Polen

Die Magie der literarischen Reportage

Porträtfoto der polnischen Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall
Die polnische Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall im Februar 2012 © picture alliance / dpa / J.-Ph. Strobel
Von Arkadiusz Luba · 13.11.2015
Die literarische Reportage hat eine große Tradition in Mittel- und Osteuropa. In Polen ist eine Anthologie mit Reportagen des 20. Jahrhunderts erschienen. Die heutigen Reportagen, zum Beispiel die von Hanna Krall, unterscheiden sich allerdings von ihren Vorgängern.
Zitat aus dem Buch "Rosa Straußenfedern": "Bei uns ist Alarm. Die Fahrstühle fahren nicht mehr, gleich werden die Raketen einschlagen. [...] Man muss zu Fuß zum Schutzraum. Ich bin nicht gegangen. [...] Ich hatte immer schlechte Beine. [...] Was würdest du an meiner Stelle tun? Jetzt. Wenn Raketen kämen. [...] Warum ein Blatt? [...] Na dann diktiere [...], den ersten Satz wenigstens. »Es ist Alarm, die Fahrstühle fahren nicht mehr.« Im Ernst? So würdest du anfangen?"
In dem kurzen Text – dem Protokoll eines Telefongesprächs – klingt bereits alles an: die kranke Protagonistin und ihr Versteck während des zweiten Weltkriegs, der israelisch-palästinensische Konflikt, und – unausgesprochen - Tragik und Freundschaft. Hanna Krall, die Altmeisterin der polnischen Reportage, spricht in solchen Fällen vom "metaphysischen Überschuss":
"In einer Geschichte sollte auch das Wichtigste spürbar sein, die letzten Dinge halt, wie die Liebe, der Tod, die Angst, der Mut."
Die beinah 80-jährige Krall hat 17 Bücher mit literarischen Reporten geschrieben, zuletzt "Rosa Straußenfedern". Krall empfiehlt, nur das Wichtige aufzuschreiben:
"Zu viele Worte nutzen sich ab. Mir geht es darum, wenig Platz zu beanspruchen, wenig Worte zu verwenden und die Aussage zu verdichten. So bekommt sie mehr Kraft."
Für lange Reportagen meist kein Platz
Früher hat man in Polen längere Texte geschrieben, erklärt Kazimierz Wolny-Zmorzyński. Er ist Professor für Reportagetheorie und hat als Berater an der Anthologie der polnischen Reportage des 20. Jahrhunderts mitgearbeitet. Er sieht die Quellen der polnischen Reportage in der Literatur des 19. Jahrhunderts:
"Auf Französisch bedeutet 'nouvelle' eine Neuigkeit. Daher kommt der Journalismus. Goethe setzte in seinen 'Novellen' auf pure Fakten, auf wenige Protagonisten, lebhafte Handlung und eine effektvolle Pointe. Polnische Novellen-Autoren haben dann mit ihren Novellen Reportagen geschrieben, noch bevor sie wussten, was eigentlich eine Reportage ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im politischen Wirbel, kamen dann viele neuen Themen. Man musste kürzer schreiben. Eine kleinere Reportage erreicht auch schneller den Empfänger."
Eine wichtige Rolle spielt die Ökonomie. Für lange Reportagen gibt es in den meisten Zeitungen keinen Platz:
Rafal Grzenia: "Die Reportage leidet darunter, sie ist nicht finanzierbar",
klagt Rafał Grzenia, Reporter der Zeitschrift "Lampa".
"Die Presse hat Ihre Vorlieben. Die einen Themen werden besprochen, die anderen nicht. Vertieft wird keins von ihnen! Die literarische Reportage kann also nur selten ein Ereignis über längere Zeit begleiten und vollständig ausleuchten."
Wahrheit und Schönheit
Eine Ausnahme bildet in Polen die liberale Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Hier hat die literarische Reportage eine starke Stellung. Der Leiter der Reportage-Redaktion Mariusz Szczygiel ist zugleich ein Mitbegründer des Reportageinstituts, aus dem die Polnische Reportageschule hervorgegangen ist. Ihre Grundidee fasst Szczygiel so zusammen:
"Ganz einfach: den anderen Menschen verstehen, ohne ihn wegen seiner Einzigartigkeit zu verurteilen. Der Autor darf mit seinem Text genau so viel machen wie ein Schriftsteller, außer natürlich die Geschichte zu erfinden. Die polnische literarische Reportage regt auch zum Nachdenken an und enthält philosophische oder existenzielle Wahrheiten. Sie fügt Wahrheit und Schönheit zusammen."
Seit der Kindheit hören wir gerne Geschichten. Und Menschen werden immer etwas über das Leben anderer Menschen lesen wollen. Dass man für einen Moment Protagonist in einem anderen Leben werden kann – darin liegt die Magie der literarischen Reportage. Kazimierz Wolny-Zmorzyński über ihre Zukunft:
"Reportagen und Fotoreportagen erscheinen heute zunehmend in Buchform. Gute Geschichten werden immer gebraucht."
Hintergrund:
Die Kondition der polnischen literarischen Reportage wurde während des Conrad Festivals 2015 in Krakau diskutiert.

In Polen ist der letzte Band einer knapp 3000-seitigen Anthologie mit polnische Reportagen des 20. Jahrhunderts erschienen. Das von Mariusz Szczygiel herausgegebene Buch mit dem Titel: "100/ XX" umfasst einhundert Reportagen aus dem 20. Jahrhundert und ist im polnischen Czarne-Verlag erschienen.

In dem Buch sind auch Texte der polnischen Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall enthalten. "Die letzten auf deutsch erschienenen Bücher von Hanna Krall sind "Weiße Maria" und "Rosa Straußenfedern", erschienen im Verlag Neue Kritik aus Frankfurt/Main.
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