Politologe Wolfgang Merkel

"Ungleichheit in Deutschland wächst"

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Merkel
Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Merkel © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Moderation: Martin Steinhage · 21.05.2016
Wie sind Einkommen und Vermögen in Deutschland verteilt, was ist mit der Chancengleichheit? "Ein Drittel der Gesellschaft ist uns weggebrochen", warnt der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast in dieser Ausgabe von "Tacheles" ist der Politikwissenschaftler und Demokratieforscher Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Guten Tag, Professor Merkel.
Wolfgang Merkel: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Sprechen wollen wir über die große Frage, wie es um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland steht. Herr Merkel, seit einiger Zeit wird mal wieder sehr kontrovers über diese Frage diskutiert. Wie lautet, auf den Punkt gebracht, Ihre Antwort, die Antwort des Politikwissenschaftlers?
Wolfgang Merkel: Das sind zwei ganz große Begriffe – soziale Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit. Beide sind aber nicht identisch. Wir werden in dem Gespräch auseinanderhalten müssen, was soziale Ungleichheit ist und was soziale Ungerechtigkeit bedeuten kann. Beide haben Verbindungen miteinander, sind aber nicht das Gleiche.
Deutschlandradio Kultur: Aber grundsätzlich würden Sie sagen, die Ungleichheit in Deutschland nimmt zu?
Wolfgang Merkel: Ich würde sogar weiter gehen. Sie nimmt zu, und zwar in unterschiedlichen Dimensionen, nicht in allen, das muss man sagen. Aber ich meine auch, die Ungerechtigkeit ist keineswegs abgebaut worden bei uns in den letzten 30 Jahren.
Deutschlandradio Kultur: Ähnlich wie Sie argumentiert die DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Der schreibt: "Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt." Dagegen meint Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft: "Trotz der gestiegenen Ungleichheit sind die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen kaum je geringer gewesen als heute." Und die renommierten Ökonomen Lars Feld und Christoph Schmidt sprechen gar von einer "Empörungsmaschinerie" und einem "unzutreffenden Narrativ", wenn behauptet wird, dass die soziale Gerechtigkeit respektive die Gleichheit in Deutschland auf dem Rückzug seien. – Haben wir es hier also mit einem stark ideologisch besetzten Thema zu tun?
Wolfgang Merkel: Ja. Die Wirtschaftswissenschaften sind weniger, als sie sich selbst häufig porträtieren, völlig objektive, an Zahlen orientierte, gleichsam mathematische Wissenschaften. Sie sind in Deutschland, wie auch im weltweiten Maßstab, durchaus von Ideologien besetzt. Es gibt unterschiedliche Zielvorstellungen, aber auch unterschiedliche Ausgangsvorstellungen. Und meistens fokussiert sich das auf die Frage: Welche Rolle sollen Märkte spielen? Wie weit sollen Märkte reguliert oder dereguliert werden? Und welche Rolle spielt letztendlich der Staat?
Und Sie haben aus einer liberalen Sicht, manchmal aus einer neoliberalen Sicht, in der deutschen Tradition einer ordnungspolitischen ordoliberalen Sicht die Idee, dass Märkte möglichst ungestört operieren sollen, und zwar deshalb, weil sie nicht nur dynamischer werden und mehr Wohlfahrt produzieren, sondern – und jetzt kommt die Gerechtigkeitstheorie mit ins Spiel – letztendlich auch den am wenigsten Begüterten und Begünstigten in unserer Gesellschaft stark nutzen. Es gibt so etwas wie ein "trickle down", einen Durchsickereffekt von oben nach unten. Das wird nicht von allen geteilt, aber von denen, die stark auf den Markt, stark auf eine liberale Wirtschaftskonzeption setzen. Und Herr Hüther, den Sie genannt haben, der steht sicherlich am stärksten auf diesem ideologischen Feld.

"Das große Versprechen der 70er-Jahre ist nicht gelungen"

Deutschlandradio Kultur: Versuchen wir es mal zu ordnen. Unstrittige Kriterien bei der Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder nach Gleichheit in einer Gesellschaft sind sicherlich die Einkommensverteilung, die Vermögensverteilung sowie die Chancengleichheit – und da vor allem der Zugang zu Bildung. Beginnen wir mal mit der Bildung: Wo stehen wir da in Deutschland?
