben ohne Familie."
Plattenbau auf grüner Wiese, etwas hinfällig
Hier wohnt Shumay jetzt - die große Wohnung für sich und seine Familie hat er aufgegeben.© Gerhard Richter
Frau und Tochter sind wie Shumay selbst aus Eritrea geflüchtet und warten seit eineinhalb Jahren im Nachbarland Äthiopien auf den Familiennachzug. Shumay schickt ihnen Geld, jeden Monat, für ihren Unterhalt. Aber auch für die vielen Papiere, die die Botschaft in Addis Abeba verlangt.
Shumay arbeitet in einem Altmetallhandel, jeden Morgen radelt er eine halbe Stunde hin. Er holt ein armdickes Kabel aus einem Container. Das meterlange Stück legt er in einen Eisenapparat: den Kabelschäler. Der trennt mit brachialer Kraft die daumendicke schwarze Plastikhülle vom Kupferkern, glänzendes wertvolles Altmetall.

Mitarbeiter für den Altmetallhandel sind schwer zu finden

"Ich schäle auch Kabel, wenn keine Kunden da sind", erzählt Shumay, denn an diesem Montagnachmittag will tatsächlich niemand Schrott abgeben. Shumay ist fast allein in der Halle des Altmetallhandels. Der schmächtige Eritreer legt das nächste Kabel in den Schäler.
Shumay ist Mitte 20, etwa 1 Meter 70 groß und sehr zurückhaltend. Seine schwarzen krausen Locken sind an den Seiten kurz geschnitten, stehen aber wie ein Block senkrecht nach oben ab. Er trägt eine blaue Latzhose und große Arbeitshandschuhe.
Shumay steht neben dem Kabelschäler
Kommt mal kein Kunde in die Altmetallannahme, schält Shumay Kabel.© Gerhard Richter
"Ich bin seit sechs Monaten hier. Mein Chef ist ein ganz netter Mann. Er hat mir alles gezeigt, ich habe alles von ihm gelernt."
Der "ganz nette Mann", der Shumay alles beibringt, ist Matthias Köppen. Der 56-jährige Metallbaumeister trägt ein graues Bärtchen am Kinn und Baseballmütze. Im brandenburgischen Kränzlin betreibt er die Recyclinganlage für Altmetall.
In der Halle stehen Container für die unterschiedlichen Metalle bereit, alles ist sauber und aufgeräumt. Aus den Containern hat Köppen besonders interessante Metalleile herausgefischt und auf Tische gestellt. Ein bisschen wie Flohmarkt. Köppen mag seine Arbeit.
"Ich habe über ein Jahr jemanden gesucht, einen Mitarbeiter, und nicht gefunden. Nur große Klappe, nur labern, nur viel Geld verdienen, bloß nicht arbeiten, bloß keinen Stress. Und war ganz, ganz froh darüber, als er über eine Bekannte zu mir kam. Das hat geklappt vom ersten Tag an, wir haben noch nie Probleme gehabt."
Das Rolltor hebt sich, draußen ist es warm. Der Frühling ist eingezogen. Ein Kunde fährt in die Halle, parkt sein Auto auf der Fläche aus Holzbohlen, darunter ist die Waage. Shumay geht an den Computer und fragt nach dem Nachnamen. Der Kunde buchstabiert: W-I-M-M-E-R.
Shumay tippt den Namen in die Tastatur, sucht in den Kundenliste. Matthias Köppen, sein Chef, schaut ihm über die Schulter.
"Dann macht er den Buchstaben falsch, dann findet er den Namen nicht, das sind dann immer so Probleme. Ä, Ö, Ü und so. Ist falsch geschrieben Shumay. Deshalb findest du ihn nicht. W! Dann ein I, M, noch ein M. Jetzt findest ihn auch, ja da oben."
Kunde Wimmer öffnet den Kofferraum. Shumay hilft ihm beim Ausladen, trägt den Karton mit ausrangierten Wasserhähnen zum Messing-Container. Dann wiegt er das Auto nochmal. Die Differenz ergibt das Gewicht des Alt-Metalls. Shumay berechnet den Preis und druckt die Rechnung aus.
Der Kunde winkt ab und fährt los. Shumay wünscht noch einen schönen Feierabend. Hat er von Köppen gelernt. So eine geschäftsmäßige Freundlichkeit kannte er gar nicht aus Eritrea, wo er nach der achten Klasse ein paar Monate in einer Autowerkstatt gearbeitet hat.
"So mit dem 'Bitte' und 'Danke' und 'Guten Tag' hatte er's nicht so. Er ging dann anfangs immer zum Kunden und schrie: Name! Name! Und die dachten sich alle, was ist das für ein Verrückter? Das ist natürlich schwierig, aber sowas musst du erst mal lernen, wieso ist das so? So wie er das jetzt gesagt hat, 'Schönen Feierabend', das kannte er gar nicht."
Ein Mann mittleren Alters mit Ziegenbärtchen erklärt einem eritreischen jungen Mann ein technisches Detail am Computer
Matthias Köpper hat Glück mit Shumay - und umgekehrt.© Gerhard Richter
Köppen lobt Shumay. Er lernt schnell, ist pünktlich, zuverlässig, nimmt kein Geld aus der Kasse und ruft an, wenn der Bus mal ausfällt und er sich verspätet. Für Köppen ist Shumay ein Glücksfall. Und Köppen ist für Shumay auch ein Glücksfall. Er ist nicht nur ein Chef, der ihm zeigt, was er auf Arbeit wissen muss, und ihm 1200 Euro Lohn bezahlt. Köppen ist auch jemand, der Shumays Problem versteht. Er weiß: Shumay ist alleine hier und seine Frau und seine Tochter warten in Addis Abeba darauf, zu ihm zu kommen.

