Politologe zur sozialen Lage in Frankreich

Kampf um Fairness und Anerkennung

29:43 Minuten
Protestierende halten brennende und rauchende Fackeln hoch.
Jüngste Proteste gegen die Rentenreformpläne der französischen Regierung. © picture alliance / NurPhoto / Jerome Gilles
Moderation: Susanne Führer · 08.02.2020
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Die Streiks und Proteste in seinem Land hält der französische Politologe Yves Sintomer nicht nur für einen Kampf um Einkommen. Die Bevölkerung fühle sich von der Regierung vernachlässigt – und das schlage um in Wut auf die Eliten.
Warum wird in Frankreich erst gestreikt und dann verhandelt? Weil das politische System Frankreichs den Bürgern keine andere Wahl lässt, wenn sie gehört werden wollen, sagt der französische Politikwissenschaftler Yves Sintomer. Deutschland hingegen verfüge über eine Ordnung mit verschiedenen, gleich starken Akteuren: Arbeitgeber und Gewerkschaften, Regierung und Parlament, auch der Föderalismus trage zu ausgeglichenen Machtverhältnissen bei.
Frankreich aber sei eine "monarchistische Republik". Der Präsident verfüge über eine überragende Stellung und habe es daher nicht nötig, mit anderen zu verhandeln.

Wut auf die Eliten

Die Proteste der Gelbwesten vor einem Jahr und die jüngsten großen Streiks gegen die Rentenreform deutet Sintomer als einen "Kampf um Anerkennung". "Die Anerkennung ist materiell: Ich muss fair verdienen. Und sie ist symbolisch: Ich muss als Bürger, als Mensch anerkannt werden. Ich muss gehört werden. Meine Gefühle, meine Interessen müssen beachtet werden."
Viele Bürgerinnen und Bürger hätten das Gefühl, "die Eliten hören nicht zu, sie kümmern sich nicht um mich oder andere Menschen, die wie ich leben." Aus diesen Gefühlen speise sich die Wut, die in den Protesten und Streiks zu finden ist. Macrons Politik der vergangenen zwei Jahre habe die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht.

Warnung vor der extremen Rechten

Die nächste Präsidentschaftswahl gibt es erst 2022. Aber wenn nicht noch etwas Positives passiert, dann – warnt Yves Sintomer – werde die Alternative Marine Le Pen lauten.
"Eine Polarisierung zwischen Macron und Le Pen ist sehr gefährlich, weil viele Menschen, auch Linke und Leute, die nicht besonders xenophob, rassistisch oder autoritär sind, sich für Le Pen entscheiden könnten, um zu sagen: ‚Wir wollen Macron nicht!`‘"
(sf)

Yves Sintomer, Studium der Geschichtswissenschaft und der Sozialgeschichte, 1996 Promotion in Sozial- und Politikwissenschaft, 2001 Habilitation in Soziologie. 2002 Professor für Soziologie an der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis, seit 2010 für Politikwissenschaft. Seit 2011 Ko-Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Paris 8 Vincennes-Saint-Denis und seit 2012 Mitglied des Institut Universitaire de France. Gastprofessuren, Lehraufträge und Forschungsaufenthalte unter anderem an der Harvard University, dem Italian Institute for Philosophical Studies in Neapel, der Universität in Catania, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität von Neuchâtel sowie dem Institut für Sozialforschung.


Hier das ganze Interview:

Deutschlandfunk Kultur: Was ist nur in Frankreich los? Erst die Proteste der Gelbwesten, jetzt die Streikwelle gegen die Rentenreform – da fragt man sich ja als deutscher Mensch: Haben unsere Nachbarn den Blick für die harte wirtschaftliche Realität verloren? Oder gehören sie vielleicht zu den Letzten in Europa, die sich dem neoliberalen Markt verweigern?
Die Verwunderung vieler Deutscher begann schon mit dem Beginn der Streiks. Die Details der Regierungspläne für die Reform der Rente waren noch gar nicht bekannt, da wurde schon gestreikt. In Deutschland legen erstmal beide Seiten ihre Forderungen vor. Dann wird verhandelt. Und wenn das nichts bringt, dann wird gestreikt. Das ist in Frankreich offenbar anders.
Sintomer: Weil Deutschland und Frankreich anders sind. In Deutschland gibt es eine wirkliche Diskussion zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern, auch der Regierung. Und es gibt ein System, in dem die Gleichgewichte sehr stark sind – Föderalismus, Gewerkschaften ...
Deutschlandfunk Kultur: … die Sozialpartnerschaft ...
Sintomer: … ja, das Parlament und die Regierung. In Frankreich ist das anders. Frankreich würde ich als eine monarchistische Republik beschreiben, seitdem de Gaulle die V. Republik gegründet hat, blieb es so. Der Präsident scheint zumindest allmächtig. Deswegen ist es oder scheint es für eine Regierung nicht nötig zu sein, wirkliche Verhandlungen zu führen. Deswegen denken die Leute: "Wenn ich jetzt nicht reagiere, dann ist es zu spät. Die einzige Möglichkeit, um meine Stimme bemerkbar zu machen, ist der Protest."
Dazu kommt: Präsident Macron ist in einer besonderen Lage. Er hat keine wirkliche Partei. La République en Marche regiert nur in sehr wenigen Städten.

