Polenz fordert einen differenzierteren Blick auf den Islam

20.08.2011
Medien und Politik sollten sich um eine differenziertere Betrachtung des Islams bemühen, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz. Ein Konflikt mit 1,3 Milliarden Muslimen wäre "ein Albtraum".
Deutschlandradio Kultur: Tacheles kommt heute aus der Frauenkirche in Dresden. Das ist eine doppelte Premiere, denn es ist der Auftakt zu einer längerfristigen Zusammenarbeit von Deutschlandradio Kultur mit der Stiftung Frauenkirche. Und meines Wissens ist es die erste Tachelessendung vor Publikum.

Unser Gesprächsgast heute ist Ruprecht Polenz, CDU-Bundestagsabgeordneter seit 1994 und seit 2005 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Guten Tag, Herr Polenz.

Ruprecht Polenz: Guten Tag, Herr Lange.

Deutschlandradio Kultur: Herr Polenz, der 11. September 2001 und seine Folgen, es gibt ja die gern bemühte Formel: Tage, die die Welt veränderten - der Sturm auf die Bastille, der Beginn der russischen Revolution. Gehört der 11. September auch in die Kategorie?

Ruprecht Polenz: Ich denke schon. Wir haben in der Folge Kriege in Afghanistan, im Irak erlebt. Wir haben den Aufstieg des Iran in der Region. Wir sind noch mitten drin, uns aus diesen Konflikten irgendwie zu lösen. Und die anderen Fragen, die man sich vielleicht 1995 gestellt hätte, was wird das 21. Jahrhundert bestimmen, der Aufstieg Chinas beispielsweise oder andere, sind in den Hintergrund getreten vor diesen Fragen, die mit dem 11. September sich verbinden.

Deutschlandradio Kultur: Das besondere Kennzeichen dieser Tage ist ja: Man weiß noch nach Jahrzehnten, in welcher Situation man davon erfahren hat. Wie war das denn bei Ihnen? Wie war der Moment?

Ruprecht Polenz: Es war eine Sitzungswoche in Berlin. Ich war aus meinem Büro irgendwie kurz weg gewesen, kam ins Büro zurück, da sagte mir meine Mitarbeiterin: Da ist ein Flugzeug ins World Trade Center gerast. - Ich dachte erst, in das in Berlin, da gibt’s nämlich auch so ein kleines, und bin dann zum Fernseher. Und dann sah ich New York. Und ich hatte mich kaum hingesetzt, dann raste das zweite Flugzeug rein. Dann ist man natürlich nicht mehr vom Bildschirm weg. Und dann dauerte es ja eine ganze Weile, bis dann beide Türme zusammenkrachten. Und die Ereignisse überstürzten sich.

Ich weiß dann auch noch, am Abend war ein sehr eindrucksvoller, spontaner großer Gottesdienst im Berliner Dom. Auf dem Weg dorthin war schon vor der Amerikanischen Botschaft, die damals noch im heutigen Konsulatsgebäude untergebracht war, ein Blumenmeer. Viele Kerzen haben gebrannt, also eine sehr spontane, unmittelbare Reaktion der Anteilnahme. Das ist das, was ich an diesem Tag noch bildlich vor Augen habe.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja gute Kontakte in die USA. Haben Sie damals Freunde angerufen? Wie haben die reagiert?

Ruprecht Polenz: Ja, wir haben angerufen, Briefe geschickt, Faxe geschickt, Mails geschickt, telefoniert. Ich hatte so einen Pin mit deutsch-amerikanischer Fahne. Den habe ich mir angesteckt, wie viele andere auch. Es war einfach ein Gefühl unmittelbarer Anteilnahme. Man wollte seine Solidarität ausdrücken, sein Mitgefühl und natürlich auch irgendwie den Schock, dem man selber ausgesetzt war, verarbeiten.

