Pöttering: Aufsplittung des EU-Verfassungsvertrages verhindern

Moderation: Marie Sagenschneider · 15.06.2006
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Hans-Gerd Pöttering, hat vor einer Aufsplittung des Verfassungsvertrags gewarnt. Man müsse aufpassen, dass man den Verfassungsvertrag nicht in seine einzelnen Bestandteile aufschnüre, sagte Pöttering.
Marie Sagenschneider: Spötter sprechen vom Rat der Ratlosen und gemeint sind die EU-Staats- und Regierungschefs, die heute in Brüssel zusammenkommen, um sich auf den langen Weg aus der Verfassungskrise zu begeben. Vor einem Jahr war man unversehens in diese Krise gestürzt, nachdem erst Frankreich und dann die Niederlande in einem Referendum die Verfassung abgelehnt hatten. Aber ohne die in der Verfassung vorgesehenen Änderungen geht es nun einmal auch nicht, dazu ist die Europäische Union zu groß geworden. Was also jetzt? Langsam müsste man die Denkpause mal beenden, aber viele sind skeptisch, dass das zügig gelingen kann. Hans-Gert Pöttering ist Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament und nun am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Guten Morgen, Herr Pöttering.

Hans-Gert Pöttering: Guten Morgen, Frau Sagenschneider.

Sagenschneider: Setzen Sie überhaupt irgendeine Hoffnung auf diesen EU-Gipfel heute und morgen oder erwarten Sie, dass da nicht viel geschehen wird?

Pöttering: Der Vertreter Österreichs, also der gegenwärtigen Ratspräsidentschaft, hat gestern im Europäischen Parlament in Straßburg gesagt, dies ist ein Arbeitsgipfel. Und ich habe dann in meiner Rede gesagt, Arbeitsgipfel ist ein guter Begriff, denn Europa wird nicht geschaffen durch rhetorische Glanzleistungen, durch Sonntagsreden, sondern durch ganz konkretes Handeln. Und insofern ist ein Arbeitsgipfel ein guter Gipfel. Er steht in der Kontinuität anderer europäischer Entscheidungen und deswegen erwarten wir, dass heute und morgen in Brüssel, es ein Prozedere gibt, wie wir den Inhalt des Verfassungsvertrages verwirklichen könnten.

Sagenschneider: Nach allem was man hört, peilt man jetzt so die nächsten, na ja Pi mal Daumen, 18 Monate an, um eine Lösung zu finden. Nach der Devise, erst einmal die Wahlen in Frankreich und den Niederlanden abwarten und dann wird vielleicht alles besser. Ist das eine berechtigte Hoffnung, muss man das tatsächlich erst abwarten?

Pöttering: Ja, wir haben ja, Frau Sagenschneider, schon früher auch Situationen in der Europäischen Union gehabt, dass wir vor einer zeitweiligen Blockade standen. Wenn Sie sich daran erinnern, dass der Vertrag von Maastricht mit der gemeinsamen Europäischen Währung zunächst einmal in Dänemark blockiert wurde. Der Vertrag von Nizza, also aus dem Jahre 2000, wurde zunächst in Irland abgelehnt. Und dann hat man aber später doch immer Wege gefunden, die Substanz dieser Verträge zu bewahren. Und in einer vergleichbaren Situation sind wir heute. Man kann sicher vor den Präsidentschaftswahlen im April/Mai 2007 in Frankreich und den Parlamentswahlen in den Niederlanden, im Mai 2007, in den Niederlanden nicht zu endgültigen Entscheidungen kommen. Aber dass dieser Weg offen bleibt und dass man nach diesen Wahlen dann zu einem Prozedere, zu einem zeitlichen Ablauf und damit auch zu Verhandlungen in der Sache kommt, das ist sehr vernünftig. Und dann hoffen wir, jedenfalls ist das die Hoffnung unserer Fraktion, der Christdemokratischen EVP-Fraktion, aber auch des gesamten oder der großen Mehrheit des gesamten Europäischen Parlaments, dass man bis zu den Europawahlen im Jahre 2009, dann die Lösung hat.

Sagenschneider: Es gibt ja nun mehrere Varianten und Vorschläge, wie man verfahren könnte. Die eine lautet, Augen zu und durch, sprich, die Verfassung weiter verteidigen, wie sie jetzt ist. Und die andere lautet, einzelne Teile des Verfassungsvertrags herauslösen und schon mal gesondert in Kraft setzen. Für welche Version plädieren Sie?