Wolfgang Merkel: Leider stehen wir da ganz schlecht. Das rechnet uns die OECD, also die Organisation, die wissenschaftliche Organisation der ökonomisch am weitesten entwickelten Staaten, nunmehr mit Regelmäßigkeit seit 15 Jahren vor, dass unser Bildungssystem am wenigsten im OECD-Maßstab eine soziale Mobilität erleichtert. Heißt, dass diejenigen Kinder, die von Nichtakademikern aufgezogen werden, am seltensten – 20 Prozent von ihnen nur – an die Universitäten gehen, während für Akademikerkinder von vornherein es klar vorgezeichnet ist, dass sie in ihrer übergroßen Mehrheit, über 70 Prozent, an die Universitäten gehen.
Also, das große Versprechen gerade in den Umwälzungen der 1970er-Jahre, über Bildung eine neue flexible Gesellschaft, nicht ständisch oder gar in Klassen organisiert zu schaffen, ist über die Bildung nicht gelungen.
Deutschlandradio Kultur: Im OECD-Vergleich steht Deutschland insgesamt im Mittelfeld. Das ist nicht befriedigend für eine Nation, die so wirtschaftsstark ist und, wie Sie schon sagten, es ist immer noch entscheidend, wo man herkommt. Also, das ganze System ist sozial sehr selektiv. Da sind sich im Übrigen auch fast alle Ökonomen einig an der Stelle, dass es da große Defizite gibt.
Nun vergeht ja kaum ein Tag, an dem nicht irgendwer irgendwo ein Plädoyer hält, mehr für Bildung, vor allem für frühkindliche Bildung zu tun. Was glauben Sie: Warum funktioniert das trotz aller Bekundungen nicht beziehungsweise nur unzureichend?
Wolfgang Merkel: Es ist ganz erstaunlich, dass wir dafür keine besonders guten Erklärungen haben. Ich kann es dennoch versuchen. Bildung ist gerade in der Bundesrepublik im Wesentlichen nicht Sache der Bundesregierung, der Bundesebene, sondern der Länderebene, manchmal sogar der kommunalen Ebene – je nach Schultypus. Und dann beginnt ein Verteilungskampf der staatlichen Ebene: Die kommunale gegen die Länderebene und die Länder insbesondere gegenüber der Bundesebene. Es wird gewissermaßen zerrieben in diesem fiskalischen Wettstreit zwischen den einzelnen Ebenen, was tatsächlich investiert wird.
Und am erstaunlichsten ist für mich immer wieder, was Herr Fratzscher ganz offensichtlich auch angemerkt hat, dass die im Grunde nicht so voluminösen Investitionen in die frühkindliche Entwicklung eigentlich kaum zugenommen haben. Und wenn, und das wissen wir gerade hier in Berlin, aber auch in anderen großen Städten, muss dafür bezahlt werden. Es muss für Kita-Plätze bezahlt werden. Das ist eigentlich gerechtigkeitstheoretisch ein großer politischer Skandal, der trotz Sonntagsreden nicht beseitigt wurde.
Deutschlandradio Kultur: Ich setze noch eins drauf: Rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts wird hierzulande für Sozialleistungen verwendet. Das waren 2014, das sind die jüngsten Zahlen, etwa 850 Milliarden Euro. Das klingt nicht gerade nach zu wenig Sozialstaat, sondern da liegt ja eher die Vermutung nahe, dass wir das Geld grundsätzlich an den falschen Stellen ausgeben. Ist dem so?
Wolfgang Merkel: Nicht alle Stellen sind falsch, aber wir haben eine typische Verteilung, die auch was mit den Generationen zu tun hat. Wie gesagt: wenig Investition in frühkindliche Bildung, wenig übrigens auch im internationalen Vergleich in die Primär-, also Haupt- und Grundschulen. Relativ gut sind finanziert die Gymnasien, die weiterbildenden Schulen. Und die Universitäten können zwar nicht mit den USA mithalten, aber sind in gewissem Sinne auch nicht ganz schlecht ausstaffiert.
