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Deutscher Pflegenotstand
Gute Fachkräfte aus Mexiko?

Weil es in Deutschland an Pflegekräften mangelt, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Personal im Ausland anwerben. Zum Beispiel in Mexiko. In dem Schwellenland herrschen völlig andere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen als in Deutschland.

Von Ann-Kathrin Mellmann | 25.11.2019
Teresa Guzman steht im Garten der Senioren-Residenz Los Aguilas
Die Krankenpflegerin Teresa Guzman arbeitet in einer mexikanischen Senioren-Residenz (ARD / Ann-Kathrin Mellmann)
Die Kranken- und Altenpflegerin Marta Alcocer musste sich noch nie Arbeit suchen. In 30 freiberuflichen Jahren sei sie immer empfohlen oder angefragt worden.
"Es fing an, weil ich meine kranke Mutter pflegte: Uns trennte nur eine Straße vom Viertel der Reichen. Jeden Tag schob ich meine Mutter im Rollstuhl durch die Straße, damit sie die prächtigen Anwesen gegenüber sehen konnte. Eines Tages sprach mich eine Frau aus einem dieser Häuser an: Ob ich professionelle Pflegekraft sei. Meine Mutter sehe so gepflegt und hübsch zurechtgemacht aus. Als meine Mutter gestorben war, überzeugte mich die Frau von einer Ausbildung, damit ich mich um ihre Mutter kümmern konnte. Sie bezahlte die Kurse, ich lernte die Grundlagen."
Damit war der Grundstein für Martas Laufbahn gelegt. Die sportliche 50-Jährige hat so wie die meisten ihres Fachs keinen Abschluss, arbeitet aber in Privathäusern als Krankenschwester und Pflegerin. Nie waren ihre Patientinnen jünger als 80.
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Keine Verträge, keine Rechtssicherheit, keine Gewerkschaften
Derzeit betreut sie in Mexiko-Stadt eine 87-jährige, die seit einigen Monaten ein Pflegefall ist. Rund um die Uhr, von Montagfrüh bis Samstagfrüh, umsorgt Marta Alcocer die Frau, hält die Familie in einer Chatgruppe auf dem Laufenden, kocht nach Diätplan, steht in der Nacht bis zu vier Mal auf, um die halbseitig Gelähmte auf die Toilette zu bringen.
Sie wohne gern bei ihrer Patientin, sagt Alcocer. So spare sie sich fünf Stunden Hin- und Rückfahrt in ihren Vorort, die Kosten dafür und laufe nicht Gefahr, im Bus überfallen und ausgeraubt zu werden. Ihr Monatsverdienst beträgt etwa 750 Euro. In Mexiko ist das ein gutes Einkommen, allerdings sind Sozial- und Krankenversicherung nicht enthalten.
Das ist zwar weit mehr als ein Krankenhaus bezahlen würde, aber etwa ein Drittel weniger, als sie noch vor fünf Jahren verdienen konnte: "Die Leute wollen einfach nicht mehr für Arbeit bezahlen. Ich musste mir sogar schon anhören: Was machst du denn schon? Du kannst den ganzen Tag sitzen. Du musst sie ja nur waschen, ja nur für sie da sein. Das ist doch nichts. Aber ich verbringe 24 Stunden bei den Patienten. Als ich bei dieser Frau anfing, war sie völlig außer Kontrolle und schlief nachts nicht. Also schlief ich auch nicht. Sie konnte auch tagsüber nicht schlafen, also galt das auch für mich."
Für Pflegerinnen wie Marta Alcocer gibt es keine Verträge, keine Rechtssicherheit und keine Gewerkschaften, die sich für sie einsetzen. Diese Art von Arbeit basiert auf Vertrauen und Empfehlungen: Gute Pflegekräfte werden meist innerhalb der großen Familien weitergereicht. Wenn die Bedingungen gut seien, sagt Marta, würde sie zum Arbeiten in ein anderes Land wie Deutschland gehen – wenn auch nicht für immer, weil sie ihre Familie nicht verlassen könnte.