Deutschlandradio Kultur: Es gab damals Solidarität und Mitgefühl für die Amerikaner weltweit, wenn ich mich recht entsinne, bis in den Iran sogar unter Präsident Chatami damals. Heute nach zwei Kriegen sehen wir verstärkte Konfrontation, neue Feindbilder - die USA, der Westen, der Islam. Da muss doch dann in der Zwischenzeit etwas furchtbar politisch schief gegangen sein.

Ruprecht Polenz: Das ist richtig. Wenn Sie sich daran erinnern, es war eine große Kundgebung vorm Brandenburger Tor. Der Amerikanische Botschafter hat gesprochen. Ich glaube, es waren 200.000 Leute gekommen. Und wenig später gab's dann die großen Demonstrationen im Zusammenhang etwa mit dem Irakkrieg mit einer ganz anderen Zielsetzung.

Ich glaube, dass die allerersten Ansätze, ich kann mich noch erinnern, man war ja in Sorge, was machen die Amerikaner jetzt nach einem solchen Schlag mitten ins eigene Selbstbewusstsein, hat Präsident Bush, wie ich damals fand, eine sehr kluge Geste gemacht. Ich glaube, er ist ein oder zwei Tage nach dem Anschlag in einer Moschee in New York gewesen, um deutlich zu machen, ich differenziere hier. Und diese Differenzierung ist aber in der Kommunikationsstrategie, auch in den Aktionen dann wohl immer mehr in den Hintergrund getreten und vor allen Dingen im Hinblick auf den Irakkrieg, der ja unmittelbar mit dem 11. September nichts zu tun hatte.

Wir wissen, dass man nach Begründungen gesucht hat, um das Engagement plausibel zu machen, aber dass der Zusammenhang mit dem 11. September zu keiner Zeit gegeben war. Bei der Frage der Massenvernichtungswaffen gab es immerhin auch UN-Inspekteure, die da ihre Zweifel hatten, ob Saddam Hussein die Wahrheit sagt. Aber im Hinblick auf den 11. September konnte es eigentlich für keinen einen erkennbaren Zusammenhang geben. Trotzdem hat das als Argument in den USA eine Rolle gespielt - bis heute.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man die These aufstellt, da gibt es jetzt nach diesem Terroranschlag eine traumatisierte orientierungslose Gesellschaft, die - sagen wir mal - Maß und Mitte verloren hat, und die wird dann zu einem Krieg verleitet, der eigentlich nur das Motiv kennt, wir wollen noch eine alte Rechnung begleichen mit Saddam Hussein, ist das eine These, die von heute aus tragfähig war. Und war das dann am Ende der Kernfehler?

Ruprecht Polenz: Also, ich hab einige Bücher gelesen, die von Insidern in den USA geschrieben worden sind, wo man in der Tat nachvollziehen konnte, dass diejenigen, die seinerzeit beim ersten Golfkrieg gesagt haben, wir müssen bis Bagdad, und nicht verstanden haben, weshalb die Amerikaner entsprechend dem Mandat das nicht getan haben, das Mandat bezog sich auf die Befreiung Kuweits, dass die gesagt haben, also, den Fehler müssen wir jetzt ausbügeln. Und sie haben bis dato kein Gehör gefunden und haben es dann mit den Ereignissen des 11. September verbinden können und dann auch eine andere Durchschlagskraft auch in der amerikanischen Administration bekommen.

Man darf natürlich auch nicht vergessen, und das fällt dann leicht untern Tisch, die Herrschaft von Saddam Hussein war schon außerordentlich grausam. Er hat Zehntausende Kurden umgebracht. Er hat die Schiiten unterdrückt. Er hat mit sehr, sehr harter Hand das Land regiert.

Deutschlandradio Kultur: Aber er war zu der Zeit Verbündeter der USA.

Ruprecht Polenz: Na, Verbündeter USA würde ich nicht sagen. Die USA haben ihn, wie viele andere Länder auch, im Kampf gegen den Iran unterstützt. Die Amerikaner haben im Grunde eine Dual-Containment-Strategie gefahren. Sie wollten eigentlich Iran und Irak in einen Eindämmungskokon einspinnen. Sie haben sehr lange diese Strategie verfolgt.