Also, hier wird tatsächlich zu unterscheiden sein, wo im Bildungssystem zu wenig ausgegeben wird. Aber im gesamten Umverteilungsstaat, ich meine es keineswegs negativ, im gesamten Sozialstaat überwiegen jedoch die sogenannten passiven, konsumtiven, also nicht die investiven Ausgaben. Konsumtiv heißt hier insbesondere für die älteren Menschen. Das kann gerecht sein und es ist auch gerecht, wenn ein Leben lang gearbeitet wurde. Aber die Renten und dann die Gesundheitsversorgung sind die ganz, ganz großen Ausgabenposten bei uns im Sozialstaat.
Noch einmal: Das ist nicht unbedingt unsere Zukunft, aber hier sehen wir auch das ganze Problem. Es ist durchaus gerecht, dass jemand, der 40 oder 45 Jahre gearbeitet hat, eine sichere Rente hat. Und ich würde dazu setzen: Die soll nicht von der Entwicklung des Kapitalmarkts abhängen, wie viele Ökonomen vorschlagen, sondern sie braucht eine staatliche Garantie.

"Transferzahlungen haben auch einen karitativen Charakter"

Deutschlandradio Kultur: An den Punkt kommen wir nochmal später zurück. Ich bleibe jetzt noch bei diesen 850 Milliarden. Dieses Geld steht ja vor allen Dingen dafür, dass in Deutschland tatsächlich sehr viel umverteilt wird – bei den Steuern, bei der Rente und bei Hartz IV und so weiter und so fort.
Was sagen Sie zu der These von den Kollegen der Wochenzeitung "Die Zeit", die kürzlich schrieben: Deutschland sei in diesem Sinne brutto ein sehr ungleiches, netto aber dann doch eher ein gleiches Land?
Wolfgang Merkel: Da ist was dran. Es funktioniert tatsächlich etwas an der Umverteilung, so dass die verfügbaren Einkommen nach den sogenannten sozialen Transfers besser verteilt sind als die Primäreinkommen, die alleine auf dem Markt erzielt werden.
Aber: Wenn Sie eine Arbeit haben und von dieser Arbeit nicht leben können, also Zuschüsse aus Hartz IV bekommen, dann mag das für die jeweilige Person sich im gesamten verfügbaren Einkommen positiv auszahlen, aber, und jetzt sehen wir die Gefahr dabei, die Gefahr ist, dass dies nicht etwa auf die Kinder dann durchsickert und an diese zurückgegeben wird. Jemand, der Hartz IV bezieht, wird in aller Regel seine Kinder nicht auf die Universität schicken, in eine gute Ausbildung hineinschicken.
Also, Transferzahlungen haben, obwohl sie gesetzlich garantiert sind, auch immer so etwas wie einen karitativen Charakter. Also nicht, was jemand tatsächlich selbst verdient hat, sondern von einer angeblich dritten neutralen Stelle, dem Staat, ihm zugewiesen wird. Das ist für die Würde eines Menschen auch nicht die allerbeste Methode, insbesondere dann, wenn er tatsächlich arbeitet. Und wir haben ja eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gesehen, neue Jobs. Aber viele dieser Jobs sind eben doch so bezahlt, dass sie nicht hinreichen, um selbst den Lebensunterhalt in einer doch akzeptablen Weise bestreiten zu können.
Deutschlandradio Kultur: Wenn es denn so ist, dass die Ungleichheit in Deutschland tendenziell wächst, die soziale Gerechtigkeit tendenziell abnimmt, was bedeutet das aus Sicht des Demokratieforschers Wolfgang Merkel für eine Gesellschaft wie die unsere?
Wolfgang Merkel: Na, ich halte das für ein Riesenproblem. Das wird bei uns nicht zureichend diskutiert. Ich habe einmal den Begriff verwandt, und ich glaube, der trifft das ganz gut: Wir sind längst eine "Zwei-Drittel-Demokratie" geworden. Das heißt, das untere Drittel, ich meine hier das untere Drittel im Einkommen, unserer Gesellschaft ist praktisch ausgestiegen aus jeder politischen Beteiligung.
Sie finden diese Menschen weder in den Parteien. Sie finden sie nicht vor den Wahlurnen. Sie finden sie aber auch nicht in diesen schicken zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sehr wichtig sind, wie Amnesty International, Human Rights Watch, Umweltverbände. Sie beteiligen sich nicht mehr. Und wir wissen ganz, ganz genau, dass politische Beteiligung strikt abhängt von dem Bildungsniveau, auch von einem gewissen Lebensoptimismus und Selbstverständnis in unserer Gesellschaft. Hier hat die Demokratie Schaden erlitten.