Frankreich – eine "monarchistische Republik"

Deutschlandfunk Kultur: La République en Marche ist die Partei Macrons, die hat er gegründet, um als Präsident gewählt werden zu können.
Sintomer: Ja, sie ist aber eine sehr schwache Partei, die Partei des Präsidenten. Sie ist in der Gesellschaft nicht verwurzelt. Deswegen ist diese Regierung isolierter als es früher die Regierung Hollande oder die Regierung Sarkozy war. Deswegen gibt es keine Kommunikation.
Deutschlandfunk Kultur: Macron wurde vorgeworfen, dass er und auch seine Regierung diese Rentenreform so unheimlich schlecht kommuniziert haben, dass sie sich gar nicht bemüht haben, sie der Bevölkerung zu erklären. Hat er das nicht nötig?
Sintomer: Ich denke nicht, dass es ein Problem der Kommunikation oder der Erklärung ist. Das Problem war, dass der Inhalt der Reform nicht klar war, auch der Regierung nicht. Noch letzte Woche hat der Conseil d’État - das ist eine Art Oberkammer, die die Gesetze prüft - geschrieben, dass die Zahlen unklar sind, dass man nicht wirklich weiß, welche Konsequenzen die Reform haben wird.
Das heißt, wir wissen nicht wirklich, was passieren wird, wenn diese Reform umgesetzt wird. Deswegen ist es sehr schwer, einverstanden zu sein oder überzeugt zu werden.

Hohe Arbeitslosigkeit bei Älteren

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben vorhin gesagt, dass die Menschen streiken, weil sie Angst haben, dass sonst ihre Stimme gar nicht gehört wird. Das scheint ja ein Prozedere zu sein, was tatsächlich immer wieder funktioniert: Die Regierung hat Pläne, es gibt große Streikbewegungen, die Regierung zieht die Pläne entweder ganz zurück oder in Teilen.
Das ist diesmal auch passiert. Eigentlich sollte das Renteneintrittsalter in Frankreich von 62 auf 64 Jahre erhöht werden. Kleine Randbemerkung: Aus deutscher Sicht beneidenswert, wir bewegen uns ja gerade auf die Rente mit 67 zu. Aber dieses Vorhaben wurde aufgrund der großen Streiks und Proteste erst einmal zurückgenommen. Erst einmal. Kann man sagen, das ist ein Erfolg der Streikenden gewesen?
Sintomer: Ja, die öffentliche Meinung ist ganz klar gegen die Reform. Und das nicht nur, weil die Franzosen den Protest mögen. Es gibt andere Gründe. Welche Folgen hat die Reform konkret? In Frankreich werden die Menschen ab 55 häufig entlassen, sie werden arbeitslos und finden keinen Job mehr. Bei dieser Lage erst mit 64 - oder sogar 67 wie in Deutschland -, Rente zu bekommen, bedeutet, dass die Leute sehr lange arbeitslos sind und anschließend eine sehr geringe Rente beziehen werden.
Man muss diesen Mechanismus verstehen. Wenn die Arbeitsmarktsituation für die über 55-Jährigen anders wäre, dann wäre so eine Reform vielleicht richtig und vernünftig.