Vier Jahre hat sich die Familie nicht gesehen

Vier Jahre haben sie sich nicht gesehen. Die Tochter war ein Jahr alt, als Shumay wegging. Köppen spürt, wie schwer das alles für seinen Mitarbeiter ist und hofft zusammen mit Shumay auf einen Termin in Neuruppin mit der Flüchtlingsberaterin Birthe Schmidt. Der ist im Mai.
"Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?" Birthe Schmidt wartet schon.
Shumay setzt sich, zieht aus seinem roten Rucksack einen kleinen Stapel Papiere hervor, säuberlich in einer Plastikhülle verwahrt.
"Ich möchte meine Familie nach Deutschland holen. Meine Familie lebt schon seit eineinhalb Jahren in Äthiopien alleine, das ist schwer für sie, sie möchten schnell kommen. Meine Frau, mein Kind, sie hatten ein Interview auf der deutschen Botschaft, aber unserer Heiratsurkunde ist nur von der Kirche. Ich habe in einem kleinen Dorf in Eritrea geheiratet und kann die Standesamtspapiere nicht holen."
Jugendliche auf dem Land in Eritrea sitzen auf einem Karren mit Stroh, vor den ein Esel gespannt ist.
Auf dem Land in Eritrea heiratet man kirchlich und wird nicht registriert.© Deutschlandradio / Oliver Ramme
Birthe Schmidt schaut sich die Papiere an, liest sich die Schreiben durch. Schmidt ist Dolmetscherin für Russisch und Polnisch und Dozentin für Deutsch als Fremdsprache. Sie arbeitet für den Verein Esta-Ruppin. Der kümmert sich im Auftrag der evangelischen Kirche um Flüchtlinge. 100 bis 120 Personen berät Birthe Schmidt im Quartal, und das seit acht Jahren. Erst waren es Russlanddeutsche, dann Syrer, jetzt kommen viele Eritreer zu ihr.
"Viele Menschen, die zu mir kommen und eine Familienzusammenführung machen wollen, leben noch im Heim. Das ist der nächste Punkt dann, wenn die Familie da ist, dass man sich um eine ordnungsgemäße Wohnung kümmern muss. Weil man in dem Zimmer, in dem der Migrant lebt, nicht eine Familie mit mehreren Kindern unterbringen kann."
Bei Shumay ist das etwas anders. Er ist schon seit vier Jahren in Deutschland und schon ganz gut angekommen.
"Shumay hat einen Status, er hat einen Aufenthalt, ja Shumay hat Arbeit und Shumay hat sogar schon eine Wohnung für seine Familie!"
Seine Frau und seine Tochter sind aber Tausende Kilometer weit weg. Um nach Deutschland zu kommen brauchen sie ein Visum von der deutschen Botschaft in Addis Abeba. Und dafür braucht Shumay die entsprechenden Papiere. Das Problem ist die Heiratsurkunde.
"Das Gesetz sieht eindeutig vor, dass man eine standesamtliche Urkunde der Eheschließung vorlegen muss, weil diese Ehe in Deutschland sonst nicht anerkannt wird. Und wenn er nicht verheiratet ist, kann er keine Familie hinterher holen."

