Politische Gefühle

"Das Gewaltpotenzial der Verachtung wird unterschätzt"

36:42 Minuten
Eine zerbrochene Fensterscheibe gibt den Blick frei auf die Straße.
"Wenn sich Menschen als ganze Gruppe verachtet fühlen, dann reagieren sie sehr leicht mit Hass darauf", sagt Philosophin Hilge Landweer. © Unsplash / Amber kIpp
Moderation: Catherine Newmark · 07.03.2021
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Dass Hass den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht, ist klar. Aber auch die Verachtung hat ein Gewaltpotenzial, sagt die Philosophin Hilge Landweer: Denn ihre Gleichgültigkeit könne letztlich in Entmenschlichung münden und rufe Hass hervor.
Warum hat der ehemalige US-Präsident Donald Trump so viele Menschen um sich scharen können, die ihm teils immer noch die Treue halten? Der republikanische Kongress-Abgeordnete Peter Meijer, einer der wenigen innerparteilichen Kritiker Trumps, erklärte sich das jüngst in einem Interview mit dem Gefühl seiner Anhänger von oben herab behandelt zu werden und zwar von den gleichen Leuten, die auch auf Trump selbst herabsähen.

Verachtung kann Hass erst hervorrufen

Der Philosophin Hilge Landweer leuchtet diese Erklärung unmittelbar ein: "Wir alle, die Trump bei seinen öffentlichen Auftritten gesehen haben, die gehört haben, wie er sich in den sozialen Medien geäußert hat, haben ihn von Anfang an verachtet. Und das führt natürlich leicht zur Solidarisierung von Leuten, die sich aus anderen Gründen auch verachtet fühlen."
Hilge Landweer, Professorin an der Freien Universität Berlin, hat sich ausführlich mit politischen Gefühlen befasst und beobachtet mit Sorge, dass Verachtung in der öffentlichen Debatte "so gut wie gar nicht vorkommt" oder fälschlicherweise verharmlost wird. Denn auch wenn Verachtung auf den ersten Blick tatsächlich weniger aggressiv daherkomme als der offensive Hass – "weil man demjenigen, den man verachtet, ja nicht wehtut" – berge sie doch ein großes Gewaltpotenzial.
Nicht zuletzt, weil Verachtung auf der Seite derjenigen, die sich verachtet fühlten, Aggression auslöse: "Wenn sich Menschen als ganze Gruppe verachtet fühlen, dann reagieren sie sehr leicht mit Hass darauf."

Empathieverlust bis zur Entmenschlichung

Gefährlich sind Gefühle der Verachtung für Landweer aber nicht nur, weil sie auf der Gegenseite Hass hervorrufen können, sondern auch, weil Verachtung selbst mit einem Verlust an Mitgefühl einhergehe, einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen des Gegenübers, die schließlich sogar in dessen Entmenschlichung münden könne. So spielt für Landweer Verachtung auch eine entscheidende Rolle bei Phänomenen wie Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus, die wir ihr zufolge fälschlicherweise allein mit Hassgefühlen assoziieren:
"Gerade dieses Wegsehen bei rassistischen Übergriffen oder rassistischen Bemerkungen. Dieses ganze ‚Wir haben nichts gewusst‘ des Nationalsozialismus hat natürlich mit diesem Wegsehen zu tun und das geht auf der Basis von Verachtung. Ich glaube, dass die Gleichgültigkeit gegenüber den anderen bei den sogenannten Mitläufern und auch bei denen, die die Prozesse mehr oder weniger ignoriert haben, eine viel größere Rolle gespielt hat, als direkt Hass auf Juden."
Dabei geht es nicht darum, Phänomene wie Antisemitismus zu verharmlosen, sondern vielmehr um eine präzisere Beschreibung. Die auch erklären kann, warum viele Menschen Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus weit von sich weisen: Weil sie gar keinen Hass empfinden, sondern Geringschätzung oder Gleichgültigkeit. Gefühle, über die sie sich selbst nicht im Klaren sind.

Abwendung und Selbstüberhöhung

Landweer ist Phänomenologin, sie versucht also nicht zuletzt, die leibliche Erfahrung von Gefühlen zu ergründen. In mancherlei Hinsicht sei die Verachtung dem Hass durchaus ähnlich, so lägen etwa die Auslöser beider Gefühle, nämlich Eigenschaften des Gegenübers, "die man für falsch oder moralisch schlecht hält", dicht beieinander. Aber auch der – phänomenologisch gesprochen – "Verdichtungsbereich" der Gefühle sei der gleiche: eine andere Person oder Personengruppe.
Allerdings sei der Hass "mit einem unmittelbaren Vernichtungsimpuls verbunden, während Verachtung eher mit einem Impuls zum Sich-Abwenden verbunden ist. Und dieser Impuls des Ignorierens des Anderen führt dazu, dass das Aggressive an diesem Gefühl nicht wahrgenommen wird."
Prof. Dr. Hilge Landweer von der Freien Universität Berlin arbeitet am Institut für Philosophie.
Prof. Dr. Hilge Landweer von der Freien Universität Berlin arbeitet am Institut für Philosophie.© Toni Reuter
Neben der Abwendung manifestiere sich die Verachtung in einer Selbstüberhöhung. So könne eine gefühlte Überlegenheit in Verachtung resultieren, aber auch die Verachtung erst eine – vermeintliche – Überlegenheit suggerieren. Die Verachtung richte sich also tendenziell von "oben" nach "unten", während der Hass sich eher, aus einer gefühlten Unterlegenheit, von "unten" nach "oben" richte.

Verachtung als Distinktionsmerkmal

Verachtung könne so auch zur Strategie für soziale Distinktion werden, wie sie der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat, "wo sich die oberen Klassen, durch ihre Geschmacksurteile und ihre Gefühle, nämlich Ekel gegenüber dem Geschmack der anderen, von den unteren Klassen abgrenzen und dadurch besser fühlen".
Für Landweer passt die Verachtung damit gut in unsere "neoliberalen Gesellschaften", mit ihrer Betonung von Eigenverantwortung und der "Selbstzurechnung von Erfolg und Misserfolg", die in "Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühlen" resultierten. "Und wenn ich erst mal in diesem Überlegenheitsgefühl bin, dann ist die Verachtung nicht weit."

Wie mit Verachtung umgehen?

Landweer dagegen ist überzeugt: "Verachtung ist immer zu Unrecht, weil es keine Gründe gibt, sich über andere erhaben zu fühlen." Natürlich dürften wir bestimmte Eigenschaften oder Ansichten anderer Personen kritisieren oder sogar gefährlich finden, das gehe aber auch ohne Verachtung: "Eine Blindheit gegenüber den problematischen Absichten von Trump kann ich bedrohlich finden, aber ich muss sie nicht verachten. Verachtung bedeutet tatsächlich, sich moralisch über den anderen zu stellen."
(ch)

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