Das französische Rentensystem ist ungerecht

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gerade gesagt, die öffentliche Meinung ist ganz klar gegen die Reform. Auf der anderen Seite ist das aktuelle Rentensystem wirklich ungerecht. Je nach Beruf zählt ein Euro, der in die Rentenkasse eingezahlt wird, mal mehr, mal weniger. Das findet auch die Mehrheit der Franzosen, soweit ich aus Umfragen weiß, ungerecht und findet es eigentlich angebracht, dass das System reformiert werden muss.
Sintomer: Natürlich. Das System jetzt ist ungerecht. Es ist im Prinzip nicht ungerecht, dass diejenigen, die körperlich schwer arbeiten, weniger Jahre arbeiten müssen. Ich zum Beispiel bin Professor an der Universität. Für mich ist es okay, bis 66 oder 67 Jahre zu arbeiten. Aber für einen Bauarbeiter, der statistisch gesehen viel früher sterben wird als ich, wäre es fair, dass er weniger arbeitet als ich.
Deswegen könnte man sich vorstellen, dass wir ein gerechtes System einführen. Aber das muss wirklich gerechter werden.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, denn es ist nicht der Bauarbeiter, der heute mit 52 in Rente geht, sondern der Lokführer. Früher hat er vielleicht noch die Kohlen geschaufelt, aber das ist ja nun vorbei. Insofern kann man sagen, es ist doch einfach ungerecht, dass Mitarbeiter der staatlichen Bahn mit 52 in Rente gehen und dann auch noch eine sehr, sehr hohe Rente bekommen im Vergleich zu vielen anderen.
Sintomer: Ja, das stimmt. Aber warum ist die öffentliche Meinung gegen die Reform? Weil die Leute denken: Okay, es wird vielleicht weniger Geld geben für die Leute, die für die Bahn arbeiten, aber ich selbst werde ein schweres Leben haben, denn wenn ich bis 64 Jahren arbeiten muss und wenn ich ab 55 oder 57 arbeitslos bin, dann wird es schwer. Die Leute sehen, was die anderen verlieren werden, aber sie verstehen auch, dass die Gefahr besteht, dass sie auch etwas verlieren werden.

Macron macht Politik für die Reichen

Deutschlandfunk Kultur: Die drei großen Werte der französischen Republik lauten: Liberté, Egalité, Fraternité - die Parole der Französischen Revolution. Und die Egalité, die Gleichheit, manchmal auch zu übersetzen mit Gerechtigkeit, wird zwar immer im Munde geführt, aber ich habe den Eindruck, dass es bei den jetzigen Protesten darum gar nicht geht, sondern es geht darum – korrigieren Sie mich –, dass jeder seine eigenen Privilegien behalten will.
Sintomer: Ich meine, das ist komplexer. Einerseits ist es so: Die Leute, die heute ganz gut verdienen, haben dafür in Streiks oder mit einer starken Gewerkschaft gekämpft. In dieser Hinsicht könnte man sagen: Okay, das ist ein Privileg. Aber andererseits ist klar, dass die zwei ersten Jahre des Präsidenten Macron als Konsequenz die Reichen etwas reicher gemacht haben und die Armen etwas ärmer. Deswegen geht es nicht um Privileg gegen Gerechtigkeit. Es herrscht das Gefühl, dass sich die Ungleichheit verstärkt und dass man das vermeiden muss.
Das Problem besteht darin, dass die Gegner gegen die Reform sind, es aber nur wenig Diskussion über eine gute und gerechte Reform gibt.
Deutschlandfunk Kultur: Ich werfe kurz ein: In Frankreich liegen die Renten höher als in den meisten Ländern der OECD. Sie liegen auch höher als in Deutschland - was nicht unbedingt ein Argument sein soll, denn warum soll es Rentnern nicht gut gehen? Aber in Frankreich liegt das Einkommen der Rentner über dem Durchschnittseinkommen der Beschäftigten. Das ist schon ungewöhnlich. Die Rentner haben 103 Prozent des Durchschnittseinkommens der Menschen, die noch arbeiten.
Sie haben gerade gesagt, dass in den zwei Jahren der Präsidentschaft Macrons die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden sind. Das heißt, dieser populäre Vorwurf, Macron sei ein Präsident der Reichen, der lässt sich tatsächlich belegen, das stimmt ökonomisch gesehen?
Sintomer: Ja.

Die Regierung hört das Volk nicht

Deutschlandfunk Kultur: Sind denn die Streikenden der vergangenen Wochen und Monate - vor allem im Dezember und im Januar wurde ja sehr viel gestreikt -, eigentlich dieselben, die vor einem guten Jahr zu den Gilets Jaunes, zu den Gelbwesten gehört haben und damals versucht haben, das Land mit ihren Protesten lahmzulegen?
Sintomer: Nein. Das sind nicht dieselben. Die Gelbwesten waren Leute, die auf dem Land oder in der Peripherie der Städte leben und zur Mittelschicht gehören, der unteren Mittelschicht und oberen Unterschicht. Häufig leben sie in einer Eigentumswohnung und müssen fahren, um zu arbeiten.
Diejenigen, sie sich im Dezember und Januar mobilisiert haben, sind Arbeitnehmer, die noch in Gewerkschaften organisiert sind, die eher in der Stadt wohnen. Es handelt sich quasi um zwei verschiedene Völker. Aber – und das ist paradox – beide Bewegungen haben gesagt: "Die Regierung hört nicht zu, sie verhandelt nicht und sie macht eine Politik, die ungerecht ist."
Die Lage Frankreichs ist deswegen nicht einfach.