Das ist übrigens kein deutsches alleiniges Problem. Das finden Sie in ganz Europa in massiver Art und Weise. Wir sind längst eine elitäre Mittelschichtsdemokratie geworden.

"Am rechten Rand gibt es Ängste vor dem Abstieg"

Deutschlandradio Kultur: Ich bin natürlich in der Vorbereitung auch auf diesen Satz gestoßen von Ihnen: "Das untere Drittel ist uns weggebrochen." Kann man – oder ist das zu vereinfachend gesagt – annehmen, das untere Drittel, das sind heutzutage die Nichtwähler oder die AfD-Wähler, das sind die Rechtsextremen, das sind die Pegida-Wähler?
Wolfgang Merkel: Nicht ganz so. Man kann auf jeden Fall sagen, dass das untere Drittel eher die politisch Apathischen, also nicht aktiven Menschen sind. Bei den Rechtsradikalen, die noch etwas anderes sind als die Rechtspopulisten der AfD, würde ich auch nicht unbedingt sagen, und wir haben dafür empirische Ergebnisse, dass das die Arbeitslosen etwa wären, sondern Rechtspopulisten. Und auf dem wirklich rechten Rand unseres Parteienspektrum finden Sie insbesondere Menschen, die unsicher geworden sind, die Unsicherheitsängste vor dem Abstieg haben, also noch nicht gewissermaßen abgestiegen sind. Aber Sie haben natürlich, und das soll man nicht schön reden, starke fremdenfeindliche Potenziale dort.
Aber auch das ist ein Mangel an Bildung und ist ein Mangel an Aufklärung, möglicherweise auch ein Mangel an sozialen Schutzgarantien, dass sie eben nicht von diesem Abstieg bedroht sind, dass sie unbedingt nicht in direkter Konkurrenz etwa mit den Emigranten und Flüchtlingen treten, auf die sie durchaus treffen, auf dem Arbeitsmarkt treffen und auf dem Markt für Immobilien oder für ein lebbares Zuhause.
Deutschlandradio Kultur: ... die sie dann wiederum als Konkurrenz empfinden und daher sich auch ein Teil der Ablehnung speist.
Wolfgang Merkel: Ja, sie fühlen sich zu wenig vertreten von den klassischen Parteien. Die haben auf der rechten Seite des Parteienspektrums einen politischen Raum aufgemacht, den sie nicht mehr besetzen, insbesondere die CDU, die strikt in die Mitte marschiert ist mit Angela Merkel. Und dieser Raum wird besetzt von der AfD und den Rechtspopulisten. Und wir sollen nicht hoffen können, oder sollen hoffen dürfen, dass dieser Raum sofort von der AfD wieder freigegeben wird. Wir sehen in ganz Europa starke rechtspopulistische Bewegungen. Da ist Deutschland eher ein zeitlicher Nachzügler.
Deutschlandradio Kultur: Was wir gleich noch weiter vertiefen werden. Herr Professor Merkel, wenn uns ein, wie Sie sagten, Drittel der Gesellschaft weggebrochen ist, was bedeutet das für unsere Demokratie? Ist die Demokratie auf dem Rückzug? Ist sie gar in der Krise?
Wolfgang Merkel: Mit dem Krisenbegriff bin ich vorsichtig. Wir müssten zeigen können, dass die Demokratie, wenn wir von der Krise reden, irgendwann besser gewesen sei. Es ist ein Mythos, dass die Demokratie in den 60-ern oder 70er-Jahren besser gewesen sei. Aber wir müssen unterscheiden. Wir haben vorhin über Vermögensverteilung, sozioökonomische Ungleichheit geredet. Die hat tatsächlich zugenommen seitdem.
