Präventionstraining der Bundespolizei

"Piratenangriff!" – Kapitäne proben den Ernstfall

07:28 Minuten
Schutzdraht zur Abwehr von Piraten an einem Schiff vor Somalia.
Mit Stacheldraht gegen Piraten: In Neustadt lassen Reeder für Kapitäne einen Überfall auf hoher See simulieren. © imago / Design Pics / Chris Bradley
Von Kathrin Bohlmann · 10.04.2019
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Mindestens 200 Piratenangriffe hat es 2018 gegeben, vor allem vor Westafrika. Die Dunkelziffer gilt als hoch. Einmal im Jahr bietet die Bundespolizei ein Präventionstraining für deutsche Reedereien an – und simuliert eine Attacke.
An Bord des ausgemusterten Marineschiffes Köln sitzen 15 Mitarbeiter – Männer und Frauen – deutscher Reedereien aus Hamburg, Bremen, Leer und Rostock zusammen. Sie sind verantwortlich für die Sicherheit ihrer Schiffe.
Hochkonzentriert folgen sie dem Vortrag eines Psychologen. Es geht um Sicherheitsmaßnahmen und Abwehrtechniken. Noch ahnen sie nicht, was gleich passieren wird. Dann wird es plötzlich laut.
"Piratenangriff!", wird gemeldet. "Kapitän. Alle in die Zitadelle."
Etwas überrascht, aber ruhig stehen die Reedereimitarbeiter auf, gehen zügig durch die engen Gänge des Schiffes und klettern eine Leiter hinunter, immer tiefer ins Schiffsinnere, bis zur sogenannten Zitadelle, einer Schutzkammer. Sie ist klein, abschließbar und vor allem lassen ihre Wände keine Schüsse durch.

Notruf aus der Zitadelle

Hier ist die Crew erst einmal sicher. Kursteilnehmer Holger Michel, von Beruf Kapitän, hat ein Funkgerät mitgenommen – auch in der Zitadelle hat er das Kommando. Er setzt einen Notruf ab:
"Das ist die Köln. Die Besatzung ist in der Zitadelle. Wir sind von Piraten überfallen worden. Wie viele das sind, wissen wir nicht. Nach den Geräuschen zu urteilen, sind sie bewaffnet. Wir schätzen, es sind acht bis zehn."
Die Ex-Fregatte "Köln" liegt am 15.07.2013 im Hafen von Neustadt (Schleswig-Holstein).
Die ehemalige Bundeswehr-Fregatte "Köln" im Hafen von Neustadt© picture alliance / dpa / Markus Scholz
Die Crew bleibt ruhig. Auffallend: Alle verhalten sich gleich. Sie bleiben eng zusammen, stehen mit dem Rücken an der Wand, fixieren die Tür. Dort steht auch der Kapitän. Keiner registriert, dass noch weitere Räume und Türen von der Kammer abgehen. Immer wieder nimmt Kapitän Michel per Funk Kontakt zur Außenwelt auf.
"Köln hier. Situation bitte, wie ist es mit den Rettern?"
"Rescue Team mit Special Forces ist unterwegs. Ankunft in zirka zwei Stunden."

Schüsse draußen, Schläge zu hören

Nun fangen die Zitadellengefangenen doch an, nervös zu lachen. Immer wieder fallen Schüsse in der nachgestellten Situation. Schläge sind zu hören. Dann geht auch noch das Licht aus, vermeintliches Gas – Trockennebel – strömt in die Kammer.
Von hier aus ist zu hören, wie sich die Piraten vor der Tür in einer fremden Sprache unterhalten. Offenbar wollen sie sich mit einer Säge Zutritt verschaffen. Die Geräusche und Stimmen kommen von Band, Bundespolizisten spielen die Piraten. Sie haben Maschinengewehre mit Platzpatronen. Zu sehen sind sie nicht.
Nach knapp einer Stunde ist alles vorbei. Die Crew wird von einem Einsatzkommando gerettet.
"Können sie mal bestätigen, dass die Special Forces da ist, die Italiener?"
"Ja, sie sind da."
Spürbar erleichtert verlassen die Reedereimitarbeiter die Zitadelle.

Ruhig geblieben

Jan Labetzsch, Leiter des Piraten-Präventions-Zentrums im schleswig-holsteinischen Neustadt, hat die Übung verfolgt und ist mit dem Ergebnis zufrieden. Die Gruppe ist ruhig geblieben.
"Je nachdem wie sich die Gruppe zusammensetzt, entwickelt sich eine gewisse Gruppendynamik. Manche Gruppen nehmen das sehr spaßig, andere sind sehr ruhig. Wir hatten auch schon Gruppen, die angefangen haben, Rohre abzubauen, um sich zu bewaffnen. Das ist eine große Bandbreite an Gruppendynamik, die sich entwickelt und über die man sich im Nachgang dann vortrefflich unterhalten kann."
Polizeipsychologe Markus Schmidt hat die Teilnehmer auf den simulierten Piratenüberfall an Bord vorbereitet. Während der Übung hat er die Zitadelleninsassen von außen durch eine geheime Luke beobachtet. Hätte sich jemand auffällig verhalten oder unwohl gefühlt – er hätte eingegriffen.