Kampf um Anerkennung

Deutschlandfunk Kultur: Und bei beiden Bewegungen hat man den Eindruck bekommen, die Wut ist ungemein groß. Warum ist die Wut so groß?
Sintomer: Der große deutsche Philosoph Axel Honneth hat das Buch "Kampf um Anerkennung" geschrieben. Die Leute wollen anerkannt werden. Die Anerkennung ist materiell, ich muss fair verdienen, und sie ist symbolisch. Ich muss als Bürger, als Mensch anerkannt werden. Ich muss gehört werden. Meine Gefühle, meine Interessen müssen beachtet werden.
Ich denke, dass viele, viele Menschen das Gefühl haben, dass sie nicht anerkannt werden. Die Wut speist sich aus diesen Gefühlen: "Die Eliten hören nicht, sie kümmern sich nicht um mich oder andere Menschen, die wie ich leben. Sie machen eine Politik nur für sich und eine kleine Gruppe." – Und die Leute ärgern sich.
Deutschlandfunk Kultur: Aber es ist ein bisschen verrückt. Insoweit ich das verstanden habe, profitieren von den aktuellen Rentenreformplänen der Regierung vor allem die Geringverdiener. Das wird aber offenbar wenig gesehen in Frankreich.
Sintomer: Das wurde nicht jetzt entschieden, sondern nach der Gelbwesten-Bewegung. Das war ein Erfolg der Gelbwesten-Bewegung: Die Renten für die Menschen, die weniger als 1000 Euro Rente haben, wird auf 1000 Euro erhöht; und es gibt eine etwas geringere Rentenerhöhung für diejenigen, die zwischen 1000 und 2000 Euro haben.
Aber das war schon zuvor entschieden worden. Die Reform umfasst noch viele andere Punkte.

Gewinnen könnte die extrem Rechte

Deutschlandfunk Kultur: Herr Sintomer, sprechen wir doch einmal darüber: Wer profitiert eigentlich von den jüngsten Protesten und Streiks?
Sintomer: Was meinen sie mit "profitiert"?
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe öfter gehört, dass eigentlich Marine Le Pen vom Front National, der inzwischen Rassemblement National heißt, die Gewinnerin ist.
Sintomer: Das wissen wir noch nicht, das ist noch nicht klar. Die Bewegung ist noch nicht an ihrem Ende, auch wenn die Streiks jetzt beendet sind. Und es dauert noch Jahre bis zur nächsten Präsidentenwahl. Es ist aber sicher, dass – wenn nicht noch etwas Positives passiert – die Alternative Marine Le Pen und die extrem Rechte sein werden. Das war vor zehn Jahren noch unvorstellbar. Heute ist es eine Möglichkeit. Eine Polarisierung zwischen Macron und Le Pen ist sehr gefährlich, weil viele Menschen, auch Linke und Leute, die nicht besonders xenophob, rassistisch oder autoritär sind, sich für Le Pen entscheiden könnten, um zu sagen: "Wir wollen Macron nicht!"
Deutschlandfunk Kultur: Man hat ja jetzt schon den Eindruck, dass die alte Trennung, die in Frankreich Jahrzehnte lang galt, die Trennung zwischen Links und Rechts, jetzt aufgehoben ist. Das haben wir bei den Gelbwesten gesehen, das haben wir jetzt auch bei den Streiks gegen die Rentenreform gesehen. In den Talkshows sitzen Politiker von La France Insoumise, eigentlich eine linke Partei, und dem Rassemblement National, also eigentlich einer rechten Partei, einträchtig nebeneinander und üben dieselbe Kritik an Macron.
Sintomer: Es ist natürlich nicht immer dieselbe Kritik, aber teilweise schon. Die Zeit der Volksparteien ist vorbei, das ist nicht nur in Frankreich so. Gucken Sie nach Deutschland, auf die SPD. Das erleben wir in ganz Europa. In Frankreich ist diese Entwicklung aber besonders stark, hier war die Polarisierung sehr groß, eine Große Koalition existiert in Frankreich nicht. Weil es kein Gleichgewicht durch den Föderalismus gibt, war die Polarisierung und ist die Polarisierung traditionell stärker. Das ist vorbei.
Was passiert danach? Das wissen wir noch nicht. Ich denke aber, dass wir, wenn wir keine Demokratisierung der Demokratie, keine Demokratisierung des Systems unternehmen, dass die Szenarien dann sehr schwarz sind.

