Polnischer Pechvogel

Rezensiert von Martin Sander · 09.05.2006
Zbigniew Hintz sitzt mit seinen 46 Jahren in seiner winzigen, mit Büchern vollgestopften Warschauer Wohnung und sinniert über die "Sprache der Zukunft". Anhand dieses intellektuellen Losers spielt Zbigniew Mentzel die polnische Geschichte durch und schildert zugleich die tragisch-komischen Verwicklungen einer bürgerlichen Familie in Polen.
Am Anfang steht ein Alptraum. Aus unzähligen menschlichen Zungen, Toten und Lebenden herausgerissen, zeichnet sich ein Gebilde in der Form einer Pyramide ab, vielleicht auch ein bis zum Himmel reichender Scheiterhaufen. Die Zungen scheinen nur das Baumaterial in den Händen eines Herrschers zu sein. Sie bewegen sich in fiebrigen Zuckungen, als wenn die ganze Welt um Hilfe schreien, um Gnade winseln würde.

Es sind Schreckensbilder nach Motiven der Genesis, jener biblischen Erzählung von der babylonischen Sprachverwirrung, mit der Gott den Hochmut der Menschen gestraft haben soll. Diese Bilder suchen in den späten neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen Warschauer Intellektuellen namens Zbigniew Hintz heim, der sich gelegentlich als Börsenspekulant versucht und um Klarheit darüber bemüht ist, welche Rolle die Sprache in seinem Leben spielt.

Zbigniew Mentzels Roman "Alle Sprachen dieser Welt", der jetzt in deutscher Übersetzung bei DTV erschienen ist, erzählt von einem Tag im Leben von Zbigniew Hintz. Dieser einsame Mittvierziger und notorische Pechvogel erwacht - zu früh für seine Verhältnisse - in einer kleinen Warschauer Wohnung, geweckt vom Baulärm in der Nachbarschaft und von den mehr oder minder quälenden Gedanken an den Höhepunkt dieses Tages: Er wird seinem Vater, der mit 82 Jahren seinen letzten Arbeitstag in der Apotheke eines städtischen Krankenhauses absolviert, bei der Ausrichtung einer Abschiedsfeier zur Hand gehen. Die Vorbereitung auf dieses Ereignis bietet genügend Raum, um die tragikomische Geschichte einer Warschauer Familie Revue passieren zu lassen.

Im Hintergrund wirkt das Unglück polnischer Geschichte - vom gescheiterten Aufstand des Jahres 1863 über den Zweiten Weltkrieg bis zur Sowjetisierung Polens in der Nachkriegszeit. Im Vordergrund steht das Bemühen um bürgerliche Selbstbehauptung im Sozialismus. Es geht um das eheliche Dauerzerwürfnis der Eltern, die stoische Selbstgenügsamkeit des Vaters und die stets unbefriedigten Ansprüche der Mutter auf ein besseres Leben. Während sie auf die große Karriere ihres Sohnes hofft, lässt sich der - ganz Sucher und Zweifler - durch das Leben treiben. Am Ende versinkt er abermals in einen Traum und verbucht diesmal einen Triumph. Er kann sich und seine Geschichte zum Ausdruck bringen. Er hat seine Sprache gefunden.

Zbigniew Mentzel, geboren 1951 in Warschau, hat sich als Erzähler und Feuilletonist einen Namen gemacht. "Alle Sprachen dieser Welt" ist ein tiefsinnig-komischer Roman über das Unglück einer bürgerlichen Familie in Polen - und die Schwierigkeiten ihres Chronisten, den angemessenen Ausdruck zu finden.

Zbigniew Mentzel: Alle Sprachen dieser Welt
Roman, aus dem Polnischen von Paulina Schulz
Dtv 2006
178 S., 12 €