Politisches Projekt Währungsunion

Von Winfried Sträter · 22.05.2012
Er polarisiert wie kaum eine zweite öffentliche Person in Deutschland: Thilo Sarrazin. Nun erscheint sein zweites Buch "Europa braucht den Euro nicht", in dem er sich der europäischen Finanzkrise widmet. Kultur-Redakteur Winfried Sträter hat es gelesen.
Um es gleich vorweg zu sagen: Wer auf jenen Sarrazin hofft, der mit steilen Thesen niedere Instinkte bedient, wird enttäuscht. Ab und an lässt Sarrazin Formulierungen fallen, die an seine Lust zur Stigmatisierung erinnern - mit denen er für die einen zur Kultfigur, für die anderen zum Buhmann geworden ist. Doch das sind Nebensächlichkeiten. Im Kern ist dieses Buch die Bestandsaufnahme eines Volkswirtschaftlers, ob die Euro-Währungsunion ein im Ansatz erfolgversprechendes Projekt ist und ob sie seit Ausbrechen der Staatsschuldenkrise erfolgreich gemanagt wird. Wer das lesen und verstehen will, muss aber bereit sein, sich anzustrengen. Das liegt nicht an Sarrazins Schreibstil: Er schreibt verständlich und klar, er vermeidet jene Fachsprache, die es Lesern ohne Fachstudium möglich macht, seinen Argumentationen zu folgen.

Aber die Materie ist schwierig, trocken und komplex. Von Bretton Woods über die Wechselkursfreigabe bis zum Europäischen Währungssystem: Sarrazin geht so systematisch an sein Thema heran, dass es sich phasenweise wie ein Grundkurs in Volkswirtschaftslehre liest. Aber die Lektüre lohnt sich. Zum einen, weil Sarrazin das Talent hat, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen, zum anderen, weil er das Versprechen einlöst, das er im ersten Teil seines Buches gibt: "Der Leser bekommt auf dem Weg durch die verschiedenen Kapitel die Fakten, aber auch das argumentative Rüstzeug, um sich sein eigenes Urteil zu bilden."

Nach dem Grundkurs Währungsgeschichte (mit Ausflügen bis ins Mittelalter) folgen Vorgeschichte und Zustandekommen der Währungsunion mit besonderem Blick auf die Kriterien des Maastricht-Vertrages, die vor allem für Deutschland unverzichtbare Bedingungen für den Euro waren. Im nächsten Schritt wird analysiert, wie sich die Währungsunion ausgewirkt hat und inwieweit die Instrumente, sie zu steuern, wirkungsvoll eingesetzt worden sind. Schwerpunkt des Buches ist das Krisenmanagement seit Beginn der Staatsschuldenkrise 2009, bis zum Frühjahr 2012.

Sarrazin ist ein Buchhalter, und wie ein Buchhalter bilanziert er, ob sich der Euro für die Teilnehmerländer, vor allem für Deutschland, gelohnt habe oder nicht. Sein Urteil: Die gemeinsame Währung hat sich nicht gelohnt, im Gegenteil. Sie hat den wirtschaftlichen Austausch innerhalb des Währungsraums eher behindert als gefördert. Sie hat bestehende Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Staaten verstärkt, statt sie zu verringern. Sie hat in Sachen Geldwertstabilität unüberschaubare Risiken provoziert. Vor allem aber gehen die Verantwortlichen bei der Bewältigung der Staatsschuldenkrise extrem gefährliche Wege.

Sarrazin bekennt, dass er im Laufe der Jahre seine Meinung zur Währungsunion geändert hat. Anfangs stand er dem Projekt skeptisch gegenüber, fand die Kriterien des Maastricht-Vertrags aber überzeugend und hatte den Eindruck, die Sache entwickle sich ganz gut. Doch die Griechenlandkrise und das Krisenmanagement haben das geändert. Sein Buch ist der Alarmruf eines Ökonomen, der sieht, wie mit den Rettungsschirmen Probleme aufgetürmt werden, die irgendwann nicht mehr zu beherrschen sind.

Merkel und Co. haben nach seiner - Buch solide begründeten - Ansicht die Büchse der Pandora geöffnet, als sie 2010 das erste Rettungspaket für Griechenland schnürten. Bis dahin galt der eherne Grundsatz, dass auch im Euro-Raum jeder Staat für seinen eigenen Haushalt gerade stehen muss. Dieses sogenannte "No-Bail-Out-Prinzip" sollte die einzelnen Staaten zwingen, solide zu haushalten. Die Aufgabe dieses Prinzips führt nach Ansicht Sarrazins zu fortdauernder Verantwortungslosigkeit der griechischen Politik. Der griechische Staatshaushalt muss mit immer größeren Geldmengen gestützt werden, ohne dass eine Kehrtwende in Sicht ist. Denn in allen Krisenstaaten könne die Lösung nur von innen, nicht von außen kommen. Sarrazin spricht von einer Infantilisierung Griechenlands, wenn von außen versucht wird, die inneren Probleme des Landes zu lösen.

Griechenland ist der Extremfall, doch nach Ansicht Sarrazins zeigen die anderen Krisenstaaten, dass grundsätzlich die süd- und nordeuropäischen Länder wirtschaftlich nicht zueinander passen: Die Währungsunion sei ein politisches Projekt gewesen, dem aber die ökonomische Grundlage fehle. So fürchtet Sarrazin, dass das Projekt scheitern wird und, statt Frieden und Wohlstand in Europa zu mehren, Unfrieden stiften und wirtschaftliches Chaos anrichten wird.

Man muss nicht alle Schlussfolgerungen Sarrazins nachvollziehen. Die Vorteile der gemeinsamen Währung sind für den Alltag der Bürger und der Unternehmen größer, als die Bilanz des Buchhalters ausweist. Man kann sich auch mit Fug und Recht über den Unterton ärgern, der bisweilen bei Sarrazins Einteilung der europäischen Welt in "Nordländer" und "Südländer" zum Ausdruck kommt. Aber im Kern hat er eine brillante Analyse der Probleme der Währungsunion vorgelegt. Die Währungsunion kann seiner Meinung nach auf Dauer nur funktionieren, wenn es keine gemeinsame Haftung aller für einen "Sünder" gibt; wenn das Prinzip der Eigenverantwortung wieder durchgesetzt wird.

"Europa braucht den Euro nicht": Der Titel ist reißerisch und führt ein wenig in die Irre, denn den Euro gibt es, und ein Zurück auf Null gibt es nicht mehr. Das stellt auch Sarrazin nüchtern fest. Wie schwierig es aber ist, eine stabile Währungsunion wiederherzustellen: das wird bei der Lektüre sehr deutlich.

Sie können das Gespräch mit Winfried Sträter im Radio-Feuilleton-Interview als MP3-Audio bis mindestens 22. Oktober 2012 in unserem Audio-On-Demand-Player nachhören.

Links bei dradio.de:
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