Pornografie des Todes

07.03.2011
Enquists Interesse gilt einem schwedischen Trauma, der Auslieferung von baltischen Militärinternierten an die Sowjetunion nach Kriegsende. Deshalb hat er einen über 40 Jahre alten Roman erneut veröffentlicht.
Der Schwede Per Olov Enquist gehört zu den besten Romanciers der Gegenwart. Romane wie "Gestürzter Engel" (1985), "Der Besuch des Leibarztes"(1999) oder "Ein anderes Leben" (2008) sind jenseits vom Klischee ein Garant skandinavischer Erfolgsliteratur.

Bereits 1968 erschien ein Buch, das bis heute wenig bekannt ist: "Legionärerna – En roman om baltutlämningen" ("Die Ausgelieferten", 1969). Zwischen 1965-68 geschrieben, fiel sein Erscheinen in eine äußerst bewegte Zeit. Der Vietnam-Krieg tobte und rief Debatten um die amerikanische Außenpolitik hervor, die deutsche Teilung war nach dem Bau der Mauer 1961 in eine neue Etappe getreten und der Prager Frühling wurde durch die Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen.

Enquists Interesse gilt einem schwedischen Trauma, der sogenannten "baltutlämningen". Gemeint ist die Auslieferung von baltischen Militärinternierten zwischen November 1945 und Januar 1946 an die Sowjetunion. Als Wehrmachtsangehörige nahmen sie aktiv am Krieg teil. Da dieses Trauma auch 2010 noch virulent ist und die Frage nach einer politischen Moral stets aktuell, sah Enquist sich veranlasst, sein Buch, das er nun als "dokumentarischen Roman" bezeichnet, erneut - und gänzlich unverändert - zu veröffentlichen.

In einem der neuen Ausgabe hinzufügten "Epilog" vom Herbst 2010 erklärt er, dass es nicht nur um ein existentielles politisches Drama geht. Es ist auch ein "Entwicklungsroman über einen jungen Autor in der Mitte der entsetzlichen europäischen Geschichte". Den Leser erwartet eine komplexe Lektüre. Es gilt mindestens drei Zeitschichten freizulegen: die Auslieferung 1945/46; die Entstehung des Romans zwischen 1965-68 und die unmittelbare Gegenwart.

Enquist will herausfinden, warum die Auslieferung der Balten von der schwedischen Regierung nicht verhindert wurde. Damit hinterfragt er auch das Selbstbild Schwedens in der Nachkriegszeit. Es ist das Bild von einem Land, das "Flüchtlinge beherbergte und Graf Bernadotte an der Spitze weißer Busse entsandte, um Häftlinge aus den Konzentrationslagern zu retten". Der Tatbestand der Auslieferung will in dieses Bild nicht passen.

Das Buch basiert auf Tagebüchern, Briefen, Fotos, geheimen Archivmaterial und auf Gesprächen, die der "Untersucher", so nennt sich der Erzähler, von 1966 bis 1968 mit Beteiligten in Schweden, Dänemark, England und Lettland führte. Was Enquists Buch so einzigartig macht, sind die schonungslosen und subtilen Reflexionen über sein eigenes Tun. Der "Untersucher" beobachtet an sich, dass er politische Herrschaftsverhältnisse nach ästhetischen Grundsätzen und dramatischen Höhepunkten aussucht und bewertet. Er fühlt sich überfordert angesichts von Bildmaterial, auf dem eine "Pornographie des Todes" dokumentiert ist. Die Recherche wird zunehmend vom Zweifel an der Glaubwürdigkeit sowohl der Dokumente als auch der eigenen Schlussfolgerungen bestimmt und der Autor schließlich selbst zum Terrain der Untersuchung.

Besprochen von Carola Wiemers

Per Olov Enquist: Die Ausgelieferten. Roman.
Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass
Carl Hanser Verlag, München 2011
473 Seiten, 24,90 Euro
Mehr zum Thema