Polizeiberichterstattung

Öffentlichkeit unerwünscht

07:37 Minuten
Detailaufnahme eines Einsatzfahrzeugs der Polizei in der Dunkelheit, mit Blaulicht und dem roten Schriftzug "Unfall" im Display.
Die Videos, Fotos und Texte von Polizeipressestellen werden oft ungeprüft von Redaktionen übernommen. © picture alliance / Fotostand / K. Schmitt
Von Kai Rüsberg · 10.05.2021
Audio herunterladen
Der "Blaulichtreporter", der noch vor der Polizei am Tat- oder Unglücksort ist: ein Auslaufmodell. Heute liefern Gaffer die Bilder oder die Pressestellen der Polizei. Der Journalistenverband sieht dahinter eine bewusste Strategie der Behörden.
1995: Wenn das Telefon von TV-Kameramann Wolfgang Wiebold klingelt, wird es hektisch. Auf der Jagd nach spektakulären Fernsehbildern ist schon der Weg zum Drehort selbst ein Spektakel. Mit seiner PS-starken Limousine rast er jenseits aller Verkehrsregeln zum Einsatzort. Unterwegs wird der Polizeifunk abgehört.
"Das Auto war voll mit irgendwelcher Funktechnik und Computer. Und eine Kamera war immer irgendwie auf dem Beifahrersitz", erinnert sich Fotoreporter Christoph Reichwein. "Oder es ging darum, der Schnellste zu sein. Da war auch völlig egal, ob auf der Autobahn Schild mit 100 war, Hauptsache hin."
Nicht selten hat Wolfgang Wiebold schon die ersten Szenen gedreht, bevor die Polizei eintrifft, sagt Uwe Klein, langjähriger Leiter der Polizeipressestelle in Essen.
"Als ich junger Schutzmann war, war für mich der Wiebold auch ein Störenfried, denn er ist gleichzeitig mit uns an den Einsatzorten eingetroffen und war so erstmal für uns jemand, der stört. Man lässt sich ja auch in der Arbeit nicht immer so gern gleich auf die Finger schauen."
In den 90er-Jahren entsteht mit dem Privatfernsehen ein Bedarf an TV-Bildern, die die Schattenseiten des Lebens und damit auch das Unglück der Opfer zeigen. Der ehemalige Pressefotograf Wolfgang Wiebold versteht als einer der ersten: Gefragt ist, was Quote macht.
"Im weitesten Sinne 'Sex and Crime', aber auch Unglücke, Verkehrsunfälle. Für diese Beiträge hat er das Bildmaterial beschafft", so Polizeikommissar Klein.
Für ein spektakuläres Bild riskierte Kameramann Wiebold viel und ließ sich dabei auch von der Polizei nicht so leicht bremsen. Der Duisburger Fotograf Christoph Reichwein hat Wiebold immer wieder bei spektakulären Einsätzen getroffen, so wie bei einer Explosion im Duisburger Hafengelände, wo dieser trickreich versuchte, die Anordnungen der Behörden zu umgehen:
"Dort liegt eine Leiche, da werden keine Bilder und keine Videos gemacht. Ihr geht da bitte einfach dran vorbei. Und Wolfgang Wiebold hat dann tatsächlich beim Vorbeilaufen seine Kamera laufen gehabt und hat die im Handgelenk immer so gedreht, also immer in die Richtung."

Wenn der Gaffer selbst auf Sendung geht

Auch der Duisburger Fotoreporter Reichwein ist ständig in Alarmbereitschaft. Im Minutentakt poppen auf seinem Handy Eilmeldungen auf. Dann muss er oft schnell entscheiden, ob er zu seiner Ausrüstung greift und losfährt. Mit Unfällen, Bränden, Polizeieinsätzen verdient er sein Geld: "Die Klickzahlen sagen aus, dass solche Dinge – Mord, Totschlag, Unfall, Brand – eine enorme Begeisterung bei den Menschen hervorrufen."
Immer häufiger steht Reichwein aber in Konkurrenz zu Gaffern, die bei spektakulären Rettungseinsätzen ihre Handys zücken und selbst auf Sendung gehen.
"Ich kann mich an Unfälle erinnern, da war ich noch vor Ort, da waren bei Facebook schon Live-Geschichten zu sehen und irgendwelche Bildchen zu Hunderten. Dass da oben ein Mann bei einem Brand in seiner Wohnung verstorben ist, war dann völlig egal. Das ist der große Unterschied zur Presse, zum Journalismus. Da wird alles rausgehauen."
Die Presse hat dagegen einen immer schwereren Stand, kritisiert Reichwein. Einerseits ist inzwischen der Polizeifunk abhörsicher und fällt als Quelle weg. Andererseits hat sich auch die Pressearbeit der Polizei verändert:
"Heute geht das nicht mehr. Die Presse wird zwar informiert, aber erst dann, wenn die Lage im Prinzip sondiert ist, wenn Polizei und Feuerwehr wissen: Okay, hier ist dieses und jenes los, und dann stehen auch schon Absperrungen."

