Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Völkerkunde und Psychologie
Wenn fremde Kulturen verschwinden

Ob die Nenzen in der russischen Arktis oder die Indianer im brasilianischen Regenwald - viele fremde Kulturen, ihre Sprachen und Gebräuche, sind vom Aussterben bedroht. Eine ungewöhnliche und provokante Frage ist, was daran eigentlich so schlimm wäre.

Von Sama Maani | 27.01.2019
    Die Nenzin Galina beim Zerteilen von Fleisch
    Eine Nenzin beim Zerteilen von Fleisch (Jan Lieske)
    Womöglich ist es vor allem die westliche Perspektive, die den Angehörigen dieser Gesellschaften eine volle Identifizierung mit ihren kulturellen Traditionen zuschreibt. Der Blick ist getrübt durch das eigene Unbehagen an der Moderne - während diesen Gesellschaften die westliche Zivilisation nicht bloß als Bedrohung erscheint, sondern auch als Versprechen. Schließlich sind Tradition und Kultur häufig andere Namen für Herrschaft und Unterdrückung. Und das Überwinden überkommener Traditionen die Voraussetzung für gesellschaftliche Emanzipation.
    Sama Maani, geboren in Graz, lebt als Schriftsteller und Psychoanalytiker in Wien. Aktuelle Veröffentlichungen: "Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht" (Essayband), "Teheran Wunderland" (Roman).
    Dieser Essay begleitet die Feature-Reihe "Expeditionen", die im Januar immer freitags ausgestrahlt wird und Reisen unter anderem zu den Nenzen in die russische Arktis oder zu den Tenharim in den südwestlichen Regenwald unternimmt.

    "Eure Begeisterung in Ehren", sagt Barbara, "aber - schon mal was von 'Völkerschauen' gehört?"
    Barbara, ihr Mann Martin und ich sitzen im schönen Café des Kunstraums Francesca Habsburg in Wien. Wir unterhalten uns über die Ausstellung "Sacred Secret", die der renommierte brasilianische Künstler Ernesto Neto zusammen mit Vertretern der Huni Kuin gestaltet und inszeniert hat. Die Huni Kuin sind eine indigene Ethnie aus dem Westen Brasiliens. Die riesige textile Skulptur, in die man sich hineinbegibt wie in eine Höhle, der Sprechgesang der Schamanen, die Tänze und Gebete ("to bring more strength, more spirit") haben Martin und mich in eine seltsame, tranceartige Euphorie versetzt.
    Barbara scheint weniger begeistert.
    "Bei Völkerschauen", erklärt sie, "wurden bis in die fünfziger Jahre des
    20. Jahrhunderts Menschen aus fernen Ländern, meistens aus Kolonien, ausgestellt. In Wien zum Beispiel wurde 1896 ein ganzes Aschanti-Dorf aufgebaut, wo man Menschen aus dem heutigen Ghana 'besichtigen' konnte."
    Bedrohungen der indigenen Völker
    Barbara ist Ethnologin, mit dem Schwerpunkt Kolonialismus und Populäre Kultur. Ihr Mann Martin - er ist Psychoanalytiker wie ich - scheint jetzt aus seiner Trance aufzuwachen.
    "Du kannst doch diese Ausstellung nicht mit den Völkerschauen vergleichen. Die Huni Kuin sind aus eigener Initiative hier, um ihre eigenen Anliegen zu vertreten. Und wie wichtig die sind, brauche ich dir als Ethnologin wohl nicht zu erklären."
    Martin zählt die Bedrohungen auf, denen indigene Völker in Südamerika durch den Kontakt mit der modernen Zivilisation ausgesetzt waren und sind: Landraub, Zwangsarbeit, tödliche Epidemien, die Zerstörung ihrer Wälder und Flüsse.
    Ich muss, wie schon in der Ausstellung, an das Buch "Der letzte Herr des Waldes" denken, das von den Tenharim im südwestlichen Amazonas handelt. Ein Volk, das einmal mehr als 10.000 Angehörige zählte. Heute sind es gerade einmal 900, die - eingekreist von Wilderern, Landspekulanten, Holzfällern und Goldsuchern - ums Überleben kämpfen. Das Buch erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive eines jungen Kriegers, der bereit ist, seinen Wald gegen die Übermacht der Eindringlinge zu verteidigen. Pfeil und Bogen gegen Feuerwaffen und Nachtsichtgeräte. Wenn es so weiter geht, so der Autor Thomas Fischermann, wird es den Wald der Tenharim in zehn bis fünfzehn Jahren nicht mehr geben.
