Polens Haltung zur EU

Vom Musterknaben zum Störenfried

Eine Straßenszene in der polnischen Stadt Nowa Sol.
Eine Straßenszene in der polnischen Stadt Nowa Sol. © dpa / picture alliance / Forum
Von Florian Kellermann · 21.06.2016
Seit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 sind in der polnischen Stadt Nowa Sol viele neue Arbeitsplätze entstanden, kaum eine andere Kommune hat so viel von EU-Förderprogrammen profitiert. Zerstört die neue rechtskonservative Regierung alle Erfolge?
Nowa Sol war eine polnische Stadt im Untergang. In den Jahren nach der demokratischen Wende folgte ein Tiefschlag auf den anderen. Die beiden großen Fabriken entließen die meisten Mitarbeiter, die Arbeitslosigkeit stieg auf über 40 Prozent. Dann trat auch noch die Oder über die Ufer.
Beim großen Hochwasser 1997 standen große Teile von Nowa Sol mit seinen 40.000 Einwohnern unter Wasser, erinnert sich Leslaw Czajkowski, der am Ufer entlang spaziert:
"Der Fluss stieg auf eine Höhe von 6,80 Meter, hier war alles überschwemmt und auch bis ins Zentrum, zur Antoni-Kirche, diesem roten Gebäude dort. Gut, dass wir jetzt diese Mauer hier haben, die uns schützt."

"Polen gehört einfach zu Europa"

Einen Kilometer lang ist die Mauer. Oben, am Ufer, führt heute ein idyllischer Boulevard entlang. Der 69-jährige Rentner Czajkowski erinnert sich auch an ein weiteres Hochwasser, zwölf Jahre später: Die Bewohner von Nowa Sol kamen zur Oder und staunten, wie das Wasser diesmal anschwoll, aber nicht mehr bedrohlich wurde.
Sie konnten den einstigen Unglücksfluss wieder in ihr Herz schließen, auch dank der Europäischen Union, die die Mauer mitfinanzierte:
"Wir sind dort, wo wir schon lange hätten sein sollen, in der EU. Nach 1945 nahmen sich unsere östlichen Nachbarn unserer an, die Sowjetunion, und wir konnten uns nicht frei bewegen. Ein bisschen spät, aber Polen gehört einfach zu Europa."
Inzwischen gibt es hier sogar wieder zwei Touristenschiffe auf der Oder, die von den anliegenden Kommunen betrieben werden und flussabwärts bis nach Frankfurt und Kostrzyce fahren.

"Die Gartenzwerge haben Nowa Sol einst gerettet"

Seit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 entstehen in Nowa Sol auch wieder neue Arbeitsplätze. Auf dem Gewerbegebiet im Norden haben sich vor allem Automobil-Zulieferer niedergelassen, die meisten aus Deutschland. Sie entschieden sich für die westpolnische Stadt auch deshalb, weil dort die Gemeinde einen so genannten Technologie-Park gegründet hat. Das ist eine Firma, die Investoren unterstützt und selbst Räume an innovative Start-ups vermietet.
Aber auch Einheimische hätten Firmen gegründet, erzählt Ewa Batko, Sprecherin der Stadtverwaltung:
"In den 1990er Jahren sind hier plötzlich über 400 Firmen entstanden, die Gartenzwerge hergestellt haben. Die Leute, die arbeitslos wurden, hatten gehört, dass es in Deutschland eine große Nachfrage gibt. Viele haben einfach in ihrer Garage mit der Produktion begonnen. Davon ist noch ein Dutzend Firmen übrig, die heute etwas ganz anderes machen - Prototypen für Autoteile etwa oder Brunnen. Dafür haben wir einen Gartenzwerg-Park mit einem fast sechs Meter hohen Exemplar, als Andenken daran, dass die Gartenzwerge einst Nowa Sol gerettet haben."
So ist die Arbeitslosigkeit in der Stadt inzwischen auf zehn Prozent gesunken, und auch aus den umliegenden Gemeinden kommen viele zum Arbeiten ins Gewerbegebiet.

"Sie sehen ja, wie es hier aussieht"

Schon 2012 wurde Nowa Sol als polnische Kommune ausgezeichnet, die am meisten von EU-Förderprogrammen profitieren konnte. Die heutige polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo aber interessierte das wenig, als im Wahlkampf vergangenes Jahr die Stadt besuchte. Sie hielt ihre Pressekonferenz absichtlich vor einer halb verfallenen Fabrik für Nähfäden ab:
"Wir befinden uns hier auf dem Gelände der ehemaligen Faden-Fabrik Odra, wo eigentlich das Leben pulsieren sollte, wo Leute arbeiten sollten, wo auch Steuern für Nowa Sol und für den Staatshaushalt erwirtschaftet werden sollten. Aber Sie sehen ja, wie es hier aussieht, weil es keine Programme gibt, um solche ehemaligen Industrie-Standorte zu unterstützen."
Für viele Bewohner von Nowa Sol zeigte schon diese Pressekonferenz, wie die rechtskonservative Partei PiS von Ministerpräsidentin Szydlo zur Europäischen Union steht. Denn was mit deren Hilfe in Nowa Sol geschaffen wurde, interessierte sie nicht.
Heute befindet sich die polnische Regierung, geführt von der PiS-Partei, in einem offenen Streit mit der EU-Kommission. Im Januar leitete Brüssel ein Verfahren ein: Die Kommission wollte prüfen, wie es um den Rechtsstaat in Polen bestellt ist. In einem Zwischenbericht kam sie zu einem vernichtenden Urteil: In Polen stehe die Menschenwürde nicht mehr unter dem ihr gebührenden Schutz, ebenso die Freiheit, die Demokratie und die Gleichheit vor dem Gesetz.