Eine eritreische Heiratsurkunde gibt es nicht, wird aber verlangt

Shumay und seine Frau sind aber verheiratet. Sie haben sich kirchlich getraut nach eritreisch-orthodoxem Ritus, so wie es auf den Dörfern üblich ist. Niemand dort lässt seine Ehe in den weit entfernten Städten standesamtlich eintragen. Shumay oder seine Frau können auch nicht dorthin zurück, um so eine Heiratsurkunde zu beschaffen. Man würde sie verhaften. Ein Problem, das viele Eritreer haben, weiß Birthe Schmidt von den regelmäßigen Treffen mit ihren Kollegen aus ganz Deutschland.
"Dort kommen auch die Migranten und sagen, wir kommen aus Eritrea, dort ist es wirklich nicht üblich, dass man - außer in den großen Städten - eine staatlich registrierte Ehe schließt. Man macht das kirchlich und das reicht fürs ganze Leben."
Aber es reicht nicht, um einer deutschen Behörde seine Ehe zu bescheinigen. Davon hängt aber ab, ob Shumays Frau und seine Tochter zu ihm nach Deutschland kommen können oder nicht. Es gibt nur eine kleine Chance und die will Shumay nutzen. Auf einem Blatt Papier hat er versichert, dass er kirchlich getraut ist, und dass es auf den eritreischen Dörfern ganz unüblich ist, seine Ehe standesamtlich registrieren zu lassen. Das Blatt Papier hat Shumay dabei, säuberlich von Hand verfasst, in seiner Muttersprache Tigringa.
"Ich hatte Ihnen einen Tipp gegeben. Ich hatte ihnen gesagt: Schreiben Sie es auf und lassen Sie es übersetzen, haben Sie das gemacht?"
"Ja, das habe ich gemacht."
"Sehr gut, dann werde ich das mit einem Schreiben an die Ausländerbehörde schicken und wir werden versuchen, dass sie das, was Sie aufgeschrieben haben, anerkennen."
42 Euro hat Shumay für die Übersetzung bezahlt. Mit eindrucksvollen Stempeln. Kann er von seinem Lohn bezahlen. Für andere Migranten kann der deutsche Papierkram auch finanziell erdrückend werden.
"Ich habe Migranten, die haben sechs, sieben, acht Kinder und das muss man sich dann mal ausrechnen. Geburtsurkunden, Pass muss gemacht werden, die Heiratsurkunde muss gemacht werden und wenn man dann eine große Familie hat, dann kommenden schnell mal ein paar Tausend Euro zusammen, die bezahlt werden müssen."

