Portrait

Der türkische Komponist Emre Dündar

11:06 Minuten
Ein Mann mit Brille sitzt an einem gelben, runden Gartentisch voller Notenblätter.
Der Komponist Emre Dündar ist noch bis Ende Februar Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdiensts in Berlin © Jasper Kettner / Berliner Künstlerprogramm des DAAD
Von Franziska Buhre · 02.02.2021
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Der türkische Komponist Emre Dündar beschäftigt sich als Performer vor allem mit Sprache, lässt aus Lauten geschriebene Gedichte, vorgetragene Poesie, Erzählungen oder Gesang entstehen. Franziska Buhre über den außergewöhnlichen Künstler, der im Rahmen des Festivals "Ultraschall Berlin" im Januar erstmals in Deutschland aufgetreten ist.
Ausschnitt Konzert
Für den Komponisten Emre Dündar verschwindet ein musikalisches Universum, wenn eine Sprache ausstirbt. Diesem Schicksal vieler Sprachen, die nur von wenigen Menschen gesprochen werden, setzt er sein Stück "De vulgari eloquentia", das er stets selbst aufführt, entgegen: Dündar imitiert Sprachmelodien, er formt Mundbewegungen nach, mit denen bestimmte Laute produziert werden können und singt einzelne Vokale oder Silben.
Ausschnitt Konzert
Emre Dündar: "There are nearly 15 languages in Anatolia facing extinction today. I recorded speeches in languages that maybe only 40 or 50 people continue to speak. Their stories, their lives, their songs will go extinct. This was the only way I could express my testimony."
Voice-Over: "In Anatolien gibt es heute fast fünfzehn Sprachen, die vom Aussterben bedroht sind. Ich habe Sprachen aufgenommen, die vielleicht nur noch von 40 oder 50 Menschen gesprochen werden. Ihre Geschichten, ihr Leben, ihre Lieder werden aussterben. Nur durch die Aufnahmen kann ich meine Zeugenschaft ausdrücken."
Ausschnitt Konzert
Emre Dündar wurde 1972 in Istanbul geboren, schon in seiner Kindheit und Jugend war er von zahlreichen Sprachen umgeben.
Emre Dündar: "I grew up in a very strange and interesting universe of countless languages and cultures. Our neighbours were Armenian, my friends were Kurdish. I lived very long in Beyoğlu when I was a student which was, in this sense, the most interesting district of Istanbul. You were possible to hear Ladino, every dialect of Kurdish, Lasiz, Circassian, Abkhaz, Arabic, even Russian. Every language I heard left sound prints on me."
Voice-Over: "Ich bin in einem sehr seltsamen und interessanten Universum unzähliger Sprachen und Kulturen aufgewachsen. Unsere Nachbarn waren Armenier, meine Freunde waren Kurden. Als Student habe ich lange in Beyoğlu gelebt. Es war sehr interessant, man konnte Ladino der sephardischen Juden hören, jeden kurdischen Dialekt, die lasische Sprache, Tscherkessisch, Abchasisch, Arabisch, sogar Russisch. Jede Sprache, die ich hörte, hat Klangabdrücke auf mir hinterlassen."
Ausschnitt Erzählung Schauspieler Gazanfer Özcan
Nicht nur Sprachen, sondern auch Vortragsstile haben Emre Dündars Faszination für Phonetik geprägt. Westasien ist reich an solchen Traditionen, die Erzählkunst der Meddâhs zählt zum kulturellen Erbe der Türkei. Meddâhs waren Erzähler, die ihre Darbietungen in Kaffeehäusern mit Satire oder Polemik würzten. Der Schauspieler Gazanfer Özcan brachte Meddâh ab den 1950er Jahren auf die türkische Theaterbühne, heute allerdings wird die Erzählkunst kaum mehr ausgeübt. Emre Dündar interessiert sich für die Rhetorik der Meddâhs, ihren Umgang mit Zeit und Klängen, die den Vortrag theatralisch machen.
Ausschnitt Erzählung Schauspieler Gazanfer Özcan
Auch Kani Karaca hat im Hörgedächtnis von Emre Dündar einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Karaca war ein Sufi-Gelehrter und berühmter Koran-Rezitator. Seine Art, Melismen, also mehrere Töne auf einer Silbe zu singen, und seine klanglichen Verzierungen verweisen auf persisch-byzantinische Gesangstraditionen. Nur selten sang er weltliche Lieder wie dieses:
Musik Kani Karaca: Hiç Düşmedi Dilimden Ne Hâtıran Ne Adın
Für seine Komposition "Récit ductile" für Klarinette und Streichquartett hat sich Emre Dündar mit Manuskripten und Entwürfen von Gedichten moderner türkischer Lyriker befasst. Die Klarinette wird hier zum Sprachrohr, Dündar überträgt eine vokale Tradition auf das Instrument:
Ausschnitt Konzert Emre Dündar
Emre Dündar: "Dengbêj vocal improvisation, which is a Turkish tradition, there is a very fast vowel repetitions and frenetic vibratos. If you want to get a similar effect with the clarinet you have to write alternate rapidly back and forward your lip position toward the mouthpiece while changing the indicated fingerings constantly. To find the proper formula to make understandable some specific effects takes more time than imagining the musical idea."