Frankreich braucht mehr Demokratie

Deutschlandfunk Kultur: Wie könnte das aussehen, eine Demokratisierung der Demokratie in Frankreich?
Sintomer: Die Regierung hat einen Bürgerkonvent für das Klima organisiert. Die Mitglieder sind Bürger, die durch Losverfahren bestimmt wurden. Die sollen Vorschläge für eine Klimapolitik machen. Das könnte ein Weg für eine Demokratisierung der Demokratie sein, eine deliberative Demokratie im Sinne der Demokratie, in der eine gute Diskussion zwischen "einfachen" Bürgern stattfinden kann und ein Dialog entwickelt werden kann – jenseits der Polarisierung.
Man könnte auch wie in der Schweiz oder auf der lokalen Ebene in Deutschland Bürgerbegehren und Bürgerentscheide entwickeln. Man könnte auch zumindestens in Teilen eine politische Klasse haben, die weniger professionalisiert wäre. In Frankreich bleibt man ewig in der Politik, auch wenn man erfolglos ist. Gerhard Schröder ist vorbei, er macht jetzt was anderes. Ségolène Royal oder Sarkozy möchten weitermachen. Wir haben ein System des Stillstands.

Folgen der Globalisierung polarisieren

Deutschlandfunk Kultur: Herr Sintomer, Sie haben von der Polarisierung, von der Spaltung Frankreichs gesprochen. Diese Diagnose von der "gespaltenen Gesellschaft" wird heute geradezu inflationär verwendet. Auch in Deutschland wird von einer gespaltenen Gesellschaft gesprochen, in den USA, in Großbritannien – und auch in Frankreich. Wo verläuft denn diese Spaltung, zwischen welchen Gruppen in Frankreich?
Sintomer: Man könnte sagen, es gibt diejenigen, für die die Globalisierung positive Folgen hat oder zumindestens von ihnen positiv gesehen wird. Und es gibt die Leute, die diese Globalisierung als Gefahr empfinden. Das ist eine sehr starke Polarisierung. Es gibt die, die in Paris wohnen, relativ gut verdienen oder sogar sehr gut verdienen. Und es gibt die, die in Regionen wohnen, wo es weniger öffentliche Infrastruktur gibt als früher, wo es schwer ist, Arbeit zu finden. Diese Leute haben das Gefühl, "wir verlieren und werden noch mehr verlieren".
Die Demokratie war stabil in Frankreich, in Deutschland oder in den USA in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, weil Europa und die USA im Zentrum der Welt waren. Heute ist das anders. Wie kann man eine gerechte Gesellschaft erschaffen in dieser neuen Lage? Das ist eine schwierige Frage.

