Pop/Rock-Kultur

Utopisten, Visionäre, Weltverbesserer

Die britische Rockgruppe Rolling Stones, mit Leadsänger Mick Jagger (M), bei ihrem Auftritt im Madison Square Garden in New York am 25.7.1972. Rechts der Gitarrist Keith Richards.
Die britische Rockgruppe Rolling Stones im Juli 1972. © picture alliance / dpa
Von Laf Überland · 19.12.2016
Lange Zeit war Rockmusik der Soundtrack zum jugendlichen Verweigerung-Probieren. Deshalb gehörte dabei zur Utopie auch meistens der Protest: die Rebellion. Aber diese Idee ist schon seit den 70er-Jahren zerfasert.
Woodstock war das große Verwertungsevent der Vision von Liebe und Frieden für jedermann gewesen, und mit der Kommerzialisierung von Love and Peace war diese Utopie dann bald vorbei − außer an Veteranenstammtischen, bis heute.
Und als diese Realität die jungen Fans zu sehr frustrierte, wurden Utopien dann bald in anderen Sphären gesucht – in bildhaften Reisen in liebliche Paradiese, in die versunkene Stadt Atlantis oder gleich in den Weltraum.
Die britische Band Nektar erzählte in ihrer "Journey To The Center Of The Eye" eine typische Science-Fiction-Geschichte von der Reise eines Astronauten zum Saturn, der auf dem Flug von Außerirdischen in ihre Galaxie entführt wird, wo sie ihn virtuell, wie man heute sagen würde, schreckliche Dinge erleben lassen − unter anderem den nuklearen Untergang der Erde. Und natürlich wurde dieses bekiffte Hardrockwerk gerne als Protestalbum gegen das Wettrüsten genommen.

Männchen vom Planeten Gong

Nicht 
weniger heilsam als
 lustig – so hatte Thomas Morus im Untertitel sein "Utopia" benannt. Und ganz in diesem Sinne trieb es die multinationale Band aus der französischen Provinz namens Gong. 1974/75 erzählten sie auf einer Trilogie außerordentlich unterhaltsam und urkomisch vom Radio Gnome, einer Art telepathischen Piratensenders, der aus einer fliegenden Teekanne sendet, mit kleinen spitzmützigen grünen Männchen mit Bärten und Propellern auf dem Kopf, den Flying-Tea-Pot-Head-Pixies, die vom Planeten Gong kommen. Die Kanne fällt vom Himmel und landet ausgerechnet in Tibet − und zwar aus Versehen auf dem Gebetsteppich von Lawrence dem Ausländer höchstpersönlich. Von dort spannen sich dann ein Jahr lang die bekifftesten Abenteuer des Protagonisten Zero The Hero und seiner Kumpane...
Laut Ernst Bloch ist der utopische Diskurs die "ausmalende Vorwegnahme eines wünschenswerten Zustands" – und ausgemalt wurde in den frühen Siebzigern auf Teufel komm raus. Die Idee des Konzeptalbums lud ein zu ausladenden Fantastereien voller fremdartiger Soundgebirge: Die Neuartigkeit der Klänge mit Synthesizer und Mellotron waren bereits angewandte Utopie für die Ohren und als Progressive Rock höchst anspruchsvoll − mit komplizierten Metren und Songstrukturen, die man nicht mehr durch Spielgefühl, sondern nur noch durch diszipliniertes Auswendiglernen bewältigen konnte. Dazu passend beschäftigten sich die meisten Konzepte im hehren Ernst der humanistischen Grundbildung mit dem Erfinden von Utopias.

Dunkler Mythos mit Kunstsprache

Ganz tief-dunkel-ernst wurde es bei der französischen Band Magma. Die breitete über sämtliche Alben den Mythos des fiktiven Planeten Kobaïa aus: Ausgewanderte Erdenbewohner hatten den Planeten kolonialisiert, waren dort zur Erleuchtung gelangt und kehrten nun zur Erde zurück, die dem Untergang geweiht war. Im Zentrum eine Lichtgestalt, die die Lehren einer kosmologisch-naturwissenschaftlichen Bibelauslegung aus den 50-ern verkündete. Das wurde komplett vorgetragen in einer eigens erfunden Kunstsprache, dem Kobaïanisch, das einige Fans aber enttäuschte, weil es eigentlich wie Holländisch klang, fand man...
Magma spielte sehr jazzrockig und war auch mit seinem Kobaïa-Utopia ein Exot für nur einen kleinen Kreis von Gläubigen. Aber auch bei richtig großen Bands wie Yes zeigten die Albumhüllen aufeinanderfolgend den Zerfall eines Planeten, die Reise seiner Bruchstücke als Samen für neue Welten oder die Flucht im Raumschiff: utopische Welten da ganz weit draußen…

Die Utopie löst sich auf

Doch allmählich versickerte der anspruchsvoll gestartete Progressive Rock der Siebziger in mythischem Eskapismus, und die Utopie in der Rockmusik zerfledderte wie die Jeans, die man zu lange trägt − zerfaserte zunächst und löste sich dann ganz auf.
Gelegentlich tritt seitdem eine neue Idee der Weltverbesserung aus der Wollust der Jugend ans Licht des Tages wie in den Neunzigern das utopistisch aufgeladene Nächte-Durchtanzen einer tollen, toleranten, irgendwie kommunistischen Raving Society. Aber auch die verflüssigen sich dann, sobald die Musikindustrie ihrer gewahr wird.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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