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Javier Marías: "Berta Isla"
Das einsame Leben eines Agenten

Ein brillanter Oxford-Student wird gedrängt, als Undercover-Agent in den britischen Geheimdienst einzutreten. Jahrzehntelang führt er ein geheimnisvolles Doppelleben, das ihn und seine Ehefrau Berta Isla zerreißt. Javier Marías erzählt von den psychischen Verwüstungen, die ein Leben als Agent anrichtet.

Von Dirk Fuhrig | 24.05.2019
Zu sehen ist der Autor Javier Marías vor einer Bücherwand und sein Roman "Berta Isla".
Der Spanier Javier Marías erzählt in seinem neuen Roman von der Welt der Geheimdienste (Autorenfoto: Imago/El Mundo/Antonio Heredia/ Cover: S.Fischer Verlag)
Tomás ist ein ganz außergewöhnlicher Schüler. Er wächst in den 1950er- und 60er-Jahren in Madrid auf, woher seine Mutter stammt. Sein Vater ist Brite. Nicht nur Spanisch und Englisch spricht er perfekt, auch andere Sprachen lernt er ohne Anstrengung:
"Was auch immer seine Ohren erreichte, verstand er sofort, merkte es sich und gab es exakt und kunstvoll wieder."
Und so parliert Tomás mühelos auf Französisch, Italienisch, Russisch und in weiteren Sprachen. Selbst Dialekte und Akzente kann er perfekt imitieren - eine Begabung, die ihm in jungen Jahren Heiterkeits-Erfolge einbringt, die ihm später jedoch zum Verhängnis werden wird. Als er in Oxford studiert, versucht einer seiner Professoren, ihn für den Geheimdienst MI5 oder MI6 anzuwerben. Sprach- und Verwandlungs-Talente wie Tomás, die unterschiedliche Identitäten annehmen können, sind dort hochbegehrt.
",Bei deinem Imitationstalent, deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten wärst du aber vor allem ein großartiger Undercoveragent. Etwas Vorbereitung je nach Fall, und du würdest an nicht wenigen Orten als Einheimischer durchgehen.' Tom Nevinson fühlte sich geschmeichelt, und ebendas war gewiss die Absicht dieser eingestreuten Komplimente; junge Leute sind sehr empfänglich dafür. ,Es wäre nie für lange. Das Gefährlichste bei diesen Missionen ist nicht die Enttarnung des Agenten (…), sondern dass er sich zu sehr in seine Rolle hineinsteigert und aus den Augen verliert, wer er in Wirklichkeit ist, wem er dient.'"
Ein Leben als "lonely wolf"
Doch Tomás weigert sich, und so wird er als Verdächtiger in einen Mordfall verwickelt. Mitarbeiter des Geheimdienstes versprechen, ihn vor der Anklage zu bewahren. Der Preis dafür: Er muss einer der von ihnen werden. Es ist eine Erpressung. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Denn das Leben eines 007-Agenten ist zwar voller Abenteuer, aber schrecklich einsam - das kennt man aus den James Bond-Filmen. Der Agent ist darin ein "lonely wolf", der ohne private Bindung ausschließlich im Dienste ihrer Majestät unterwegs ist.
Marías beschreibt in seinem Roman die finstere Seite dieses Daseins. Denn Tomás Nevinson hat zwei kleine Kinder und eine Ehefrau. Aus der Perspektive der Frau wird der überwiegende Teil der Handlung erzählt:
"Ich war auf seiner Seite, begreiflicherweise. (…) Aber manchmal konnte ich den Gedanken nicht verscheuchen, dass er gewiss Böses tat bei seinem Tun, von Grund auf Böses: dass er sich heuchlerisch das Vertrauen von Männern und Frauen erschlich, die ihn als Bruder oder Geliebten annahmen, sogar als echte Liebe, und dass er sie dann verraten, denunzieren würde. (…), er würde über ihre Pläne und Taten informieren und sie damit vielleicht dem Tod überantworten"
Berta Isla schwankt über Jahre hinweg zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Sie findet heraus, dass ihr Mann ein Spion ist, was genau er tut, darüber muss er schweigen. Tomás überhöht seine Spitzel-Tätigkeit mit dem Dienst am Vaterland.
"Die Reiche müssen von jeher verteidigt werden (…). Warum, glaubst du, leben die Leute in aller Ruhe, haben ihre Beschäftigungen, auch ihre Leiden und Mühen? (…) Warum gibt es Brot in den Bäckereien und Kuchen in den Konditoreien, warum gehen die Laternen aus und abends wieder an, warum steigen und fallen die Börsenkurse? Das geschieht, weil das Reich über eine stumme, permanente Verteidigung verfügt, von der fast niemand je erfährt und nichts erfahren darf."