Aber es hat sich eben vor allen Dingen gezeigt, dass nach dem Sturz Saddam Husseins die großen Fehler gemacht worden sind, weil die Lehren, die Rumsfeld meinte anwenden zu können, mit einer überlegenen kleinen Streitkraft zu gewinnen und das war's, und nicht zu sehen, dass man dann, um Ordnung in einem Land zu schaffen, wahrscheinlich 500.000 Soldaten gebraucht hätte, ganz abgesehen von dem Fehler, die irakische Armee komplett zu entlassen und das Chaos dadurch zu vergrößern, ich glaube, da sind die entscheidenden Fehler gemacht worden. Und dann kamen die Bilder von Abu-Ghuraib.

Deutschlandradio Kultur: Da kommen wir gleich noch mal drauf. Gesetzt den Fall, die Amerikaner hätten sich damit begnügt, die Taliban-Herrschaft zu beenden und in Afghanistan neue Strukturen aufzubauen und sie hätten den Irak nicht angegriffen. Hätten sie da auf mehr Verständnis in der islamischen Welt rechnen können?

Ruprecht Polenz: Ich glaube schon. Ich glaube, man darf ja auch nicht vergessen, schon Präsident Clinton hatte Trainingslager von Al-Kaida nach den Angriffen auf die Botschaften in Afrika mit Marschflugkörpern in Afghanistan angegriffen. Und es gab schon Ende der 90er Jahre mehr Resolutionen des Sicherheitsrats, die die Taliban-Regierung aufgefordert haben, den Terror, der von Afghanistan ausging, zu unterbinden - ohne Erfolg.

Ich glaube, dass das Vorgehen gegen die Taliban in Afghanistan einen breiteren Rückhalt hatte. Und das war dann beim Irakkrieg nicht mehr in der gleichen Weise so. Das hat ja auch die Europäer gespalten.

Deutschlandradio Kultur: Wir reden über den Angriff auf die Twin-Tower. Wir reden über den Angriff auf das Pentagon. In den 10 Jahren gab's ja dann eine ganze Kette von Anschlägen auf so genannte weiche Ziele. Wir erinnern uns an Madrid, an London, Djerba in Tunesien, Bali, Mombasa, Mumbai. Von Al-Kaida war immer von dem Netzwerk die Rede. Ist das wirklich noch ein Netzwerk heutzutage oder ist es nicht eher so eine Art Franchise-System? Da wird ein Label vergeben und im Grunde handeln die inzwischen alle auf eigene Rechnung.

Ruprecht Polenz: Ich will mit der Antwort mal in der ganz aktuellen Zeit beginnen, und zwar mit den ersten Stunden nach den Anschlägen in Oslo. Es war ein ungeheurer Propagandaerfolg für Al Kaida, dass der Anschlag in Oslo zunächst einmal automatisch irgendeinem islamitischen Netzwerk zugerechnet wurde. Und das erreicht zu haben, jetzt aus der Sicht von Al Kaida, ist ein Erfolg. Und erst im Nachhinein hat sich herausgestellt, es war was ganz anderes, es war der Herr Brevik usw. usw.

Und diese Wahrnehmung, da ist eine quasi sehr mächtige Organisation, verzahnt über die Welt, kann überall zuschlagen, das Bild hätte Al Kaida von sich gerne geschaffen. Und wie die inneren Strukturen sind, wie die Geldströme laufen, die Planungen, ich glaube, das durchblickt man von außen sehr wenig. Und die, die da was wissen, dürfen es nicht weitersagen, weil diese Kenntnisse natürlich erforderlich sind, um Abwehrmaßnahmen zu treffen. Aber es ist offensichtlich so, dass es ein loses Netzwerk ist, dass man sich dem wohl auch so anschließen kann unter der Voraussetzung, man teilt sozusagen die große Stoßrichtung. Und das macht es natürlich auch so schwer, jetzt in diese terroristischen Strukturen etwa nachrichtendienstlich einzudringen und diese Strukturen zu zerschlagen.