Alte und Kranke bleiben selten ganz allein
Frauen wie Alcocer sind harte Arbeit gewöhnt und geben alles, vor allem: viel Zuneigung und Wärme. Je liebevoller und geduldiger die Pflegerinnen mit den Alten und Kranken umgehen, umso begehrter sind sie. Darauf wird in Mexiko großer Wert gelegt, wenn sich die Angehörigen selbst nicht kümmern können oder wollen. Weil die Familien in der Regel groß sind, bleiben Alte und Kranke selten ganz allein. Falls doch, brauchen sie ein Vermögen für private Pflegeheime.
Die 78-jährige Lidia Vasquez hat keine Angehörigen und ist nach einem Schlaganfall in ein Heim gezogen. Ihr Klavier konnte sie mitnehmen. Täglich übt sie einige Stunden – und erfreut damit die anderen nur sieben Bewohner der Residenz Los Aguilas sowie die fünf Angestellten.
Darunter sind die beiden Krankenpflegerinnen Leticia Pérez und Teresa Guzman. Beide haben nach mehrjähriger Berufsausbildung in staatlichen und privaten Kliniken gearbeitet und wurden von der Heimchefin abgeworben. Für beide ein Glücksfall, weil es in Mexiko viele arbeitssuchende Krankenschwestern gibt.
Porträt der mexikanischen Krankenpflegerin Leticia Pérez
"Deutschland würde ich gern kennenlernen", meint die mexikanische Krankenpflegerin Leticia Pérez (Anne-Katrin Mellmann)
In der Seniorenresidenz seien die Arbeitsbedingungen besser, sagt Teresa Guzman. Auch verdienten sie mehr als vorher – so wie Freiberuflerin Marta Alcocer etwa 750 Euro im Monat, allerdings mit Renten- und Krankenversicherung. In Mexikos unterer Mittelschicht gilt das als gutes Einkommen.
"Hier besteht die Arbeit hauptsächlich aus dem, was eine Krankenschwester zu tun hat, also die Medikamente geben und den Zustand der Patienten kontrollieren. Wir sind hier viel näher am Menschen als im Krankenhaus. Wenn ein Patient dort ein Problem hat, ruft er sofort den Arzt. Hier spricht er zunächst uns an, und wir rufen dann einen Arzt, wenn das nötig ist. Die Beziehung ist viel enger und persönlicher. Im Krankenhaus hilfst du, gibst Medikamente, wechselst Windeln, hast aber wenig Kontakt zum Patienten. Hier macht man alles: auch waschen und füttern. Ich empfinde die Arbeit als weniger anstrengend. Und die Patienten sind entspannter."
Ein an Migration gewöhntes Land
Die beiden warmherzigen und zugleich resoluten Krankenpflegerinnen sind spezialisiert auf demenzkranke, ältere Patienten. Diese Arbeit könnten sie sich für eine Zeitlang auch in einem anderen Land vorstellen, meint die geschiedene, kinderlose Leticia Pérez: "Das wäre sehr aufregend und würde mir gut gefallen. Deutschland würde ich gern kennenlernen. Das wäre eine Herausforderung, die ich gern annehmen würde. Auch die Sprache zu lernen – mit Vergnügen."
Mexiko sei ein an Migration gewöhntes Land, ergänzt ihre Kollegin Teresa Guzmann: "Die meisten Mexikaner gehen zum Arbeiten in die USA, weil die nahe sind. Aber wenn es die Möglichkeit gäbe, mit der Sicherheit einer richtigen Anstellung in ein Land weiter weg zu gehen, würden die Leute das tun. Sie könnten eine neue Kultur kennenlernen und Geld zurücklegen. Hier sind Dollars und Euros mehr wert: Die Mexikaner, die für eine Zeit in den USA arbeiten, bauen hier mit dem Geld ihr Häuschen, kaufen ein Stück Land oder eröffnen ein Geschäft. Das ist weit verbreitet. Aber in den USA müssen die Menschen Verfolgung befürchten, wenn sie keine gültigen Papiere haben. Wenn sie nun aber mit einer Arbeit, zum Beispiel als Pflegekraft gehen könnten – das wäre wunderbar."
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