"Nie einem Ultimatum beugen"

Beata Szydlo zeigte sich unbeeindruckt, zumindest nach außen. Im Parlament erklärte sie:
"Wir wollen, dass Europa unsere Entscheidungen achtet, unsere Traditionen. Wir wollen, dass Europa unsere Souveränität achtet wie die aller europäischer Länder. Die polnische Regierung wird sich nie einem Ultimatum beugen. Die polnische Regierung wird nicht erlauben, dass den Polen ein fremder Wille aufgezwungen wird. Ich wiederhole noch einmal: Ich bin Europäerin, aber vor allem bin ich Polin."
Der Streit betrifft vor allem das Verfassungsgericht. Die Regierung wollte dessen Einfluss durch ein neues Gesetz stark begrenzen. Darin heißt es unter anderem, dass das Verfassungsgericht die Fälle nicht mehr nach Dringlichkeit bearbeiten darf, sondern nur nach Datum des Eintreffens. Eine zeitnahe Kontrolle der Regierungsarbeit wäre so nicht mehr möglich. Außerdem sollen Urteile nur dann gültig sein, wenn sie im Richterkollegium mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gefällt werden. Auch das macht es dem Gericht schwerer, Gesetze wirksam zu überprüfen.
Diese Bestimmungen seien verfassungswidrig, urteilte das Verfassungsgericht. Aber die PiS-Regierung erkennt dessen Urteile nicht mehr an und verletzt damit das Prinzip das Gewaltenteilung.

"Wir sind und bleiben in Europa"

Kritiker werfen der Regierung durch diesen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien vor, dass sie Polen nach und nach aus der EU dränge. Eine Demonstration brachte deshalb über 100.000 Menschen in die Warschauer Innenstadt. Das Motto: "Wir sind und bleiben in Europa."
Kamila Gasiuk-Pihowicz von der liberalen Partei "Modernes Polen" sagte:
"Wir glauben, dass der Platz Polens im Herzen der Europäischen Union ist. Die PiS-Regierung kehrt Europa den Rücken zu. Ein Reisepass aus dem Land, in dem die PiS regiert, wird uns bald nur noch dazu berechtigen, dass wir in langen Schlangen an den Grenzen der Europäischen Union warten dürfen."
Die PiS hält diesen Vorwurf für ungerecht. Sie betont, dass sie mit der EU-Kommission über einen Kompromiss verhandele und dabei schon weitgehende Zugeständnisse signalisiert habe. Auf der anderen Seite jedoch kehren Regierungsvertreter immer wieder hervor, dass Polen eigentlich gar nichts drohe. Denn Sanktionen gegen Warschau müssten alle anderen EU-Mitglieder zustimmen.
Ein sehr unwahrscheinliches Szenario: Mindestens Ungarn werde zu Polen halten, erklärte der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczyski, nachdem er sich mit dem ungarischen Premier Victor Orban getroffen hatte.

"Das wäre der politische Selbstmord"

Trotzdem sei ein allzu schroffer Kurs gegen die EU gefährlich für die PiS, meint Jerzy Sulek, ehemaliger polnischer Spitzendiplomat, der unter anderem den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag aushandelte. Er weist darauf hin, dass immer noch 85 Prozent der Polen für eine Mitgliedschaft in der europäischen Staatengemeinschaft sind:
"Bürgerrechte und Freiheiten, das ist nicht nur auf die Fahnen geschrieben, sondern zur realen Wirklichkeit geworden. Die Lebensverhältnisse im buchstäblichen Sinn des Worte, im Alltag. Dass wir bessere Luft, besseres Wasser haben, dass wir bessere Autobahnen haben. Die Polen haben feststellen können: Es lohnt sich, in den westlichen Strukturen zu bleiben. Wenn jemand wagen würde, daran zu rütteln, das wäre der politische Selbstmord für diese oder jene Gruppierung."
Doch selbst wenn die polnische PiS-Regierung keinen Austritt anstrebt und es auch nie Sanktionen gegen das Land geben wird: Der Streit mit Brüssel schade dem Land schon jetzt, meint Wadim Tyszkiewicz, Bürgermeister von Nowa Sol:
"Wir haben in Nowa Sol eine deutsche Firma aus Hamburg, die Antriebe herstellt. Sie wollte hier eine weitere Fabrik bauen, aber nun hat sie diese Investition erst einmal gestoppt und wartet ab. Das Investitionsklima ist schon verdorben."
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