Voice-Over: "Dengbêj ist eine Gesangsimprovisation, eine türkische Tradition. Es gibt es sehr schnelle Vokalwiederholungen und unglaubliche Vibratos. Wenn man einen ähnlichen Effekt auf der Klarinette erzielen will, muss man in die Partitur schreiben: bewege die Lippen schnell zum Mundstück und weg davon, dabei sind die angegebenen Fingersätze ständig zu wechseln. Es braucht mehr Zeit, herauszufinden, wie sich bestimmte Effekte notieren lassen als sich die musikalische Idee vorzustellen."
Ausschnitt Konzert Emre Dündar
Emre Dündar: "As we read a poem a kind of auditory illusion is began to process in our minds. What we think we can here in our minds, can only exist in our minds. It has nothing to do with the real sound. When a poem is voiced, it actually enters in some kind of translation process. The basic thing that I demand from performers is to exaggerate all expressions to the edge. If you cry, cry madly exaggerate every expression as you can without hesitating to be considered cheap or a bit kitsch."
Voice-Over: "Wenn wir ein Gedicht lesen, entsteht in unserem Kopf eine Art auditive Illusion. Was wir selbst hören, existiert nur in unserer Vorstellung. Das hat nichts mit dem wirklichen Klang unserer Stimme zu tun. Wird ein Gedicht gesprochen, tritt es in eine Art Übersetzungsprozess ein. Von InterpretInnen verlange ich grundsätzlich, dass sie ihre Darbietung bis aufs Äußerste übertreiben. Wenn Du weinst, weine wie verrückt, übertreibe, zögere nicht, auch wenn das andere billig oder ein bisschen kitschig finden könnten."
Emre Dündar lernte schon als kleines Kind Klavier, seine Mutter, die Konzertpianistin Meral Dündar, unterrichtete ihn streng. Die Klarinette liegt ihm aber mehr, erzählt er, weil ihr Klang obertonreich ist und sie die Rolle einer Erzählerin übernehmen kann. Gemeinsam mit Musikern des Istanbul Composers Collective, dessen Mitgründer Dündar ist, hat er 2017 zum Theaterstück "Geschlossene Gesellschaft" von Jean-Paul Sartre auf der Klarinette und mit seiner Stimme improvisiert.
Ausschnitt Musik
Emre Dündar komponiert aber auch für professionelle SängerInnen. Zum Beispiel in seiner "Soirée gothique" für Sopran und Ensemble, nach drei Gedichten von Emily Dickinson. Die Gedichte entstanden in verschiedenen Schaffensphasen, ihr gemeinsamer Nenner aber ist der Tod. Die Dichterin imaginiert einmal ihr Sterben, gestört vom Summen einer Fliege, im zweiten Gedicht beschreibt sie die eigene Beerdigung und deutet im dritten an, dass ihr Zuhause einer Gruft entspricht. Im Januar wurde "Soirée gothique" beim Festival Ultraschall Berlin aufgeführt, mit der Sopranistin Eva Resch und dem Ensemble KNM unter Leitung von Titus Engel.
Ausschnitt Konzert
Emre Dündar: "This is Emily herself who speaks and sings in "Soirée gothique". Neither the act of speaking nor the act of singing could be dominant in this music. I have considered these three poems as a single narrative. The wholeness concept gave me the idea as if it were a long section of a single imaginary opera."
Voice-Over: "Es ist Emily Dickinson selbst, die in "Soirée gothique" spricht und singt. Weder der Sprechakt noch der des Singens konnten hier dominieren. Die drei Gedichte habe ich als eine einzige Erzählung betrachtet. Das brachte mich auf die Idee, das Stück wäre ein langer Abschnitt einer imaginären Oper."
Emre Dündar hat inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis in Berlin für zwei Jahre. Man wird ihn also in Deutschland künftig weiter vernehmen. Gemeinsam mit anderen ImprovisatorInnen, in Aufnahmen zeitgenössischer Archäologie der menschlichen Stimme oder in seinen Werken für große und kleine Besetzungen. Dafür waren die Konzerte beim Ultraschall Festival ein gelungener Auftakt.