    "Bedroht sind aber nicht nur ihre Wälder und Flüsse", sagt Martin, "sondern auch die Kultur und Tradition dieser Menschen, ihre Sprachen ..."
    "... und die Schamanen", sage ich, und erzähle von einem You‑Tube‑Video über den Versuch katholischer Missionare, die Lücke zu füllen, die bei den Tenharim nach dem Tod ihres letzten Schamanen entstanden ist.
    "Und die Schamanen der Surui Paiter", meint Barbara, "einer anderen indigenen Ethnie in Brasilien, befinden sich im Dauerstreik. Weil sich die Geister, auf die sie bei ihrer Arbeit angewiesen sind, aus Eifersucht auf die baptistischen Missionare zurückgezogen haben."
    Die eigenen Projektionen mitdenken
    Barbara wirkt nachdenklich.
    "Dass die Lebensgrundlagen und Traditionen der Indigenen in Südamerika und anderswo bedroht sind, bestreitet natürlich niemand. Ich fürchte aber, dass wir die Realität dieser Menschen völlig falsch einschätzen. Ich behaupte, dass eine indigene Ethnie im Augenblick, in dem sie mit unserer Zivilisation in Berührung kommt - überspitzt gesagt - keine indigene Ethnie mehr ist, sondern Teil der globalen Moderne. Wir, im Westen, haben aber das Bedürfnis, diese Menschen als die ganz anderen wahrzunehmen. Ja, als die Repräsentanten dieses ganz anderen - was wiederum mit unseren Fantasien und Sehnsüchten zu tun hat. Und unserem Unbehagen an der Zivilisation und am Kapitalismus. Ein Unbehagen, das berechtigt sein mag. Dennoch sollten wir, wenn wir über die Situation indigener Völker, das Verschwinden ihrer Kulturen und so weiter reden, unsere eigenen Wünsche und Projektionen immer mitdenken."
    Martin scheint beeindruckt. "Du klingst ja wie eine Psychoanalytikerin."
    "Ethnopsychoanalytikerin", kontert Barbara und lächelt. "Soweit ich weiß, analysieren Ethnopsychoanalytiker beim Beforschen fremder Ethnien auch ihre eigenen Gefühle und Projektionen. Ihr Psychoanalytiker nennt das ..."
    "Gegenübertragungsanalyse", sagt Martin.
    "Ja, genau, Und dass nicht nur der Blick der Ethnologen, sondern auch der von Touristen, Fernsehzuschauern und Ausstellungsbesuchern auf Indigene von Projektionen bestimmt wird, brauche ich euch nicht zu erklären. Ich vermute ja, dass sich die Projektionen und Wünsche von uns Heutigen von denen der Völkerschau‑Besucher oder manch eines Völkerschau-Besuchers nicht allzu stark unterscheiden."
    Beim Reizwort "Völkerschau" will Martin etwas sagen - Barbara ist aber schneller.
    "Waren wir vorhin zum Beispiel nicht irritiert - ich will mich da gar nicht ausnehmen -, dass diese sogenannten Schamanen Jeans- oder Trainingshosen tragen? Und jetzt hört euch das an", Barbara zückt ihr Smartphone, googelt und zitiert einen Satz aus der "Arbeiterzeitung" vom 13. Juli 1896 über die Aschantis in Wien: "Die Kleidung erscheint uns bei einzelnen entschieden europäisiert."
    Ich frage Barbara, warum sie "sogenannte Schamanen" gesagt hat.