Geheime Lenker des Weltgeschehens
Die Hybris der Schlapphüte, die sich für allmächtig halten als geheime Lenker im Hintergrund des Weltgeschehens, rechtfertigt aus ihrer Sicht jede Gewalt, jeden Betrug, jede Denunziation, jeden Verrat - auch an der eigenen Familie. Tomás verschwindet zunächst immer wieder für Monate, ohne ein Lebenszeichen. Als der Falkland-Krieg zwischen England und Argentinien ausbricht, verliert sich seine Spur. Er wird zunächst für tot erklärt.
Die Rekrutierung junger Akademiker durch den britischen Geheimdienst ist eine historische Tatsache, die Javier Marías bereits in seiner Roman-Trilogie "Dein Gesicht morgen" bearbeitet hat. Auch damals spielte ein Teil der Handlung in Oxford, wo Javier Marías selbst eine Zeit lang unterrichtete. In "Berta Isla" arbeitet der Schriftsteller das Unbehagen heraus, das einen Spanier beschleicht bei einem Thema wie Spionage und dem Einschleusen von V-Leuten.
"Damals verspürten wir Spanier in der Mehrheit (…) eine unüberwindbare Aversion gegen die Geheimpolizei und eine unendliche Verachtung gegenüber den eingeschleusten Agenten (…), die verhassten Mitglieder der Brigada Político-Social, (…), die sich in Fabriken für Arbeiter ausgegeben hatten (…), für Gewerkschafter in den illegalen Gewerkschaften (…), für politische Gefangene in den Gefängnissen und für Studenten an den Universitäten."
Ein deutscher Leser wird sofort an die Methoden der Stasi denken, an die "Informellen Mitarbeiter", die sich in Leben und Gehirne der Bürger einschlichen.
"Zahlreiche Menschen waren im Gefängnis gelandet wegen dieser Schwindler, die nicht nur als Denunzianten fungiert hatten, sondern auch als Anstifter, damit die "Subversiven" umso schwerere Strafen erwarteten."
Javier Marías' Spionage-Roman ist kein glorifizierender Agenten-Thriller. Sein Held ist ein armer Getriebener, der seine Tätigkeit unter offenkundig schrecklichen Seelenqualen verrichtet - bis er, zu seinem Glück, irgendwann vom Geheimdienst fallen gelassen wird.
Schriftsteller als Drahtzieher
Das mitunter etwas langatmig erzählte Buch ist literarisch interessant, weil Marías die Position der allmächtigen geheimdienstlichen Drahtzieher mit der eines Schriftstellers parallel setzt:
"Wir sind so etwas wie der auktoriale Erzähler im Roman (…). Er entscheidet und erzählt, aber man kann ihn weder ausfragen noch in Frage stellen. Er hat keinen Namen, ist keine Figur, im Gegensatz zum Ich-Erzähler. Man glaubt ihm, misstraut ihm also nicht, hat keine Ahnung, warum er weiß, was er weiß. (…) Ganz offensichtlich gibt es ihn, aber zugleich existiert er nicht."
Auch dieser Roman wechselt zwischen der auktorialen Erzählhaltung, wenn er das Universum der Tarnungen Tomás Nevinsons skizziert, und der Ich-Perspektive von Berta Isla. Während Tomás ständig in geheimer Mission auf der Welt unterwegs ist, verlässt Berta nie Madrid. Ihr Kosmos ist die Wohnung in der Innenstadt, gegenüber vom Königspalast. Von hier aus schildert sie ihre Jugend unter der Franco-Diktatur und den Wechsel zur Demokratie, den sie als junge Frau erlebt hat. Die zeitgeschichtliche Einbettung des Romans bleibt jedoch eher anekdotisch, punktuell. Marías interessiert sich in diesem Buch vor allem für die psychischen Verwüstungen, die eine Tätigkeit als Geheimagent anrichtet. Eine Existenz in ständig wechselnden Identitäten, ohne Halt und Bindung.
Verschlungene Erzählweise
Die für Javier Marías so typischen langen, labyrinthischen Sätze finden sich auch in diesem Roman. Seine verschlungene Erzählweise verlangt einen aufmerksamen und geduldigen Leser, der bereit ist, sich auf Langsamkeit und ausgiebige Reflexionen einzulassen. Susanne Lange hat die vielen, nicht enden wollenden Satzkaskaden sehr harmonisch ins Deutsche gebracht. Durch diese ausgearbeitete Sprache, die die Gedankenwelt vor allem der Protagonistin so plastisch herausarbeitet, taucht der Leser in den Kopf von Berta Isla sein - letztlich genau so, wie sich ein feindlicher Spion in das Leben seines Opfers einschleicht und es anhaltend verstört:
"Der Groll lässt sich nicht vermeiden, ich weiß, ich werde ihn bis zu meinem Tod verspüren. Werde ihn selbst dann noch spüren, wenn er vorher sterben sollte, es gibt einen posthumen Groll, der nicht verfällt, wenn sein Verursacher fort ist."
Javier Marías: "Berta Isla"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Verlag S. Fischer, Frankfurt a.M. 656 Seiten, 26 Euro.