Deutschlandradio Kultur: Ist denn diese politische Motivation, die Ideologie, von der ursprünglich die Rede war, ist die noch wirklich das zentrale Movens? Wenn irgendwelche Leute aus dem Sauerland sich aufmachen und wollen Terroristen werden, kommen da nicht ganz andere Motive als erstes - Ruhmsucht als Beispiel, Frustration zu Hause, sich mal selber spüren, Abenteuerurlaub, etwas überspitzt gesagt? Kann man diese politischen Motive wirklich noch ernst nehmen?

Ruprecht Polenz: Also, ich glaube, dass das, was Sie jetzt gerade zur persönlichen Disposition möglicher Terroristen oder tatsächlicher ausgeführt haben, dass das immer auch dazu gehört. Aber, so kriminell die Taten sind, es ist schon notwendig, sich mit der politischen Rechtfertigung auseinanderzusetzen, wenn man erfolgreich sein will. Und diese Rechtfertigung muss auch für die Terroristen ihnen etwas liefern, was - so merkwürdig das jetzt klingen mag - ein gutes Gewissen verschafft und das Gefühl, sie handelten für eine gerechte Sache.

Ohne das, glaube ich, lassen sich solche Taten nicht begehen. Und deshalb glaube ich trotz aller Unterschiedlichkeit - Sauerland und wer sich da alles beteiligt -, dass es diese überwölbende Rechtfertigungsideologie nach wie vor gibt und dass die nach wie vor da auch wirksam ist.

Deutschlandradio Kultur: Kann das nicht auch sein, wenn wir auf Norwegen jetzt schauen, kein islamitischer Terrorist, aber doch einer, dass allein die Verletzbarkeit moderner offener Gesellschaften schon Reiz für sich genug ist?

Ruprecht Polenz: Ja und nein. Wir dürfen nicht vergessen, es hat auch Anschläge in Russland gegeben, es gibt Anschläge in China. Also, allein die offene Gesellschaft ist es nicht. Ich glaub auch eher, dass unsere Werte, unsere Fähigkeit, in dieser friedlichen Form miteinander zu leben und die Menschenwürde zu achten, dass das eigentlich unsere stärksten Waffen im Kampf der Ideen gegen den Terrorismus sind.

Also, auf eine knappe Formel gebracht: Der Unterschied ist, wir glauben an Recht und Gesetz. Und die Terroristen tun das nicht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir auf die Werte zu sprechen kommen, Menschenrechte und Terrorismus so als Stichwort: Wir haben Abu-Ghuraib erlebt. Wir wissen von Guantanamo. Es gibt deutsche Rechtsprofessoren, die infrage stellen, ob die Menschenwürde unter allen Umständen immer gilt. Welches Verhältnis sollen Muslime, die Abu-Ghuraib sehen, die Guantanamo mitbekommen, welches Verhältnis sollen die zu westlichen Menschenrechten bekommen? Geht das überhaupt?

Ruprecht Polenz: Ich denke schon, dass das geht. Weil, wenn sie hinschauen, sehen sie einerseits, ja, es hat da schlimme Menschenrechtsverletzungen gegeben, aber die Selbstreinigungskräfte in den USA, in den westlichen Gesellschaften haben dazu geführt, dass diese Mängel erstens mal benannt werden konnten, dass sie kritisiert werden konnten, dass sie thematisiert worden sind und dass man auch dabei ist, sie abzustellen.

Leider hat Obama das Versprechen, Guantanamo in einem Jahr aufzulösen aus den Gründen, die wir alle kennen, nicht einlösen können. Es hat auch einen Rückhalt in der amerikanischen Gesellschaft, in den Bundesstaaten beispielsweise, gefehlt, Gefangene dann auch aufzunehmen.