    "Wenn wir von 'Schamanen' reden - zum Beispiel von Schamanen im Amazonas -, denken wir an authentische Rituale, 'echte' indigene Traditionen und so weiter. Genau deshalb stört es uns, wenn dann ein solcher 'Schamane' mit dem Smartphone herumhantiert. Das Wort 'Schamane' stammt nun aber nicht aus dem Amazonas, sondern aus Sibirien. Und ist irgendwann im 17. Jahrhundert über das Werk eines niederländischen Forschers ins Deutsche und dann ins Englische gelangt. Heute werden indigene religiöse Spezialisten überall auf der Welt als Schamanen bezeichnet. Ohne dabei zwischen Heilern, Magiern, Priestern und so weiter zu unterscheiden. Als Bezeichnung für indigene Heiler im Amazonas repräsentiert der Begriff 'Schamane' also alles andere als authentische lokale Traditionen. Er ist, im Gegenteil, ein moderner westlicher Import. Ein Produkt der frühen Globalisierung."
    "Aber wofür soll das ein Argument sein?", fragt Martin. "Wie wir diese 'religiösen Spezialisten' nennen, ist doch unerheblich. Es geht hier um das Sein oder Nichtsein dieser Schamanen - oder Priester oder Heiler oder wie immer du sie nennen willst. Und der Identität und der Kultur dieser Menschen.
    Idealisierungen analysieren und kritisieren
    Dem, was du über das Unbehagen am Kapitalismus und die Idealisierung indigener Kulturen gesagt hast, stimme ich allerdings zu. Das alles betrifft aber nicht die Indigenen, sondern uns. Wir sollten solche Idealisierungen analysieren - und kritisieren. Damit wir nicht - wie manche meiner linken Freunde - der Illusion aufsitzen, es könnte so etwas wie einen Widerstand vorkapitalistischer Gesellschaften gegen den globalen Kapitalismus geben. Ein Denkfehler, den ich in jungen Jahren selbst gemacht habe. Diese unsere - wie soll ich sagen - Seelenforschung wird aber weder die Rodung des Regenwaldes stoppen noch den Landraub noch das Aussterben der Schamanen."
    Mit "Denkfehler in jungen Jahren" spielt Martin auf jene Zeit an, in der er als junger linker Antiimperialist die islamische Revolution im Iran unterstützte. Eine Zeit, über die er heute nur ungern spricht.
    "Aber die Vorstellungen", sagt Barbara, "die Nicht-Indigene über Indigene haben, können sich massiv auf die Realität von Indigenen auswirken. Nehmen wir einen Bewohner einer Großstadt in Brasilien, der aufgrund jenes Unbehagens an der Zivilisation, am Kapitalismus und so weiter die Indigenen idealisiert. Und ihnen eine 'Ursprünglichkeit' und eine Verbundenheit mit der Natur zuschreibt, die sie von Angehörigen westlicher, urbaner Gesellschaften radikal unterscheidet. Wenn nun ein Indigener in die Stadt zieht, wird ihn unser brasilianischer Stadtbewohner aber nicht als authentischen, indigenen Naturburschen wahrnehmen, sondern als stinknormalen, lärmenden Nachbarn. Als Konkurrenten am - oder um den - Arbeitsplatz. Oder am Wohnungsmarkt. Dann könnten seine Idealisierungen in Ressentiments umschlagen. Vielleicht sogar in Dämonisierung."
    "Ressentiments", sagt Martin, "und das ist, glaube ich, häufiger der Fall, können aber auch ohne jede Idealisierung entstehen."
    Ich muss wieder an "Der letzte Herr des Waldes" denken. Brasilianische Medien, so der Autor Thomas Fischermann, stellen die Tenharim häufig als Wilde, Mörder und Kannibalen dar. Sollte der junge Krieger der Tenharim, jener "letzte Herr des Waldes", seinen aussichtslosen Kampf gegen Holzfäller und Landspekulanten einmal aufgeben, in die Stadt ziehen und eine Ausbildung machen, wären solche Zuschreibungen bei seiner Suche nach Arbeit und Wohnung wohl kaum hilfreich.
    Von hier aus führt mich eine Kette von Assoziationen zum Begriff der "vollen Identifizierung". Diese bezeichnet - frei nach der Philosophin Isolde Charim - die Tendenz, Angehörige "fremder Kulturen" auf "ihre Kultur" zu reduzieren. Indem man sie mit "ihrer Kultur" - oder unserer Vorstellung davon - identifiziert. Und sie als eigenständige Individuen aus dem Diskurs eliminiert.
    Mein Freund, der deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar, war nach der Veröffentlichung seines ersten Buches über französische Gegenwartsphilosophie mit Reaktionen wie dieser konfrontiert:
    "Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben Sie dann über französische Gegenwartsphilosophie? Schreiben Sie doch über Indien!"