Psychologische Effekte

Im Nachhinein bespricht der Psychologe mit den Reedereimitarbeitern die Situation in der engen Schutzkammer.
"Die Übung ist deswegen wichtig. Das ist auch der Grund, warum wir angefangen haben, die irgendwann einzubauen, um die für die Sicherheit Verantwortlichen der Reedereien ein Stück weit zu sensibilisieren. Und das geht über Powerpoint-Vorträge nur begrenzt gut. Wir haben uns dann überlegt, dass es mal ganz gut wäre, minimal die Situation zu erfühlen, um dann tatsächlich das miteinander hinterher zu besprechen, was man dort erlebt hat; und selber mal zu merken, wie schnell ganz bestimmte psychologische Effekte einen selber ereilen und man damit arbeiten muss."
Schmidt warnt, oft sei die Schiffscrew bunt zusammengewürfelt aus vielen Nationen und Charakteren. In einer Krisensituation wie einem Piratenüberfall muss sie zusammenhalten. Ausreichend Lebensmittel, Wasser, Decken, Taschenlampen, eine Toilette müssen in der Zitadelle sein.

Nur eine Stunde Simulation

Der simulierte Piratenüberfall hat nur eine Stunde gedauert. Ein echter Angriff mit anschließender Geiselnahme kann Wochen und Monate dauern. Das ist auch den Reedereimitarbeitern bewusst. Öffentlich sprechen wollen sie nicht darüber. Der Polizeipsychologe aber merkt, dass sie es ernst nehmen:
"Wir nehmen hier wahr, dass die Reedereien sehr offen sind, was das Thema betrifft, sich Sicherheitsexperten anzuhören und Ideen mitzunehmen. Sie versuchen, die in ihrem individuellen Bereich umzusetzen. Das sind Logistikunternehmen, die internationalen Wettbewerb untereinander haben und wo natürlich auch Sicherheit ein ganz, ganz zentrales Element ist, was aber eben auch kostet. Und dementsprechend finde ich es auch gut, dass man den Anspruch merkt, dass man eine gute Lösung finden möchte, weil man keine Zeit zum Experimentieren hat."

Große Brutalität

Kapitän Holger Michel fährt seit mehr als 40 Jahren zur See und hat bisher Glück gehabt. Er ist nicht von Piraten überfallen worden. Aber er weiß: Die Gefahr ist groß, vor allem vor der Küste Nigerias:
"Das ist eine Katastrophe, weil es da sehr gefährlich ist. Das ist schon eine Sache, die überhaupt gar nicht gut ist. Und die Brutalität ist erfahrungsgemäß – was man so von Kollegen gehört – weitaus höher als die, die jemals in Somalia vorgeherrscht hat."
Somalische Piraten hatten viele Jahre lang immer wieder Handelsschiffe überfallen, Geiseln genommen, um Lösegelder zu erpressen. Mittlerweile ist die Piratengefahr vor Westafrika viel größer.
Die modernen Piraten haben keine Augenklappe mehr. Manchmal tragen sie tatsächlich noch ein Kopftuch. An Brutalität haben sie über die Jahrhunderte nichts verloren. Vor vier Wochen haben Piraten vor Nigeria ein Schiff überfallen. Sie wollten die Besatzung als Geisel nehmen, um Lösegeld zu fordern, berichtet Bundespolizist Jan Labetzsch. Es sei zum Kampf gekommen. Die Folge: Sieben Tote.

Einziges Ziel ist das Überleben

Seit neun Jahren bietet die Bundespolizei in Neustadt in Schleswig-Holstein das Piraten-Präventions-Training an. Anfangs wurde noch über Schutzkammern an Bord diskutiert, da sie Geld kosten, berichtet Bundespolizist Labetzsch. Heute hat fast jedes Schiff so eine Zitadelle. Denn die Reedereien haben begriffen: Bei einem Piratenangriff, geht es einzig und allein ums Überleben.
Kapitän Holger Michel fand die Übung der Bundespolizei in Neustadt gut, übt aber auch Kritik:
"Das war ganz brauchbar", sagt er. "Obwohl ich das persönlich nicht als Zitadelle ansehe: Viel zu klein, falsch ausgerüstet. Es hätte nie passieren dürfen, dass da Gas einströmt. Da ist eine Klimaanlage drin, die muss raus. Aber ansonsten, von der Geräuschtechnik her, ist es schon enorm, ja. Das muss man schon erlebt haben. Das hätte ich mir so auch nicht vorgestellt."
Und der Kapitän ahnt: Bei einem echten Piratenangriff wäre die Besatzung nicht so ruhig geblieben, weil die Angst einfach so groß ist.
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