Aber im Unterschied zu ähnlichen Missständen in anderen Ländern, es ist ja jetzt nicht so, dass Guantanamo oder Abu-Ghuraib etwas Singuläres auf der Welt wäre, darf dort nicht drüber geredet werden, es darf nicht kritisiert werden und die Missstände halten an. Also, von daher glaube ich schon, dass wir zwar sagen müssen, so wie McCain das in seiner berühmten Rede zur Kritik dieser Zustände, etwa bei den Verhörmethoden gesagt hat, das sind schlimme Verletzungen, aber wir sind auch in der Lage es zu benennen und es zu korrigieren.

Und ich glaube, deshalb kann man schon zuversichtlich sein, dass unsere offenen Gesellschaften über diese Selbstheilungskräfte verfügen.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir reden ja von der Glaubwürdigkeit gegenüber der Gemeinschaft der Muslime, was die Standhaftigkeit, die Glaubwürdigkeit auch dieser Werte angeht. Wird die nicht auch dadurch untergraben, dass wir in dieser multipolaren Welt im Grunde einen Fehler wiederholen, den wir im Kalten Krieg auch gemacht haben? Wir verbünden uns mit Regimen, die damals Garanten waren für Antikommunismus - heute sind sie Garanten für Antiislamismus oder für Terrorismusbekämpfung - nach dem Motto: Es ist zwar ein Schweinehund, aber es ist unser Schweinehund.

Ruprecht Polenz: Ja, so könnte man reden, wenn man jetzt etwa an die autoritären Herrscher denkt, die in der arabischen Welt bis vor Kurzem die Macht hatten.

Aber wenn man noch mal schaut, ...

Deutschlandradio Kultur: So jemand, wie Ghaddafi hätte doch niemals resozialisiert werden dürfen.

Ruprecht Polenz: Bei Ghaddafi war es so: Er war auf dem Weg zu Nuklearwaffen. Er hat Terrorismus gefördert. Er hat nicht nur gesagt, sondern wohl auch tatsächlich sich von diesen Wegen gelöst. Und die Belohnung war sozusagen eine gewisse Anerkennung, wieder Reintegration, wenn Sie so wollen, Resozialisierung. Ich hab es auch für übertrieben gehalten, erstens, wie man sich dann in einen Wettlauf nach Tripolis begeben hat und sich - in einem Zelt kann man sich keine Klinke in die Hand geben, aber sinngemäß ist es so gelaufen. Und ich fand auch, man hätte nicht gleich mit Waffenlieferung oder dem Angebot, Atomkraftwerke zu liefern, ihn hofieren müssen.

Hier muss man sagen: Deutschland hat glücklicherweise sich also hier nicht in der vordersten Reihe bewegt, aber die Europäische Union insgesamt hat da keine besonders gute Figur gemacht. Dem würde ich zustimmen.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns einmal auf die Innenpolitik in Deutschland zu sprechen kommen. Seit 2001 haben wir neue Sicherheitsgesetze bekommen, der berühmte Otto-Katalog, mehrfach verlängert inzwischen. Die Polizei sagt bis heute, das war notwendig, wir brauchten das. Bei Lichte betrachtet und mit dem Abstand von 10 Jahren, gut, wir sind davon gekommen, es hat bei uns keine Terroranschläge gegeben, waren die Gesetze in dieser Weise notwendig oder waren sie dann doch ein bisschen so eilig zusammengezimmert wie die Terrorgesetze der 70er Jahre?

Ruprecht Polenz: Im Unterschied zu Besuchen in den USA, wo ich schon merke, angefangen an der Einreise am Flughafen, dass sich was geändert hat zu der Zeit vor dem 11. September, sehe ich jetzt in dem Alltagsleben solche Beeinträchtigungen in Deutschland nicht. Ich bekomme sie auch in meinen Sprechstunden von dem Bürgern nicht vorgetragen.

Die Sicherheitsbehörden haben, gerade jetzt auch in der Diskussion - laufen die Gesetze aus, sollen sie verlängert werden - sehr nachdrücklich dafür plädiert, sie beizubehalten. Der Beschluss ist jetzt auch, die Geltungsdauer noch mal vier Jahre zu verlängern und durch eine Kommission zu überprüfen, was braucht man auf Dauer, was muss man möglicherweise verändern.