    Die Idealisierung der "wunderbaren indischen Kultur" geht hier mit einer - recht unverhohlenen - Entwertung einher: Pravu Mazumdar wird das Recht abgesprochen, auch noch etwas anderes zu sein als Angehöriger der "wunderbaren indischen Kultur". Zum Beispiel ein Kenner der französischen Philosophie. Diesen letzten Satz würden jene "wohlwollenden Kritiker" meines Freundes aber wohl empört zurückweisen. So hätten sie es nicht gemeint. Sie seien schließlich keine Rassisten, sondern Bewunderer "fremder Kulturen". Seltsam aber, dass es diesen Bewunderern fremder Kulturen niemals einfallen würde, einem französischen Autor, der ein Buch über indische Philosophie geschrieben hat, zuzurufen:
    "Sie kommen aus Frankreich? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftigen Sie sich dann mit Indien? Schreiben Sie doch über Frankreich!"
    Inszenierte Identifikation mit der eigenen Kultur
    Als ich Barbara und Martin von den Erfahrungen Mazumdars berichte und hinzufüge, dass heute nicht nur Philosophen, sondern auch Angehörige indigener Ethnien häufig "voll" mit "ihrer Kultur" identifiziert werden, muss Barbara schmunzeln.
    "Es sind ja nicht nur wir im Westen", sagt sie, "die Angehörige indigener Ethnien 'voll' mit ihrer Kultur identifizieren. Das machen die Indigenen oft auch selbst. Und entsprechen dabei genau jenen Erwartungen, die wir von ihnen haben. Die Huni Kuin zum Beispiel sind nicht wegen ihrer eigenen Anliegen da, wie Martin behauptet, sondern wegen unserer. In dieser Ausstellung geht es nicht um die Lösung der Probleme der Huni Kuin - sondern um unsere Erlösung."
    Barbara nimmt wieder ihr Smartphone zur Hand und zitiert eine Wiener Tageszeitung:
    "Der Kunstraum Francesca Habsburgs soll ein Ort der Heilung werden. Der brasilianische Künstler Ernesto Neto schwärmt von den Huni Kuin, von ihrer gelebten Symbiose von Körper und Natur und ihrer spirituellen Vision, die unsere Welt so dringend brauche: 'Als ich den Huni Kuin begegnet bin', sagt er 'hat sich mein Leben radikal geändert. Ich bin förmlich in die Natur gesprungen und habe ihre Geheimnisse erfahren.'"
    "Überhaupt", fährt sie fort, "scheint diese unmittelbare Identifizierung von Indigenen mit ihren eigenen Traditionen und Mythen eher ein modernes Phänomen zu sein - und alles andere als 'authentisch'. Der Ethnopsychoanalytiker Octave Mannoni schreibt zum Beispiel, dass Ethnologen in Gesprächen mit Angehörigen von Stammesgesellschaften oft mit der Auskunft konfrontiert sind, man hätte früher an dieses oder jenes Ritual geglaubt. Etwa an bestimmte Masken-Rituale. Und: Mythische Erzählungen werden traditionellerweise mit Formeln wie 'es wird erzählt', 'man sagt' und ähnlichem eingeleitet. Sie sollen eine Distanzierung des Erzählers vom Mythos anzeigen. Vermutlich wird die 'volle Identifizierung' mit der eigenen Kultur und den eigenen Traditionen - so wie hier in der Ausstellung - häufig für unseren westlichen Blick inszeniert. Nicht in dem Sinn, dass uns die Huni Kuin bewusst hinters Licht führen. Eher, dass sie unbewusst auf unsere Erwartungen reagieren. Und sich dann selbst als jene durch und durch naturverbundenen, spirituellen, authentischen Menschen erleben, die wir in ihnen sehen."
    "Das sehe ich anders", sagt Martin, "wenn ein indigenes Volk seine Situation als Apokalypse erlebt, ist es verständlich, dass es sich mit seiner dem Untergang geweihten Kultur identifiziert. In der Psychoanalyse nennen wir das 'Verlustverarbeitung durch Identifizierung'."