DNA-Tests als Beweismittel reichen nicht aus

Das Jobcenter kann diese Kosten übernehmen, muss aber nicht. Und so wird einer Familie geholfen, der nächsten wieder nicht. Das Jobcenter kann auch die Kosten für den DNA-Test übernehmen, den Shumay, seine Frau und sein Kind auch noch abgeben müssen. Der soll beweisen, dass die fünfjährige Tochter tatsächlich ihr leibliches Kind ist. So ein Test kostet Shumay rund 300 Euro. Die muss er selbst bezahlen, das Jobcenter hat abgelehnt. Noch eine Hürde, noch ein weiteres Problem. Aber lösbar.
Er bekommt von Birthe Schmidt einen weiteren Termin, vier Wochen später im Juni. Bis dahin gibt es vielleicht schon eine Nachricht von der Ausländerbehörde.
Schon wieder warten. Vier Jahre geht das jetzt schon. Und jetzt soll er schon wieder Geduld haben. Zaghaft protestiert er.
"Das hat alles schon so lange gedauert, so lange. Ich bin seit vier Jahren getrennt von meiner Familie. Das ist schwer für mich."
"Shumay, das weiß ich und wenn ich könnte, ich würde alles dafür tun, dass es etwas schneller geht, aber das sind Gesetze und die müssen eingehalten werden."
Shumay nickt, packt seine Papiere in den roten Rucksack. Was bleibt ihm übrig, als Frau Schmidt und den Behörden zu vertrauen, freundlich zu bleiben, auf einen positiven Bescheid zu warten.
Vier Wochen später, im Juni, kommt Shumay wieder. Er stellt sein Fahrrad vor dem Beratungszentrum ab, geht mit seinem roten Rucksack die Treppen hoch. Mittlerweile hat sich die Rechtslage geändert. Unter dem Druck der AfD verhandelt die große Koalition intensiv über das Thema Flüchtlinge und Familiennachzug. Dabei sind gerade subsidiär schutzbedürftigen Menschen wie Shumay in den Fokus geraten, einfach, weil man den Zuzug ihrer Familien beschränken kann. Seit August soll das Tausender Kontingent gelten, das heißt: Jeden Monat dürfen maximal Tausend Familienangehörige kommen. Beim Bundesverwaltungsamt liegen bereits 23.000 Anträge vor. Birthe Schmidt erklärt Shumay, was das für ihn bedeutet.
"Man kann sich ja dann ausrechnen, wenn ab heutigen Datums bereits 23.000 Anträge vorliegen, wie lange ein Migrant warten muss, der hier schon zwei, drei Jahre lebt, bis die Familie dann bei ihm ist."
Shumay muss – wenn alle Papiere anerkannt werden – also noch mindestens 23 Monate warten, bis er seine Familie nach Deutschland holen kann. Ein Dämpfer. Aber immerhin eine Perspektive. Shumay bleibt zuversichtlich.
"Ich finde es gut, das zu wissen, ich warte, und wenn diese 1000 pro Monat kommen dürfen, dann hoffe ich, dass auch meine Familie irgendwann kommt."

Shumay muss noch mindestens zwei Jahre warten

Es ist jetzt Sommer und Shumay fasst einen Entschluss: die Drei-Zimmer-Wohnung, die er für seine Familie gemietet hat, damit sie kommen kann, wird er kündigen. Die Miete ist zu teuer für ihn allein auf so lange Zeit. Zwei Jahre mindestens wird es noch dauern, bis Frau und Tochter kommen können. Er zieht in ein WG-Zimmer. Hilfe bekommt er wieder von der ehrenamtlichen Initiative in Lindow.
Leere Ecke in einem Zimmer
Hier stand das Kinderbett. Shumay hat es abgebaut. © Gerhard Richter
An einem warmen Samstag im Juli kommen Helfer in Latzhosen, parken ihr Auto mit Hänger vor dem Aufgang und schleppen Shumays Sachen die Treppen hinunter. Die gespendeten Möbel spendet er weiter. Bett, Schrank, Stehlampen, Sofa. Nimmt nur das Nötigste mit. So schnell wie gehofft, wird das nichts mit dem Familienleben. Schade findet Katrin Davies, die ebenfalls beim Umzug hilft.
"Die Schule ist um die Ecke, der Kindergarten ist um die Ecke, in Lindow gibt es Kindergartenplätze, in Lindow könnten sie sofort in die Schule gehen, die Schulleiterin in Lindow ist sehr ausländerfreundlich und sehr, sehr liebevoll . Ja, das hat sich jetzt so entwickelt, was soll man machen, jetzt monatelang die teure Wohnung tragen, ist einfach nicht zumutbar."
Katrin Davies ist 60 und hat graue Locken. Die umtriebige Kauffrau betreibt Ferienwohnungen, arbeitet als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache und hilft Shumay und den anderen Eritreern in der Gegend. Sie hat schon über 20 von ihnen Jobs, Ausbildungsplätze und Praktika vermittelt. Und sie fühlt sich wohl in deren Community.