Was aber deutlich abgenommen hat, sind andere Ungleichzeiten – Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Frauen sind heute nicht völlig gleichberechtigt. Im Gesetz sind sie es. De facto sind sie es nicht. Aber wenn Sie das vergleichen mit den 60er-Jahren, ein Riesenunterschied – nicht nur, wer in den Parlamenten sitzt, nicht nur, wer an der Spitze einer Regierung steht, sondern Frauen mussten in den 60er-Jahren ihre Ehemänner fragen, wenn sie zivilrechtliche Verträge schließen wollten oder…
Deutschlandradio Kultur: … ein Konto eröffnen oder einen Arbeitsvertrag…
Wolfgang Merkel: Genau, genau. Und das sollten wir nicht ganz vernachlässigen. Sehen Sie etwa sexuelle Minderheiten an. Homosexuelle wurden mit dem Strafrecht in den 50er-, 60er-Jahren bestraft. Heute sind sie an der Spitze auch von Stadtverwaltungen und in der Politik, zum Glück, muss man sagen. Hier wird nicht mehr oder kaum mehr diskriminiert. Also, wir haben einen typischen Unterschied, dass kulturelle und geschlechtsspezifische Ungleichheiten stark abgebaut wurden. Und da war die Demokratie sehr positiv. Aber auf der anderen Seite haben wir doch einen Zuwachs an ökonomischer Ungleichheit. Da gibt es eigentlich, insbesondere auch von Ökonomen von außen, die auf Deutschland blicken, keinen großen Dissens.

"Deregulierung war einer der großen Fehler"

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir jetzt nicht 40, 50 Jahre zurückgehen, sondern, sagen wir mal, ein Vierteljahrhundert zurückgehen, sozusagen in das Zeitalter der Globalisierung. Hat diese Globalisierung sehr viel und sehr eng damit zu tun, mit den Problemen, die Sie jetzt beschreiben, über die wir reden?
Wolfgang Merkel: Ja, wobei nicht alle Entwicklungen der Globalisierungen sofort als negativ zu betrachten sind. Wenn man Globalisierung so einfach beschreibt und sagt, das heißt Öffnung der Grenzen, Öffnung der Grenzen für Güter, für Dienstleistungen, insbesondere für Finanzkapital, aber auch für Menschen, die aus unterschiedlichen Regionen und Erdteilen zu uns kommen, dann kann man sagen, das ist eine Entwicklung, die lässt sich nicht mehr zurückdrehen.
Aber in dem Moment, wo Sie Grenzen öffnen, verliert der nationale Staat an Handlungsmöglichkeiten. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir Märkte, Finanzmärkte, und das ist der Kern eigentlich auch der wirtschaftlichen Globalisierung, dass wir diese deregulieren. Deregulieren heißt, jeder Staat zieht sich stark zurück, überlässt den Markt dem Markt und insbesondere den großen Finanzakteuren, dass wir dann demokratische Entscheidungen treffen können, wie diese Märkte mit gestaltet werden sollen.
Ich glaube, das war einer der großen Fehler. Die Globalisierung ist nicht eine Naturgewalt, die über uns hinweg und hereingebrochen ist, sondern Sie können genau seit der Machtübernahme von Margaret Thatcher, von Ronald Reagan 1979, 1980 in den USA nachvollziehen, wie wir Schritt für Schritt über Entscheidungen – und wir ist die ganze westliche Welt –, über Entscheidungen die Märkte dereguliert haben. Wir nennen das eine Denationalisierung der Politik. Und damit verliert notwendigerweise die Politik, die demokratische Politik gegenüber den Märkten, gegenüber der Wirtschaft an Einflussmöglichkeiten. Das ist aus demokratischer Perspektive eindeutig negativ.
Deutschlandradio Kultur: Herr Merkel, Sie haben die CDU schon erwähnt, die in der Ära Merkel sozialdemokratischer geworden ist nach allgemeiner Wahrnehmung. Das hat einerseits Folgen für die Parteienlandschaft, darüber haben wir auch schon kurz gesprochen. Zunächst aber interessiert mich nochmal Folgendes: Wenn die Merkel-CDU als wichtigste Regierungspartei seit gut einem Jahrzehnt nach links beziehungsweise mehr in die Mitte gerückt ist, dann müsste sich das auch eigentlich in der Sozialpolitik niedergeschlagen haben?
Wolfgang Merkel: Der Sozialstaat wurde bei uns nicht im klassischen Sinne abgebaut. Das ist eine falsche Einschätzung. Er stagniert, aber er wurde nicht zurückgedreht, wie das in den angelsächsischen Ländern ganz klar sichtbar ist. Und sogar in den Musterländern, in Skandinavien sehen Sie ein Rückdrehen.