    "In Brasilien", werfe ich ein, "steht die Apokalypse aber erst bevor. Der neue Präsident Bolsonaro, ein Rechtsextremer, der von der Militärdiktatur schwärmt, will das Militär gegen Umweltschützer und indigene Gruppen einsetzen. Und in den Naturschutzgebieten wieder Bergbauaktivitäten zulassen."
    "Gerade ein Phänomen wie Bolsonaro", sagt Barbara, "zeigt doch, wie sehr die Situation der Indigenen von den sozialen und politischen Entwicklungen in der gesamten Gesellschaft abhängt. Indigene Gemeinschaften sind eben keine isolierten Monaden, sondern Teil der Gesellschaft. Damit sie aber auch an den gesellschaftlichen Ressourcen teilhaben können, muss es für sie die Möglichkeit geben, auch noch etwas anderes zu sein als Angehörige ihrer 'eigenen' Kultur."
    Gesellschaftliche Teilhabe versus Verantwortung für das Überleben der Kultur
    "Aber wir wissen doch", sage ich, "dass der Versuch von Indigenen, an den gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben, auf massive Hindernisse stößt. Vor allem, wenn du bedenkst, dass die meisten indigenen Ethnien in unterentwickelten kapitalistischen Gesellschaften leben. Bleiben wir bei Brasilien. Dort gelten junge Indigene, die in die Stadt ziehen, um eine Ausbildung zu machen oder einen Job zu suchen, mancherorts als Mörder oder Menschenfresser. Und auch dort, wo das nicht der Fall ist, sind ihre Chancen auf ein gutes Leben nicht wirklich groß. In den letzten Jahren hat die Arbeitslosigkeit in Brasilien drastisch zugenommen. Zugleich verfolgte Temer, der Vorgänger Bolsonaros, einen strikten Sparkurs. Und schränkte die Arbeitsrechte ein. Auf der anderen Seite lockerte er Umweltgesetze und unterstützte die Agrarlobby, die sich für die Interessen der Großgrundbesitzer und der industriellen Landwirtschaft einsetzt. Also die Zerstörung der letzten Rückzugsgebiete der Indigenen forciert."
    "Volle Zustimmung", meint Barbara, "aber für Indigene, die auch etwas anderes sein wollen als Angehörige ihrer Kultur, gibt es da noch ein Hindernis: Die Angst ihrer Communities, die Teilhabe an der Gesellschaft außerhalb könnte deren traditionelle Lebensweise gefährden. Letztlich auch ihr Überleben. Je kleiner eine indigene Gruppe, desto schwerer lastet wohl die Verantwortung für das Überleben der eigenen Kultur auf den Schultern des Einzelnen.
    Bei den Nenzen zum Beispiel - das sind Rentier-Nomaden im Nordwesten von Sibirien - stößt der Wunsch der Jüngeren, einer höheren Ausbildung nachzugehen, bei den Eltern oft auf Ablehnung. Sie fürchten, ihre Kinder können in der Stadt bleiben und der Gemeinschaft verloren gehen. Das scheint besonders für Mädchen zu gelten. Wenn die nicht zurückkommen, fehlen den jungen Männern die - nenzischen - Bräute."
    Martin, der über die Nenzen ebenfalls informiert zu sein scheint, unterbricht seine Frau. Schon die Tatsache, dass viele junge Nenzen die Möglichkeit hätten, einer höheren Ausbildung nachzugehen, zeige, dass sie sich in einer weit besseren Situation befänden als indigene Gruppen in Brasilien.
    "So sehe ich das auch", sagt Barbara, "dazu kommt, dass die Nenzen in der Politik der autonomen Kreise, die sie bewohnen, gut vertreten sind, auch in den regionalen Parlamenten. Das heißt, dass sie die Gesetze, die sie betreffen, auch mitbestimmen können. Zwar halten sie an ihrer traditionellen Lebensweise fest wie kaum eine andere indigene Ethnie in Sibirien, haben aber in den politischen Institutionen Fuß gefasst. Die Zerstörung der Weideflächen ihrer Rentiere durch die Förderung von Erdgas werden sie dennoch nicht verhindern."
    "Auf der Jamal-Halbinsel", erklärt Martin, "wo die meisten Nenzen leben, befinden sich einige der größten Erdgasvorkommen der Welt."