Das Kinderbett wird weggeräumt

"Also die Eritreer sind sehr, sehr sozial, die leben eigentlich immer zusammen, sind auch gewohnt mit großen Familien zusammen zu leben, zusammen zu kochen und zusammen zu essen. Und sich zu helfen. Da ist eine große Kameradschaftlichkeit, fast Brüderlichkeit. Und das ist sehr schön, das gibt den jungen Leuten einfach auch Halt."
Einer der anderen Eritreer ist Fte Woldemarsam. Auch er hilft Shumay, zerlegt eine Kommode in Einzelteile. Fte ist schlank und schlaksig. Seine schwarzen Locken trägt er wie Shumay an den Seiten kurz und oben hoch. Er ist vergnügt, schaut ab und zu nach seinem Sohn Nuftalem, der mit seinen anderthalb Jahren zwischen den Möbeln herumspielt. Fte ist ebenfalls aus Eritrea geflüchtet, sah keine Zukunft in seinem Land.
"Wir haben einen Diktator, keinen Frieden. Deshalb sind wir nach Deutschland gekommen."
Fte ist mit seiner Lebensgefährtin hier, er und Hadas waren in Eritrea Nachbarskinder, haben zusammen gespielt. Hadas erinnert sich:
"Als ich klein war, neun Jahre alt, kam er zu meiner Wohnung. Ich habe mit ihm und meinem Bruder gespielt. Und als ich zwölf Jahre wurde, da er hat mich gefragt und ich habe gesagt: Ok, ich liebe dich."
Die Kinderliebe hat Bestand, Fte und Hadas bleiben ein Paar. Als sie erwachsen sind, beschließen sie, aus Eritrea zu flüchten. Zuerst Fte. Über Äthiopien, den Sudan, Libyen, dann mit dem Boot über das Mittelmeer gelangt er nach Italien. Hadas folgt ihm über dieselbe Route, beide haben Glück, überleben die Strapazen und treffen sich in Deutschland wieder. Hier kommt ihr Sohn zur Welt. Eine glückliche Familie. Und das ohne Trauschein. Dass Shumay alleine ist, finden beide traurig.
"Shumay hat ganz viel Stress, weil ohne Frau, ohne Kinder, das geht nicht."
"Alleine ist weinen, ist denken. Ohne Familie ist ganz schlecht."
Fte muss los, sein Job ruft. Er arbeitet im Drei-Schichtsystem, montiert Räder und Deckel an Mülltonnen. Die Firma exportiert ihre Mülltonnen in die ganze Welt, auch nach Afrika. Fte schüttelt den Kopf. Mülltonnen dürfen problemlos nach Afrika geliefert werden, aber Shumays Frau darf nicht nach Deutschland kommen. Hätten sie und das Kind 10.000 Euro für Schlepper bezahlt, hätten sie monatelang ihr Leben riskiert, wären sie in ein überfülltes Boot gestiegen, dann wären sie vielleicht hier. Aber Shumays Frau und seine Tochter vertrauen auf den sicheren Familiennachzug, warten in Addis Abeba auf das Visum. Ein Flug hierher kostet 500 Euro, dauert gerade mal zehn Stunden.
Shumay zeigt auf einen leeren Fleck im Kinderzimmer: "Das war das Kinderbett."
Das Kinderbett nimmt er mit, zerlegt in Teilen, eingepackt für eine ungewisse Lagerzeit im Keller. Er hat gelernt: Behörden arbeiten langsam. Viel zu langsam, findet Katrin Davies.
"Also in dem Moment, wo klar ist, dass Leute in Deutschland bleiben dürfen, eine Bleibestatus haben und klar ist, dass die Familie nachrücken darf, also wenn das schwarz auf weiß vorliegt, dann müssten die deutschen Behörden alles Mögliche tun, das so schnell wie möglich über die Bühne gehen zu lassen. Ich meine, es sagt niemand was, wenn das zwei, drei Monate dauert, aber anderthalb Jahre, das ist lächerlich, das ist grotesk."