Das ist bei uns nicht passiert. Aber diese Regierung hat eben nicht in Märkte hinein reguliert, und das im Nachhinein Umverteilen über den Sozialstaat mit einer starken Mittelschichtskomponente. Die Umverteilung bei uns über den Sozialstaat, davon profitiert am meisten eigentlich die Mittelschicht und nicht die unteren Schichten. Das sollten wir nicht vergessen.
Also, in der Sozialpolitik ja, aber in der Wirtschaftspolitik und der Regulierung der Märkte hat es die CDU doch vermieden, und konnte es wahrscheinlich auch nicht im nationalen Alleingang, diese wieder zu regulieren.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt – jetzt sind wir sozusagen wieder, wo wir schon vorhin einmal waren – jetzt mit meinen Worten, dass ja teilweise eben auch von der Union, aber auch von der SPD – die ist ja schließlich mit in der Großen Koalition – Klientelpolitik teilweise betrieben wird, dass beispielsweise eben Rentner vergleichsweise gut gestellt werden, dass aber das Geld eben nicht da ankommt, wo die wahre Bedürftigkeit herrscht.
Wolfgang Merkel: Na ja, wir werden sehen, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Rentner tatsächlich in diese Gruppe wieder hineinrutschen können, nicht die Rentner sollte ich sagen, sondern ein Teil der Geringverdiener, auch wenn sie ein ganzes Leben gearbeitet haben. Und das ist nicht akzeptabel. Um nochmal an den Anfang unserer Sendung zurückzukehren, das ist sicherlich total ungerecht. Sie haben jemanden mit einem erfüllten vollen Arbeitsleben und er kann dann mit dieser Rente nicht auskommen, weil die Arbeit nicht jene Lohnhöhen abgeworfen hat, die nötig sind, um eine akzeptable Rente zu bekommen.
Aber in der Gesamtheit sind in den letzten Jahrzehnten die Renten nicht ganz so schlecht ausgefallen. Das muss man sagen. Wir haben aber auch die ganzen ehemaligen DDR-Bewohner, die natürlich deutsche gleichberechtigte Mitbürger geworden sind, wir haben diese in die Rentenversicherung gleichsam mit hinein genommen und haben dies zu wenig über allgemeine Steuern finanziert und zu stark über Rentenbeiträge. Das war sicherlich eine Beschränkung der Ausdehnung der Renten. Aber wir sind eher ein konsumtiver denn ein investiver Sozialstaat.
Das hängt ein bisschen mit der Demokratie zusammen. Eine Partei, die in einem hohen Maße von älteren Menschen gewählt wird – und die älteren Menschen sind ein immer größerer Teil unseres Gesamtelektorats –, müsste irrational handeln, wenn diese Partei die Rentner nicht einigermaßen akzeptabel behandelt. Also, hier haben wir die ganze Thematik der Generationengerechtigkeit und -ungerechtigkeit, die uns sicherlich in den nächsten Jahren auch noch beschäftigen wird.

"Volksparteien sind deutlich im Niedergang"

Deutschlandradio Kultur: Reden wir über die SPD, die einmal für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit stand. Längst aber schwächelt die SPD dramatisch und liegt in der Wählergunst bei um die knapp 20 Prozent. Nun wollen die Sozialdemokraten wieder das Thema soziale Gerechtigkeit besetzen. Es gab vergangene Woche einen sogenannten Gerechtigkeitskongress der SPD. Ist das genau der richtige Ansatz, um aus dem Umfragetief herauszukommen?
Wolfgang Merkel: Na, die Umfragetiefs sind Umfragen. Die Wahlen sind etwas anderes. Allerdings zu hoffen, dass die SPD nun, wenn sie nur das richtige Programm auswählt oder angeblich nur das richtige Personal auswählt, dann über die 30-Prozent-Grenze springen kann, das ist illusorisch. Das wissen wir längst. Das wird bei den nächsten Bundestagswahlen nicht geschehen.
Das ist aber nicht nur Schuld der SPD, sondern wir entdecken und sehen das schon seit vielen, vielen Jahren, seit drei, vier Jahrzehnten, dass dieser Parteitypus, der hinter der SPD steht, übrigens auch hinter der Christdemokratie, nämlich die sogenannten Volksparteien, überall in der gesamten europäischen Staatenwelt deutlich im Niedergang begriffen sind. Das ist in Österreich noch stärker als bei uns. Das ist in Skandinavien noch stärker, in den Niederlanden völlig zerbröselt.