    "Aber auch in Brasilien", sagt Barbara, "arbeiten die Indigenen mit Institutionen außerhalb ihrer Gemeinschaften zusammen. Ich denke da an Institutionen des Staates und vor allem der Zivilgesellschaft. Im August 2016 hat zum Beispiel die brasilianische Umweltbehörde IBAMA den Bau eines Mega-Staudamms in São Luiz do Tapajós gestoppt. Dem Baustopp waren jahrelange Proteste der indigenen Ethnie der Mundurukú vorausgegangen. In enger Kooperation mit katholischen Bischöfen und Umweltschützern in aller Welt. Das war allerdings vor Bolsonaro."
    Die Sprache "Unserdeutsch" als verweigerte Identität
    Auf der Heimfahrt, in der U-Bahn, google ich im Smartphone "Unserdeutsch". Eine vom Aussterben bedrohte Sprache in Papua‑Neuguinea und Australien. Martin hatte über diese vom Deutschen abgeleitete Kreolsprache eine Radiosendung gehört. Und sie kurz vor meinem Abschied ins Gespräch gebracht. Unserdeutsch entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in einer deutschsprachigen, katholischen Missionsschule in der damaligen Kolonie Deutsch-Neu-Guinea. Die Missionsschule wurde von Kindern besucht, die eine neu-guineische Mutter und einen europäischen Vater hatten. Gelegentlich stammten die Väter auch aus Japan, China oder den Philippinen. Weil sich die Schülerinnen und Schüler in den Sprachen ihrer Mütter nicht verständigen konnten - in Neu-Guinea existieren über 800 verschiedene Sprachen - unterhielten sie sich auch untereinander auf Deutsch. Entwickelten aber aus dem Deutschen eine Art Jugend- und Insidersprache - eben Unserdeutsch, das sie selbst "Unsere Deutsch", "Kaputtene Deutsch" oder "Falsche Deutsch" nannten. Und weil sie als Mischlinge sowohl von den Weißen, als auch von den indigenen Verwandten ihrer Mütter abgelehnt wurden, waren sie nach dem Ende der Schulzeit gezwungen, untereinander zu heiraten. Unserdeutsch wurde die Sprache ihrer Kinder und Kindeskinder - und ist heute noch die Muttersprache von etwa 100 Menschen in Australien und Papua-Neu-Guinea. Allerdings wird sie nicht mehr an die Folgegeneration weitergegeben. Eine sterbende Sprache, die nun von Wissenschaftlern der Universität Augsburg dokumentiert und erforscht wird.
    Dieses Unserdeutsch hat es mir angetan, vielleicht weil es mich an unseren Schuljargon in der Deutschen Schule Teheran - Gott habe sie selig - erinnert. Und das wenige, was ich bei meiner Recherche über diese einzige deutsche Kreolsprache erfahre, könnte ein neues Licht auf unser Gespräch werfen.
    Mit dem Aussterben indigener Sprachen stirbt - so heißt es gemeinhin - die kulturelle Identität der Betroffenen. Sprache und Identität erscheinen untrennbar miteinander verbunden. Identität wiederum denken wir als etwas uns Zugehöriges, Vertrautes - und Bedeutsames, das in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen der Vorfahren wurzelt.
    Welche Art Identität verbindet aber die Sprecher des Unserdeutschen? Als Einzelne verfügten jene Schülerinnen und Schüler wohl nicht über das, was wir eine einheitliche sprachliche - oder kulturelle - Identität nennen würden. Ihre Mütter waren Indigene aus Neu-Guinea, ihre Väter Europäer, Chinesen oder Japaner. Und weil sie als Mischlinge von den Weißen, aber auch von den selbstbewussten indigenen Ethnien Neu-Guineas abgelehnt wurden, konnten sie sich später, als Erwachsene, weder mit den einen noch mit den anderen identifizieren.