Terminprobleme bei der deutschen Botschaft in Addis Abeba

Damit es schneller geht, unterstützt Katrin Davies Shumay nicht nur beim Umzug, sie hilft ihm auch, den DNA Test zu machen: auch das ein kompliziertes Prozedere. Die Uni Köln verschickt entsprechende Probensets für die Speichelproben. Für Shumay nach Lindow und für Frau und Kind nach Addis Abeba.
"Wir haben hier im Neuruppiner Klinikum den Test gemacht, der Klinikleiter war sehr hilfreich, sehr sympathisch auch, hat uns geholfen, den Speicheltest zu machen und den dann weggeschickt. Dann hat die Uni Köln gleichzeitig das gleiche Probenarrangement nach Addis Abeba geschickt, damit seine Frau und seine Tochter den Test machen können."
Shumays Frau war selbst in der Botschaft in Addis Abeba und wollte den Test machen. Einfach damit es schneller geht, erzählt Katrin Davies.
"Da wurde ihr aber auch nur gesagt, sie möge warten, ihr würde ein Termin mitgeteilt."
Seitdem ist nichts passiert. Es ist jetzt August, seit Mai liegt der DNA-Test vor und Shumay wartet auf Antwort. Ich schalte mich als Reporter ein und schreibe an die Pressestelle der Botschaft in Addis Abeba. Die Botschaft antwortet, in Addis Abeba müssen derzeit viele solcher Verfahren bearbeitet werden. Seit Sommer 2017 ist dort ein Mitarbeiter zusätzlich angestellt, das Auswärtige Amt schickt auch zeitweilige Verstärkung, um die Menge der Anträge zu bearbeiten.
Tatsächlich sind die Heiratsurkunden ein Kernproblem, da Nachforschungen in Eritrea, wo die Urkunden ausgestellt wurden, nicht möglich sind. Daher, schreibt die Botschaft:
"Sind neben den bereits erwähnten DNA-Gutachten eingehende Befragungen der Antragsteller erforderlich. Im weiteren Verfahren ist dann noch eine umfangreiche Abstimmung mit den Ausländerbehörden in Deutschland erforderlich, die der Visumerteilung zustimmen müssen. Dies alles führt dazu, dass die Bearbeitung von Visumanträgen von Familienangehörigen eritreischer Schutzberechtigter leider sehr zeitaufwändig ist."