Also, ich glaube, dass in Deutschland das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wurde, aber wir müssen sicherlich Acht geben, dass wir nicht das, was wir verteidigen wollen, und dazu gehört natürlich auch unsere Freiheit, dass wir das nicht durch die Art, wie wir's machen, gefährden. Auf der anderen Seite fühlt man sich auch nur dann wirklich frei, wenn man auch ein gewisses Gefühl der Sicherheit hat.

Deutschlandradio Kultur: Heribert Prantl, Kollege von der Süddeutschen Zeitung, sieht einen Wandel im politischen Denken, der auch durch den 11. September bewirkt worden ist. Er nennt das den "Sofortismus". Ich zitiere mal: "Immer wenn es Nacht wird in Deutschland, lässt man die Rollladen herunter. Ähnlich mechanisch reagiert Politik. Immer, wenn etwas passiert, muss sofort etwas passieren. Man produziert in aller Eile ein Sicherheitspaket."

Teilen Sie die Kritik, die da drin steckt?

Ruprecht Polenz: Da ist sicherlich viel Wahres dran. Und daran ist nicht nur Politik beteiligt. Daran ist Öffentlichkeit beteiligt, vermittelte Öffentlichkeit. Wenn ein Ereignis passiert, klingelt eine halbe Stunde später das Telefon. Man soll erste Stellungsnahmen, Bewertungen abgeben.

Deutschlandradio Kultur: So was machen wir nie, das ist uns völlig fremd.

Ruprecht Polenz: Und damit sind natürlich dann auch erste Festlegungen in der Welt. Also, die Zeit ist sehr, sehr viel schnelllebiger geworden natürlich. Und auch die schnelle Kritik, das sei ja jetzt nichts Neues, was man sage, und das ist dann negativ gemeint, trägt zu diesem - wie hat Prantl das gesagt - "Sofortismus" ein bisschen bei.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ja immer eine Wechselwirkung von Politik und Medien. Die Kritik an den Medien lautet: Ihr bauscht das auf. Ihr macht das erst zum Thema.

Beim Islamismus oder beim Islam habe ich eher den Eindruck, dass es das Differenzierungsvermögen der Politiker ist, das da gelitten hat über die Jahre. Also, der größte Thesenschreiber der Republik, der mit seinem Buch bekannt geworden ist, war ja immerhin ein Politiker und kein Journalist.

Ruprecht Polenz: Das ist richtig, aber wenn ich mir die Titelbilder vom Spiegel, vom Focus, vom Stern angucke, wenn sie über Islam berichten, dann sind das dunkel eingefärbte Moscheen, drohende Halbmonde, verschleierte Frauen. Und das ist die Bildersprache.

Ich erinnere mich an eine Illustration des staatlichen Studiengangs für islamische Religionslehre an der Universität Frankfurt im Kölner Stadtanzeiger, wo eine tief verschleierte Frau als Illustrationsbild für diesen neu eingeführten Studiengang für islamische Religionslehre herhalten musste.

Also, ich glaube, da verstärkt man sich gegenseitig. Und die Frage ist: Wie kommen wir aus dem Weg wieder raus?

Deutschlandradio Kultur: Wie kommen wir raus?

Ruprecht Polenz: Hinschauen, differenzieren und vor allen Dingen sich der Gefahren bewusst sein, die dadurch entstehen: Wenn ich ein Bild aufbaue, was ein sehr konfrontatives ist, und dieses Bild verankere mit einer Weltreligion, wenn sich das in den Köpfen festsetzt, dann ist ein Konflikt mit 1,3 Mrd. Muslimen auf dieser Welt letztlich das Ergebnis. Bin Laden würde es freuen. Für uns wär's ein Alptraum.

Deutschlandradio Kultur: Es könnte ja auch sein, dass in dieser immer noch sehr reichen, aber doch sehr fraktionierten unentspannten Gesellschaft das ganz nützlich ist, wenn man irgendwie so eine Art Feindbild hat, wo man zumindest Spannungen nach außen ableiten kann. Das wäre nicht das erste Mal.