    Unserdeutsch entstand also in einer Situation der verweigerten - oder der Nicht-Identität. Und es ist bemerkenswert, dass die Jugendlichen nicht einfach auf Deutsch miteinander kommunizierten. Eine Sprache, die sie ausgezeichnet beherrschten. Dass sie vielmehr eine eigene Version des Deutschen entwickelten. Und dass Unserdeutsch nicht als Mittel der Kommunikation zwischen Kolonialherren und einheimischen Arbeitskräften diente - was diese Sprache von sogenannten Pidginsprachen unterscheidet. Alles das lässt sich als Akt des Widerstands interpretieren. Als Rebellion gegen die europäischen Missionare. Die Unserdeutschen rebellierten aber nicht, um zu einer - wie immer gearteten - "vorkolonialen Identität" zurückzukehren. Sie kreierten vielmehr etwas Neues, in gewissem Sinne Modernes: eine neue kosmopolitische Sprache auf der Basis des Deutschen, angereichert durch Anleihen aus Tok Pisin. Tok Pisin ist eine auf Neu‑Guinea weit verbreitete Pidginsprache, abgeleitet vom Englischen, mit zahlreichen Elementen des Melanesischen.
    Moderne nicht als Bedrohung, sondern als Versprechen
    Die Entstehungsgeschichte des Unserdeutsch erinnert an die Revolution in Haiti, die als direktes Echo auf die Französische Revolution mit einem Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint-Domingue begann. So wie die Erfinder des Unserdeutschen rebellierten auch die Haitianer nicht, um zu ihren vorkolonialen Wurzeln zurückzukehren. Sondern um die modernen Ideale der Freiheit und Gleichheit auch für sich - als Kolonialisierte und Sklaven - in Anspruch zu nehmen.
    Bemerkenswert waren die Reaktionen in Frankreich. Schon im Oktober 1789, wenige Monate nach dem Sturm auf die Bastille, wurde in der Nationalversammlung in Paris eine Delegation aus Haiti mit Begeisterung empfangen. Im April 1792 wurde die Gleichberechtigung weißer und freier schwarzer Bürger beschlossen. Und 1794 die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien. Napoleon hingegen führte 1802 die Sklaverei wieder ein und schickte Kriegsschiffe nach Haiti, um die - für Frankreich wirtschaftlich enorm wichtige - Insel zurückzuerobern. Vergeblich. Nach einem blutigen Guerillakrieg wurde Haiti 1804 unabhängig.
    Für die Revolutionäre in Haiti hatten, genauso wie für die - vornapeoleonischen - Revolutionäre in Frankreich, die Ideale der Französischen Revolution einen universellen Charakter. Mehr noch: Erst durch ihre Wiederholung in Haiti wurde dem Philosophen Slavoj Žižek zufolge das universelle Potenzial der Französischen Revolution nachträglich bestätigt. Aus dieser Sicht haben das Konzept der Menschenrechte und die Prinzipien der modernen Demokratie zwar ihren Ursprung in historischen Erfahrungen bestimmter europäischer Gesellschaften. Sie weisen aber ihrem eigenen Anspruch nach über den europäischen Kontext hinaus. Napoleon indes betrachtete Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit als eine Art "kulturelles Eigentum" von Europäern, das kolonisierten oder versklavten Nicht‑Europäern nicht zustand.
    Auf die Beziehung indigener Ethnien zur modernen Zivilisation werfen diese Überlegungen noch einmal ein anderes Licht: Die Moderne mag vielen Angehörigen indigener Ethnien - vor allem Jüngeren - nicht bloß als eine Instanz erscheinen, die ihre Lebensgrundlagen bedroht. Sondern auch als Versprechen. Ein Versprechen, das auf ein anderes, besseres Leben verweist als jenes von der Kultur und den Traditionen der Vorfahren geprägte. Schließlich ist Tradition häufig ein anderer Name für Herrschaft und Unterdrückung. Denken wir etwa an die Situation der Frauen in vielen traditionellen Gesellschaften. Und die "eigene" Kultur kann, zumal von Angehörigen der jüngeren Generation, auch als Gefängnis empfunden werden.
    Ob dieses Versprechen in Erfüllung gehen mag oder nicht, hängt nicht zuletzt von uns nicht-indigenen Angehörigen der globalen Moderne ab. Davon, ob wir - wie jene französischen Revolutionäre - den universellen Charakter der Moderne im Blick behalten. Und Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit für alle gelten lassen, unabhängig von Kultur oder Ethnie. Oder ob wir - wie Napoleon - Kategorien wie Aufklärung, Demokratie oder Menschenrechte als "kulturelles Eigentum" der Europäer auffassen, dessen Besitz sie von Angehörigen nicht-europäischer Gesellschaften kategorisch unterscheidet.