Familienleben per Skype

Shumay richtet sich in seinem neuen Zimmer ein, er wohnt jetzt in einer Zwei-Raum Wohnung mit einem Landsmann. Der macht gerade Deutschkurs. Abends kochen sie zusammen. Essen im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer. Eine Sitzgarnitur, ein Couchtisch, ein Schreibtisch. An den Wänden zwei Bilder von eritreischen Heiligen und in der Ecke ein Schimmelfleck.
Das wichtigste Utensil ist das Handy. Darauf hat er nicht nur die Musik der Heimat gespeichert, fast jeden Abend telefoniert Shumay mit seiner Frau und seiner Tochter.
"Sie ist schon groß, sie kennt mich nicht. Sie redet nicht einfach so mit mir. Sie sagt nur hallo und so. Sie kennt mich ja nur vom Telefon."
Er merkt, dass sie sich immer fremder werden. Seine Tochter geht jetzt in Äthiopien zur Schule, nur ein paar Stunden die Woche. Für mehr reicht das Geld nicht, das er jeden Monat für Miete und Essen schickt, und schließlich sind sie in Addis Abeba auch nur auf Abruf. Shumay sagt, seine Tochter will nicht mehr so viel mit ihm reden. Sie ist jetzt fünf und hat die letzten vier Jahre mit ihm nur noch telefoniert. Keine Umarmung, keinen Gute-Nacht-Kuss, eine verpasste Kindheit.
Es vergehen Tage und Wochen. Immer noch keine Antwort von der Botschaft. Auch seine Frau wartet noch auf einen Termin für den DNA-Test. Täglich geht Shumay zur Arbeit, schält Kabel oder schneidet mit der Hydraulikschere armdicke Eisenrohre in handliche Stücke. Auch Matthias Köppen merkt, dass Shumay traurig ist, auch wenn er versucht sich nichts anmerken zu lassen. Köppen zeigt Shumay wie man den Gabelstapler fährt. Das lenkt ab. Shumay lernt schnell, kennt bald alle Hebel.
"Das ist Kupplung, Bremse, Gas. Und hier geht es hoch, runter, nach vorne und nach hinten. Und das ist auskippen."
Shumay macht sogar den Gabelstaplerschein, darf jetzt auch offiziell Gabelstapler fahren. Köppen schaut zu, wie Shumay tonnenschwere Container durch die Halle manövriert. Natürlich weiß er, dass Shumay in Gedanken woanders ist, immer noch auf Antwort von der Ausländerbehörde wartet.
"Ich bewundere die Leute immer, wie die so ruhig bleiben können. Ich gehe jetzt mal von mir persönlich aus, wenn man mal so mit Ämtern zu tun hat. Wie schwierig das schon als Deutscher ist, der die deutsche Sprache beherrscht, zu verstehen, was die von einem wollen. Jetzt versuche mal einen Flüchtling zu verstehen, der das nicht mal richtig lesen kann, und dann kriegen die keine Antworten über Monate, über Jahre. Und der ist immer freundlich, immer, trotzdem. Der hat mit Sicherheit Sorgen, richtige Sorgen. Ich wäre da schon auf den Tisch gesprungen. Also ich bin da emotional, ich kann mich dann hinstellen und mal heulen und ich kann mich auch hinstellen und mal schreien. Dürfen die sich gar nicht erlauben. Einmal schreien - dann ist es gleich der böse Flüchtling. Ganz schlimm. Also ich bewundere das, wie die ihr Leben in den Griff kriegen."

Der Chef will seinen Mitarbeiter nicht verlieren

Köppen setzt sich weiter für seinen einzigen Mitarbeiter ein. Er will ihn nicht verlieren, hilft ihm durch den Alltag. Damit Shumay nicht länger auf den Bus und das Fahrrad angewiesen ist, will er, dass Shumay den Führerschein macht.
"Es ist natürlich immer ein großes, großes Abenteuer, wenn ich versuche Leute zu finden, die überhaupt so einen Immigranten nehmen wollen. Ich habe selbst bei der Fahrschule angerufen, ich habe geglaubt, ich spinne. Die sagen dir wirklich, lass die Zuhause mit den Eseln reiten, aber nicht bei mir."
Köppen hat nicht aufgegeben, hat alle Fahrschulen der Gegend angerufen. Bis er eine gefunden hat, für die es ganz selbstverständlich war, Leuten das Autofahren beizubringen, egal woher sie kommen.
"Sobald du sagst, das ist ein Flüchtling – zu 90 Prozent gehen die Rollläden runter. Ist eigentlich traurig. Alle werden einfach über einen Kamm geschoren. Jeder ist schlecht. Ich habe - sage ich ganz ehrlich - noch keinen schlechten kennengelernt. Und er ist ein ganz besonderer Mensch und Typ, also sowas finde ich unter Deutschen gar nicht mehr hier. Also jedenfalls für unseren Arbeitsprozess."
Es ist Oktober. Im Briefkasten von Shumay liegt Post. Die Ausländerbehörde schreibt: Shumays Antrag ist abgelehnt. Das ist auch der Grund, warum seine Frau gar nicht erst zum DNA-Test eingeladen wurde. Die Nachricht spricht sich herum, abends treffen sich Freunde und Unterstützer bei Shumay zu Hause. Er soll jetzt nicht allein sein. Hadas schneidet Salat, kocht N´dschera, ein eritreisches Gericht aus Zwiebeln, Öl, Tomaten und Schafshack. Fte holt Teller. Der kleine Nuftalem turnt auf einem Schreibtischstuhl herum.

