Potenziell verstörende Inhalte im Netz

Ausblenden beseitigt das Problem nicht

Bild des ertrunkenen Jungen aus Syrien an einem türkischen Strand. Darüber: WARNUNG Das folgende Bild kann den Betrachter eventuell verstören.
Im Internet ist der Hinweis auf verstörendes Bildmaterial schon alltäglich. © picture alliance / dpa / DOGAN NEWS AGENCY / Nilüfer Demir
Von Simone Schmollack · 05.09.2018
Aus den USA kommt der Trend, vor potenziell brutalen Inhalten im Internet zu warnen oder sie auszublenden. Zu viele dieser Triggerwarnungen könnten eine offene Debatte gefährden, meint Journalistin Simone Schmollack.
Haben Sie "Das Parfüm" von Patrick Süskind gelesen, diese mehr als 20 Millionen Mal verkaufte Geschichte eines Mörders? Bestimmt. Der Roman gehört mittlerweile zum Kanon moderner deutscher Literatur. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie lasen, dass Hauptheld Jean-Baptiste Grenouille ein rothaariges Mädchen erwürgt und den Duft ihres Körper förmlich in sich hineinsaugt? Haben sie begierig weiter gelesen, weil die präzise Sprache des Autors tiefe Emotionen auslöst und Sie das für große Kunst halten? Oder haben Sie gedacht: Nee, das ist ja blanker Horror, warum hat mich mein Buchhändler nicht davor gewarnt?
Zugegeben, Gewaltbeschreibungen sind brachial. Das liegt in der Natur der Sache. Und zugegeben, nicht jede und jeder erträgt das. Beispielsweise Menschen, die selbst Opfer von Gewalt geworden sind. Sie kann die Darstellung grausamer Szenen schmerzhaft an die eigenen Erlebnisse erinnern. Sie werden dann getriggert, wie man heute so schön sagt. Davor wollen sie berechtigterweise gewarnt werden.

Ovids "Metamorphosen" als sexuelle sexuelle Nötigung?

In manchen Medien gibt es das bereits. Amerikanische Nachrichten-Webseiten warnen vor ihren eigenen Inhalten. Und soziale Netzwerke können verstörende Inhalte sogar auf Knopfdruck ausblenden. Aber was bedeutet das für unsere Debattenkultur?
Zunächst einmal den Schutz von Menschen, die unvorbereitet auf Darstellungen treffen, die bei ihnen traumatische Erinnerungen auslösen. Ein wichtiger Schutz, denn jedes Gewaltopfer verdient den uneingeschränkten Beistand der Gesellschaft.
Was aber tun mit Erzählsträngen wie jenem in Süskinds "Parfüm"? Mit Historiengemälden wie dem "Raub der Sabinerinnen"? Allesamt mit Triggerwarnungen überziehen? In den USA passiert das bereits. In einigen Unis wurde lange über Triggerwarnungen zu Ovids "Metamorphosen" debattiert. Die wilde Lust der Götter galt manchen als sexuelle Nötigung. Andere Studierende wollen auf Gewaltdarstellungen in Geschichtsseminaren über Kriegsthemen vorbereitet werden.
Die Empfindsamkeit gegenüber menschlichen Bedürfnissen ist zuletzt stark gestiegen. Das ist großartig. Zeigt diese Entwicklung doch, wie wandlungs- und anpassungsfähig unsere Gesellschaft ist - und wie sensibel gegenüber vulnerablen Gruppen.

Details sind wichtig für die Debatte

Wenn aber von Medien künftig verlangt würde, bei der Berichterstattung beispielsweise über die NSU-Attentate auf manche Details zu verzichten, geraten sowohl der Opferschutz als auch die Debattenkultur in eine Schieflage. Wahrscheinlich triggert die immer wieder kehrende Erzählung vom Nagelbombenanschlag in Köln Menschen, die unmittelbar davon betroffen waren. Möglicherweise triggert sie auch Menschen, die ähnliches erlebt haben. Trotzdem sollten wir auf die Details nicht verzichten. Sie liefern wichtige Informationen, die niemandem vorenthalten werden dürfen. Das Verschweigen solcher Angaben beseitigt nicht das Problem, sondern blendet einen Teil der Realität aus. Wie soll sich eine Gesellschaft über Missstände verständigen, wenn sich Kritiker und Kritikerinnen der Debatte entziehen, weil sie es so genau nicht wissen wollen?

Jeder reagiert anders auf Impulse

Zudem sind Trigger wie Triggerwarnungen höchst individuell. So kann das Foto eines Deckenventilators, wie es das "Zeit Magazin" vor Jahren in einer Bilderstrecke veröffentlichte, den Kunstsinn mancher Menschen ansprechen. Andere wiederum kann es in die Abgründe einer dramatischen Kindheit katapultieren. Weil bei der sexuellen Gewalt, die jemand früher erlebt hat, ein Ventilator surrte. Wie will man diesen Konflikt lösen?
Das heißt nicht, dass Warnungen vor verstörenden Szenen beispielsweise in Krimis, Kriegs- und Horrorfilmen vollkommen unnötig wären. Ein entsprechender Hinweis überlässt es jeder und jedem selbst, sich darauf einzulassen. Bei Büchern wie Süskinds "Parfüm" erscheint das maßlos übertrieben. Man kann die Seiten ja einfach überblättern.

Simone Schmollack, geboren 1964 in Berlin, ist Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher, darunter "Und er wird es wieder tun. Gewalt in der Partnerschaft", "Kuckuckskinder. Kuckuckseltern", "Deutsch-deutsche Beziehungen. Liebe zwischen Ost und West" und "Damals nach der DDR. Geschichten von Abschied und Aufbruch". Simone Schmollack studierte Germanistik, Slawistik und Journalistik in Leipzig, Berlin, Smolensk und war Redakteurin der Tageszeitung "taz" und Chefredakteurin bei der Wochenzeitung "Der Freitag". Sie beschäftigt sich vor allem mit Themen an der Schnittstelle von Politik, Wirtschaft und Privatheit.

© Dietl
Mehr zum Thema