Politik in Sachsen

Einst Wiege, heute Kampfplatz der Demokratie

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Anhänger des Bündnisses #unteilbar gehen während einer Demonstration über die Carolabrücke vor der historischen Altstadtkulisse von Dresden.
Zehntausende kamen vor der sächsischen Landtagswahl zur Demonstration des Bündnisses "Unteilbar" nach Dresden. © picture alliance / dpa / Robert Michael
Von Arno Orzessek · 04.09.2019
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Sachsen ist die Wiege der Demokratie hierzulande. Ob es auch die Bahre wird, oder ob hier ein energiegeladener Schauplatz des Ringens um die Zukunft der Demokratie in Deutschland ist - darüber hat sich Arno Orzessek Gedanken gemacht.
Vorab ein dickes Lob für die Sachsen, und zwar aus berufenem Munde: "Die Sachsen verdanken das, was sie sind, nicht ihrer Gemütlichkeit, sondern ihrer Energie. Diese Energie hat einen Beisatz von Nervosität, ist aber trotzdem als Lebens- und Kraftäußerung größer als bei irgendeinem anderen deutschen Stamm."
So Theodor Fontane in der autobiografischen Schrift "Von Zwanzig bis Dreißig", die in seinem Todesjahr 1898 erschien.
Heute haben sich die meisten aus guten Gründen abgewöhnt, irgendwelchen Landsleuten pauschal Eigenschaften oder Charakterzüge zuzuschreiben. "Die Sachsen", das sind nach rationalem Verständnis jene Menschen, die dauerhaft in Sachsen leben. Punkt.

Warum ist Sachsen so rechts?

Das Bundesland Sachsen indessen hatte in den letzten Jahren oft eine schlechte Presse, die Fontanes damaliger Belobigung spottet. Über der Frage "Warum ist Sachsen so rechts?" haben sich ungezählte Publizisten den Kopf zerbrochen - und die Gründe für ihr Grübeln sind unvergessen.
Pegida startete in Dresden, der NSU versteckte sich sächsischen Städten, der sächsische Verfassungsschutz war auf dem rechten Auge blind, es gab und gibt fremdenfeindliche Übergriffe und häufig rechte Gewalt.
Und nun hat die rechtspopulistische AfD, die sich selbst gern "bürgerlich" nennt, bei der Landtagswahl 27,5 Prozent der Stimmen abgeräumt. Das reicht nicht, um zu regieren, dürfte aber die CDU zu einem Dreier-Bündnis zwingen.
Pointiert ausgedrückt: Die sonstigen Parteien müssen sich in ihrer Not zu einer Anti-AfD-Koalition verbünden, zu der die eingeschrumpfte SPD kaum etwas beisteuern kann. Und das ausgerechnet in ihrem Stammland.

SPD marginalisiert – in ihrem einstigen Stammland

1863 wurde in Leipzig unter Ferdinand Lassalle der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. August Bebel und Wilhelm Liebknecht prägten die sogenannte Eisenacher Richtung, die ab 1866 Sächsische Volkspartei hieß. Neun Jahre später schloss man sich zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammen, dem Vorläufer der SPD.
Tatsächlich gab es im historischen Raum Sachsen während des 19. Jahrhunderts viele, oft bürgerliche, Initiativen, die ihren Einfluss auf Gemeinwesen und Staatsform geltend machten.
In Dresden entstand 1831 ein radikal-demokratischer Bürgerverein. In dessen Auftrag verfasste der Rechtsanwalt Bernhard Moßdorf eine "Constitution, wie sie das sächsische Volk wünscht". Mitsamt dem Zusatz: "Und wird sie nicht gewährt, so pochen wir mit dem Flintenkolben an".

"Lerche der Völkerfrühlings" aus Meißen

Moßdorf wurde unter Revolutions-Verdacht gefangengenommen und starb zwei Jahre später auf der Festung Königstein. Was nichts daran änderte, dass im Rahmen der offiziellen Verfassung von 1833 der Parlamentarismus an Bedeutung gewann. Das Bürgertum riss, wenn auch unter einem König, die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse und auch politische Verfahren an sich.
Leipzig, ein Zentrum der Erhebung in der 1848er Revolution, etablierte sich als Medienstadt, in der um Presse- und Meinungsfreiheit gerungen wurde. Die Frauenaktivistin Louise Otto-Peters aus Meißen, Beiname: "Lerche der Völkerfrühlings", gründete mit anderen den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, den ersten seiner Art.
Kurz: Fontane hat nicht ins Blaue fantasiert, als er in Sachsen "Energie" am Werke sah.

Land der Duckmäuser oder der friedlichen Revolutionäre?

Heute jedoch werden die AfD-Erfolge in Sachsen oft darauf zurückgeführt, dass sich während der 40 Jahre DDR Unmündigkeit, Weltfremdheit und Autoritätsglaube breit gemacht hätten. Eine Diagnose, die komplett quer zu der Tatsache steht, dass die Revolution von 1989 ohne die Leipziger Montagsgebete und die Montagsdemonstrationen kaum möglich gewesen wäre.
In historischer Perspektive, DDR-Zeit inklusive, ist Sachsen jedenfalls kein politisches Duckmäuser-Land, sondern eher ein Unruheherd, in dem viele fortschrittliche Ideen verwirklicht wurden.
Gewiss, die sächsische AfD wird kaum jemand fortschrittlicher Ideen verdächtigen. Und noch weniger die rechtsextremistischen und neonazistischen Kräfte im Dunstkreis der AfD. Denn was diese beabsichtigen, würde – radikal verwirklicht – wohl bedeuten, dass Sachsen als einstige Wiege der Demokratie zu deren Bahre wird.

Panik bei den Außenstehenden – nicht bei den Sachsen

Andererseits frage ich mich: Kann es sein, dass der notorische Lärm und die Raufereien auf Sachsens Plätzen bei Außenstehenden größere Panik auslösen als bei den meisten Landesbewohnern selbst? Eben weil diese die harten Bandagen politischer Kämpfe seit jeher kennen?
Ist es möglich, dass Demonstrationen à la Pegida und AfD-Wahlergebnisse eher der Ausdruck einer auf offener Auseinandersetzung gründenden Demokratie sind als der Anbruch ihrer Abenddämmerung?
Noch spricht einiges dafür – nicht zuletzt auch die stets beherzten Gegendemonstrationen wie etwa kürzlich die "Unteilbar"-Demonstration in Dresden. Der "Beisatz von Nervosität" aber, den Fontane einst bei den Sachsen konstatierte – er ist heute auf die übergangen, die das Land von außen betrachten.
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