Eine Welt bricht zusammen

Auch Matthias Köppen ist da, sichtlich betroffen.
"Da bricht schon immer so eine Welt zusammen. Da hat er solange drauf gewartet, und wir haben alles zurückgeschickt. Und vor einem Tag noch sage ich: 'Bald kommt ja deine Frau und ich möchte dein Kind kennenlernen.' Und dann kam er so traurig an. Das tut weh."
Shumay sitzt niedergeschlagen auf dem Sofa. Über ihm die Gesichter der Heiligen. Katrin Davies ist wütend auf die Regierung.
"Das ist eine Unverschämtheit - die deutsche Regierung probiert so, den Familiennachzug zu blockieren. Das ist eine Absicht, die dahintersteckt. Das ist nicht zufällig, das ist eine Absicht!"
Die Ausländerbehörde erkennt Shumays Erklärung nicht an, eine standesamtliche Heiratsurkunde sei in seiner Region nicht üblich. Das ärgert Katrin Davies, weil mittlerweile bekannt ist, dass es Tausenden Eritreern so geht. Sie hält das für rechtlich nicht haltbar.
"Insofern ist es praktisch eine reine Unmöglichkeit, dass er dieses amtliche Dokument beschafft. Und das ist die Lächerlichkeit der Geschichte, dass die Bundesregierung verlangt, dass er ein Dokument beschafft, was er nicht beschaffen kann. Und deshalb werden wir jetzt rechtliche Wege gehen, ich hab schon mit dem Rechtsanwalt gesprochen. Ich habe morgen Nachmittag einen Termin."
Shumay hebt den Blick vom Boden. "Wie lange dauert das, weiß er das? Der Rechtsanwalt?"
"Doch er hat das ja schon mal gemacht, er hat Erfahrung, hat er schon viel gemacht, ist sein Spezialgebiet, Familiennachzug. Der wird sagen können, ein halbes Jahr, vier Monate, drei Monate, der wird sagen, wie lange das dauern wird."
Matthias Köppen und Shumay  halten gemeinsam eine Gitarre
Musik als Trost - Matthias Köppen und Shumay © Gerhard Richter
In der Wohnung sammelt sich jetzt die eritreische Community. Zehn Eritreer wohnen in dem gesamten Block. Shumay rollt Teigfladen und stapelt sie auf einem Teller. Wie immer wirkt er ruhig und gelassen. Seine Landsleute fangen ihn auf, scharen sich wie eine Familie um Shumay, der immer noch auf seine eigene wartet. Jetzt warten wir nicht mehr, sagt Katrin Davies, jetzt kämpfen wir. Mathias Köppen hat seine Gitarre mitgebracht, will die Stimmung aufhellen.
"Und wir beide versuchen jetzt weltberühmt zu werden mit unserer Musik und bis nach Äthiopien zu kommen. Und Shumays Familie dann mitzunehmen im Koffer, das ist der Plan!"
Das Lied "Wir werden Freunde" haben Köppen und Shumay in den Arbeitspausen öfter schon geübt. Jetzt sitzt Shumay zusammengesunken auf dem Sofa, der Textzettel in seiner Hand zittert. Alle freuen sich über das Lied. Aber jeder im Raum spürt, dass etwas fehlt.
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