Pöttering: Also so schwarz-weiß sind die Dinge ja in Europa in der Regel nicht. Europa ist ein sehr komplexer Kontinent mit jetzt 25 Mitgliedsstaaten, bald 27 Mitgliedsstaaten, nahezu 500 Millionen Menschen. Wir haben eine unglaubliche kulturelle Vielfalt, die man zur Einheit zusammenführen muss. Und das ist ja die Schwierigkeit, aber auch die Chance Europas. Und deswegen müssen wir jetzt aufpassen, dass wir den Verfassungsvertrag nicht in seine Einzelbestandteile aufschnüren - auf Englisch sagt man cherry picking, also Kirschen suchen. Denn dann wäre am Ende die Substanz auseinander genommen und nichts bleibt übrig. Deswegen ist es richtig, wie die Finnen es jetzt wollen, die ab ersten Juli die Präsidentschaft haben, dass sie den Vertrag in ihrem Parlament ratifizieren wollen. Und je mehr Länder ratifiziert haben, umso näher kommt man am Ende zu einem Ergebnis, das in etwa dem heutigen Verfassungsvertrag entspricht. Aber dass es nicht total identisch sein wird, davon muss man natürlich ausgehen, denn die Niederlande und auch die Franzosen werden ein ganz identisches Ergebnis nicht billigen. Deswegen wird es am Ende etwas anderes sein. Aber wir müssen dem Inhalt der Verfassung möglichst nahe kommen. Und deswegen sind wir nicht der Meinung, dass man jetzt Einzelteile, sagen wir mal, vier, fünf Sachen, in Kraft setzen sollte und damit die Dynamik, den gesamten Vertrag am Ende weitestgehend zu realisieren, in Frage stellen würde. Also man muss einen sehr klugen, vernünftigen Mittelweg wählen.

Sagenschneider: Aber was heißt das denn, wenn man ein bisschen etwas verändert und es trotzdem beibehält? Es klingt nach Kosmetik.

Pöttering: Ja, wenn man zum Beispiel hingeht und im Ministerrat, also bei den Regierungen, Transparenz herstellt bei den Gesetzesentscheidungen, dann ist das etwas Vernünftiges, was den Vertrag nicht aufschnürt in Einzelteile. Und ich erwarte eigentlich auch jetzt von diesem Gipfel, dass man sagt, wenn der Ministerrat seine Gesetzesentscheidungen trifft - wir sind ja gleichberechtigt als Parlament mit dem Ministerrat, weitestgehend, in der Gesetzgebung - dann ist das etwas Positives. Und das würde ich nicht als Kirschen picken bezeichnen, sondern das ist ein konkreter, vernünftiger Weg, der den Vertrag nicht aufschnürt, aber einen Teil, einen Aspekt des Vertrages, bereits in Kraft setzt, ohne das Ganze in Frage zu stellen.

Sagenschneider: Aber am Ende bleibt dann trotzdem, dass weiter darüber abgestimmt werden muss. Jetzt werden, wenn Finnland noch zustimmt, es 16 Staaten sein, die der Verfassung zugestimmt haben. Am Ende wird immer das Problem Großbritannien bleiben. Tony Blair hat den Briten ein Referendum versprochen, und wie das ausgeht, das kann man sich irgendwie leicht vorstellen.

Pöttering: Ja, wenn es ein Referendum gibt, dann wird es natürlich nach Lage der Dinge, wie man Großbritannien heute beurteilen muss, ein negatives Ergebnis geben. Aber wenn man einen neuen Begriff sucht für den Verfassungsvertrag - und der Begriff Verfassung ist ja in Großbritannien eigentlich nicht bekannt, natürlich als Begriff schon bekannt, aber die Briten haben keine Verfassung. Wenn man am Ende sagt, Grundgesetz, ich weiß nicht, ob das die endgültige Formulierung ist, aber jedenfalls eine andere Begrifflichkeit wählt, dann schafft das schon ein neues psychologisches Umfeld. Und es ist dann nicht gesagt, wenn es auch einige inhaltliche Änderungen gibt, dass die Briten unbedingt das zu einem Referendum dann führen werden. Es wäre dann auch denkbar, wenn der Verfassungsvertrag vom Inhalt und von der Bezeichnung Änderungen hat, dass das dann dem britischen Unterhaus vorgelegt wird. Aber das ist im Moment offen, deswegen streben wir zunächst an, dass alle anderen Länder zu einer Lösung kommen. Und dann müssen wir dann die endgültige Lösung noch für Großbritannien finden.

Sagenschneider: Hans-Gert Pöttering war das, der Fraktionschef der EVP im Europaparlament. Ich danke Ihnen.