Eine Gesellschaft braucht Streit – und Konsens

Deutschlandfunk Kultur: Das ist eine schwierige Frage für viele Gesellschaften. Aber kommen wir nochmal zu Frankreich und zu einem wesentlichen Unterschied zu Deutschland – Ost wie West –, Nachkriegsdeutschland: Man hatte in Deutschland immer Angst vor wirklichem Streit, vor Antagonismen, vor Spaltung. Anders in Frankreich: Ich habe den Eindruck, die Franzosen haben ganz gut damit gelebt, dass es diesen Streit gab, diese Auseinandersetzung. Aber heute, spätestens heute fragt man sich doch: Wer bemüht sich eigentlich noch um einen gesellschaftlichen Konsens? Tut das überhaupt jemand?
Sintomer: Ich weiß es nicht. - Natürlich ist die Geschichte Frankreichs und Deutschlands verschieden. Für Frankreich ist die große Revolution sehr wichtig in der Vorstellung. Wenn man streikt, kann man immer sagen: "Ich mache, wir machen es wie früher. Wir wollen mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit!"
Aber natürlich, in einer Gesellschaft muss es Konflikte, aber auch einen Konsens geben. Und es gab einen Konsens in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Grundsätzlich war der Wohlfahrtsstaat akzeptiert – bei der Linken und bei der Rechten mit verschiedenen Visionen, aber akzeptiert. Das ist vorbei. Wie kann man einen Konsens herstellen, der Streit ermöglicht, aber Streit auf einer gemeinsamen Basis? Das ist völlig unsicher.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe den Eindruck, dass Frankreich schon seit einiger Zeit eigentlich immer nur in einem großen "Dagegen" etwas bewegen kann. Es ist immer ein Dagegen, dass sich etwas ändert. Sie haben vorhin gesagt, Herr Sintomer, es gibt keine Diskussion darüber, wie ein gerechtes Rentensystem aussehen könnte. Es scheint sehr wenig produktives Dafür zu geben. Ich will nicht sagen, dass das in Deutschland besser wäre, gar nicht, wir reden hier aber vor allem über Frankreich.
Sintomer: Ja, das stimmt. Wenn ich gesagt habe, dass es keine Diskussion darüber gibt, wie eine gute, gerechte Reform aussehen könnte, dann war das zwar übertrieben. Aber es stimmt doch, dass die Leute mehr dagegen als dafür sind. Wir haben in Frankreich ein Problem: Frankreich war einmal eine große Nation. Französisch war eine wichtige Sprache in der Welt. Wir hatten ein Reich, Kolonien usw. Und wir haben sehr große Schwierigkeiten, jetzt zu verstehen, dass die Welt sich ohne uns bewegt und wir nicht aktiv dabei sind. Wir denken, dass unser System, "le modèle français", das französische Modell, besonders gut ist. Man sagt ja sehr oft, dass die Franzosen arrogant sind. Das stimmt auch. Wir verstehen nicht, dass wir auch von den anderen lernen können.

Frankreich träumt von vergangener Größe

Deutschlandfunk Kultur: Wissen Sie, was ich erstaunlich finde? Diese Analyse habe ich schon vor 30 Jahren gehört, dass Frankreich immer noch nicht verdaut hat, dass es keine Weltmacht mehr ist, also in den 80er-Jahren. Jetzt haben wir 2020.
Sintomer: Ja. Und? Nix hat sich verändert. Oder, was hat sich verändert? Vor 30 Jahren glaubten die Franzosen noch, dass sie eine Großmacht waren und dass die Entwicklung weiter positiv sein wird. Jetzt haben sie das Gefühl, alles wird schlechter, aber sie haben noch nicht anerkannt, dass man, um das zu vermeiden, sich anpassen muss.
Aber Anpassen meint nicht, dass man alles nachmachen muss, was die anderen schlecht machen. Aber man muss die Welt beobachten und Reformen machen, die nicht nur für eine kleine Gruppe, sondern für die ganze Gesellschaft oder für die große Mehrheit der Gesellschaft gut sind. Das ist noch sehr schwer.
Deutschlandfunk Kultur: Dann kommen wir mal zu der Eingangsfrage. Wie lautet denn nun die Analyse? Sind die Franzosen die Letzten, die sich gegen einen neoliberalen Mainstream wehren? Oder sind sie die Letzten, die einfach die harte Wirklichkeit nicht anerkennen wollen?
Sintomer: Beides! Beides! Weil ihnen nicht bewusst ist, dass die Wirklichkeit anders ist als vor 40 Jahren. Wenn die Welt sich nicht verändert in Richtung mehr Gerechtigkeit, in Richtung einer ökologischen Transition, dann wird die Zukunft sehr schwarz. Dafür muss man kämpfen.
Aber nur in der Vergangenheit zu denken und die Vergangenheit zu verteidigen, das reicht natürlich nicht.

Antworten für die Zukunft? Nicht aus Frankreich

Deutschlandfunk Kultur: Genau. Genauso gut könnte man sagen: Wenn Frankreich sich nicht ändert, dann wird die Zukunft schwarz.
Sintomer: Wolf Biermann, der deutsche Liedermacher, hatte damals geschrieben: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu." Ich denke, das könnte ein Leitmotiv sein.
Deutschlandfunk Kultur: Noch eine letzte Frage: Gibt es etwas, was die Deutschen von Frankreich lernen könnten?
Sintomer: Ja, sie können stolz darauf sein, dass Deutschland ein föderaler Staat ist und dass die Gewerkschaften stärker sind als die französischen Gewerkschaften. Sie können vielleicht auch darüber nachdenken: Wo ist die gegenwärtige Gesellschaft ungerecht? Aber die Alternative wird wahrscheinlich nicht in Frankreich gefunden werden.
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