Pressestellen liefern fertige Videos, Texte und Fotos

In der Folge gibt es immer seltener Fotos, TV-Bilder und Töne direkt vom Einsatzgeschehen, die durch unabhängige Journalisten gemacht werden. Die Arbeit der Behörden verschwindet dadurch aus der öffentlichen Beobachtung. Vielen Mitarbeitern der Einsatzkräfte ist das auch nicht unrecht. Die Pressestellen liefern jetzt selbst fertige Videos, Texte und Fotos.
"Eine ganz schwierige Geschichte", findet Christoph Reichwein. "Ich glaube, es ist nicht der Auftrag der Polizei und der Feuerwehr, die Allgemeinheit mit Foto und Video darüber zu informieren, was da passiert ist. Aber die Fotografen und Videoleute verdienen dann eben auch kein Geld mehr. Warum sollen eine Redaktion, ein Verlag oder ein Sender etwas von einem Fotografen oder Videofilmer nehmen, wenn sie es kostenlos von irgendwelchen Behörden kriegen?"
Auch Uwe Klein, als Polizeisprecher pensioniert, sieht diese Professionalisierung kritisch:
"Die Berichte, die rausgegeben werden, sind heute ganz anders in der Diktion, in der Aufbereitung, auch mit Fotos. Früher war das nicht der Fall, und heute wird es gerade in den Online-Redaktionen eins zu eins übernommen. Da wird doch gar nicht mehr recherchiert, sondern man verlässt sich darauf, was die Behörde rausgegeben hat."

Eine bewusste Strategie, um Journalisten fernzuhalten?

Der bayerische Journalistenverband hat gegen die Praxis in einem Fall in München geklagt, aber in erster Instanz verloren. Frank Überall, Vorsitzender der Deutschen Journalistenverbands DJV, sieht ein Muster hinter dieser Strategie:
"In manchen Kommunen hat man auch den Eindruck, man informiert ganz bewusst nicht, weil man halt eigene Bilder erzeugen will. Zum Beispiel kann bei einer Festnahmesituation der Polizei, kann bei einem Brand auch mal was schieflaufen. Da Kann man auch schlicht und einfach mal was falsch machen, und dann ist es ja eigentlich ganz praktisch und ganz bequem, wenn kein kritischer Journalist, keine kritische Journalistin danebensteht und die Bilder aufnimmt, die man eigentlich gar nicht selbst gesendet sehen möchte."
Der Journalist Frank Überall
Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes, sieht den Journalismus durch die Behördenpraxis in seiner Kontrollfunktion beschränkt.© imago / Sven Simon
Aber brauchen wir denn überhaupt solche Bilder vom Leid der Verletzten, vom Schmerz der Opfer, von der Verzweiflung der Angehörigen? Ist es wirklich ein Problem, wenn die Blaulichtberichte weniger werden oder die Behörden zunächst vorsortieren, ob der Schutz der Betroffenen gewährt ist? Der DJV-Vorsitzende sagt: Ja. Behörden dürften nicht vorfiltern, was die Presse zu sehen bekommt oder welche Informationen sie erhält:
"Dann gehört natürlich auch dazu, was an Negativem im Leben passiert. Unfälle, Katastrophen, ja, auch darüber muss berichtet werden, auch da wollen wir natürlich sehen, was passiert. Unsere Aufgabe als Journalisten ist es, das eben sichtbar zu machen."

Öffentliches Interesse an unabhängiger Berichterstattung

Das bedeute aber nicht, dass jegliche Unfallbilder von Verletzten oder Toten gesendet werden sollten, doch die Auswahl passiert erst vor der Veröffentlichung. Der Pressekodex, das Strafgesetzbuch und der Jugendschutz setzen Grenzen. Unangemessene Darstellung von Gewalt oder Leid wird so verhindert. Polizeisprecher Klein versteht als Amateurfotograf dieses Anliegen von Journalisten. Er meint, auch die Behörden sollten sich dafür stark machen, ihre Arbeit zu unterstützen.
"Natürlich gibt es ein öffentliches Interesse, und die Polizei ist Teil der Öffentlichkeit und nicht nur Selbstzweck. Also, da gibt's schon ein Recht, das ist ein Teil unserer Demokratie. Das ist schon Aufgabe, und da hat der Bürger Anspruch drauf."
Auch heute gibt es noch Blaulichtreporter, die Nachfolger von Wolfgang Wiebold. Aber es sind weniger und ihre Arbeit ist schwieriger geworden.
Mehr zum Thema