Deutschlandradio Kultur: Warum ist das so?
Wolfgang Merkel: Unsere Gesellschaften sind nicht mehr die formierten Gesellschaften der 50er- und 60er-Jahre, transportiert über große Gewerkschaften, über mächtige Kirchen, die gleichsam die Bürgerinnen und Bürger zu diesen Parteien mit hingeführt haben. Für die Menschen waren diese Organisationen wichtig, um die Welt, um die Politik zu interpretieren. Jetzt haben wir eine viel stärkere individualisierte Gesellschaft. Die Informationsquellen sind unendlich reicher, nicht zuletzt durch das Internet geworden. Und jetzt kommt wieder die Bildung im Grunde ins Spiel.
Wenn diese großen Organisationen als Weltdeuter für uns wegfallen, dann sind es unsere individuellen Kenntnisse, Fähigkeiten, die diese Welt interpretieren können. Das spielt wieder gegen die unteren Bildungsschichten. Und Bildung ist sicherlich nicht alles, aber ohne Bildung ist alles nichts.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir jetzt noch einmal über den deutschen Tellerrand hinausschauen, aber bei der Sozialdemokratie bleiben: Nicht nur die SPD, sondern die europäische Sozialdemokratie insgesamt ist in der Krise, obwohl diese Staaten ja zum Beispiel keine Agenda 2010 hatten, die die SPD ja bekanntlich auch dauerhaft viele Wähler gekostet hat. Statt links wählen die Menschen von Frankreich bis Österreich, von Spanien bis Dänemark nunmehr oftmals Rechtspopulisten oder sie bleiben den Wahlen gleich ganz fern. Wir haben das ja auch schon angesprochen. Für wie gefährlich halten Sie diese Entwicklung mit Blick zum Beispiel auf die EU?
Wolfgang Merkel: Wir beobachten nicht nur auf der rechten Seite ein Erstarken der Rechtspopulisten. Und das wird mit uns bleiben und das wird eine Gefahr für die Europäische Union sein. Denn die Rechtspopulisten haben neben der Einwanderungs- und Flüchtlingsfrage ein Kernthema. Das Kernthema heißt EU, gegen "die da in Brüssel"... Das ist ein typisches Muster von Populisten: Die da oben und wir da unten. Also, die Welt wird manichäisch in zwei Teile, in Schwarz und Weiß aufgeteilt, immer mit dem Ziel: Wir sind die Unterprivilegierten. Wir müssen etwas gegen die da oben machen. Und das ist nicht nur gegen die nationalen Regierungen gerichtet, viel stärker noch gegen die Europäische Union.
Deshalb haben wir gerade in den reichen Ländern der Europäischen Union große Teile auch der Bevölkerung, die sagen: Warum sollen wir umverteilen? Warum sollen wir etwas bezahlen für Bulgarien, Rumänien oder auch für Portugal, wenn es unseren eigenen nationalen Mitbürgern am unteren Ende der sozialen Skala so schlecht geht oder beziehungsweise nicht gut geht?
Also, da verklammert sich unsere Frage der Ungleichheit mit der Frage: Wer regiert uns eigentlich? Und dann wird angenommen, alles wird in Brüssel entschieden.
Deutschlandradio Kultur: Braucht Deutschland, braucht die EU insgesamt eine Gerechtigkeitsdebatte?
Wolfgang Merkel: Sie braucht eine Gerechtigkeitspolitik. Ohne der EU zu nahetreten zu wollen und ohne zu viel Schlagwörter zu verwenden, aber die EU als Wirtschaftsvereinigung ist im Grunde ein neoliberales Projekt gewesen. Also, es wurde dereguliert, dereguliert, dereguliert über die Wettbewerbspolitik. Aber die politische Ebene wurde eben nicht ausgedehnt. Die Intervention etwa in ein europäisches Bildungssystem oder europäische Fonds in die Bildung hinein, das ist nicht geschaffen worden. Hier müsste stärker eine Politik aufgelegt werden, die auch die unteren Schichten in den einzelnen Gesellschaften stärker mit in den Blick nimmt.
Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank, Herr Merkel.
Mehr zum Thema