Ruprecht Polenz: Nein, das ist richtig, aber erstens kennen wir ja auch den Begriff der selbsterfüllenden Prophezeiung. Und da muss man mit Feindbildern doppelt vorsichtig sein. Und zum Zweiten: Sehen Sie, wir haben in unserer Gesellschaft vier, viereinhalb Millionen Muslime, in Europa geschätzte 18 bis 20. Und die werden auch bleiben. Sie werden uns nicht verlassen und wir müssen einen Weg finden, und wir sind ja auch in vielen Bereichen sehr gut dabei, trotz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen gut und friedlich miteinander zu leben.

Ich komme aus Münster, das ist mein Wahlkreis. Da ist ein 30-jähriger Krieg beendet worden. Und dieser Westfälische Friede steht in einer Tradition mit Friedensschlüssen, Augsburger Religionsfrieden u.a., wo wir einfach natürlich auch über eine lange Zeit, teilweise auch sehr blutig, der 30-jährige Krieg war ja auch so etwas wie ein durchaus auch religiös motivierter, gelernt haben, friedlich miteinander auszukommen, trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen. Und das ist die Aufgabe, vor der wir in einer Welt, wo die Grenzen eine geringere Rolle spielen und wo wir durch die Globalisierung zeitgleich alles erfahren, was irgendwo auf dem Globus passiert, wichtiger als je zuvor.

Deutschlandradio Kultur: Ein zentraler Antrieb des Terrorismus ist der Nahostkonflikt, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, eine Lösung ferner denn je nach meinem Eindruck.

Gesetzt den Fall, dieser Konflikt würde mal gerecht gelöst, für alle Seiten akzeptabel, wäre damit dem organisierten islamistischen Terrorismus die zentrale Wurzel gezogen?

Ruprecht Polenz: Es wäre sicherlich so, dass ein großer Resonanzboden verschwinden würde und eine deutliche Entspannung in einem wichtigen Bereich eintreten würde - keine Frage. Auf der anderen Seite ist es jetzt auch nicht so, dass damit alles sich gleich in Wohlgefallen auflösen würde. Man muss unterstellen, dass man dann bei Al Kaida und anderen nach anderen Begründungen suchen würde, wo es ungerecht zugeht und weshalb man sich rächen muss, aber der Konflikt um einen palästinensischen Staat, um den Staat Israel, um das Miteinander in einer Zweistaatenlösung ist schon einer der zentralen Konflikte im Nahen Osten. Und ich stimme Ihnen zu, leider sind wir im Augenblick immer noch sehr weit von Lösungen entfernt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir zurückschauen, 10 Jahre nach dem 11. September, das hat ja auch eine ökonomische Diskussion. Wir reden gerade über Finanzkrisen, über Rettungspakete, über hoch verschuldete Staaten. Würden Sie mir zustimmen, wen ich feststelle, dass wieder einmal Staaten, die Krieg geführt haben, sich finanziell ruiniert haben?

Ruprecht Polenz: Sicherlich sind die Kriege außerordentlich teuer. Und ein beträchtlicher Teil von Verschuldensproblematik würde nicht eintreten, wenn man Kriege vermeiden könnte. Deshalb muss es eine Politik geben, die als Friedenspolitik Konflikte diplomatisch entschärft, rechtzeitig entschärft. Und die Bemühungen, jetzt auch zu Lösungen im Nahen Osten zu kommen, den Arabischen Frühling zu unterstützen, den friedlichen Wandel in diesen Ländern, die gehen ja alle in die Richtung.

Aber die Welt, und das darf man in einer christlichen Kirche sicherlich auch sagen, ist eben nicht der Himmel auf Erden und wird es wahrscheinlich auch nie werden.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ein schönes Schlusswort. Wir sind am Ende unserer Sendung angelangt - "Der 11. September und seine Folgen". Herr Polenz, herzlichen Dank für das Gespräch, und Ihnen vielen Dank für Ihr Interesse.