Poetik des Vergessens

Rezensiert von Michael Opitz · 19.01.2006
Die Autorin Dagmar Leupold gibt in ihrem "Alphabet zu Fuß" ihr Verständnis von Literatur wider. Dabei kommt dem Vergessen eine wichtige Funktion zu: es legt sich "Rücklagen" an, die sich als wirkliche Schätze erweisen, wenn sie unerwartet entdeckt werden. Leupold befindet sich mit ihrer Sichtweise in der ehrenwerten Gesellschaft von Proust und Borges.
Zwei Schreibtemperamente sind es, die Dagmar Leupold in ihrem Essay "Drei Selbstauslöser" aus der Sammlung "Alphabet zu Fuß" unterscheidet: Neben denen, die beim Schreiben darauf aus sind, Beute zu machen, gibt es jene anderen, die sich, statt zu jagen, auf die Lauer legen.

Sie selbst zählt sich zu der Gruppe, die lieber wartet, dass eine Geschichte - wie bei der Schnecke das Haus - aus ihr herauswächst. Aus dieser Haltung resultiert ein anderes Verhältnis zur Zeit. Behutsam geht Dagmar Leupold mit der Sprache um, denn sie ist der Ansicht, dass der Autor den Text, bevor er ihn in Schrift materialisiert, bereits in sich hat und ihm nur Zeit eingeräumt werden muss, dass er entstehen kann.

Dennoch setzt diese Haltung nicht unbedingt Kontemplation voraus, denn die Autorin, die gern joggt, wie aus dem Titelessay zu erfahren ist, bewegt sich beim Laufen zwar im Wald und driftet im Kopf zugleich in Sprachregionen ab:

"Was ich nicht schon alles geschrieben habe, während ich lief."

Allerdings sind die so entstandenen Texte eher dem Vergessen als dem Erinnern zugehörig. Sie sind flüchtig und büßen bei dem Versuch, rekonstruiert zu werden, Entscheidendes von ihrer ursprünglichen Vollkommenheit ein.

Angesichts dieser Erfahrungen der Autorin im Umgang mit dem Vergessen wäre es nicht verwunderlich, wenn sie das Vergessen schlichtweg verdammen würde. Doch in ihrer Poetikvorlesung "Poetischer Stoffwechsel: Vergessen, Erinnern, Korrespondieren. Oder: Wie Poesie entsteht" wird gerade das Vergessen zu einer "poetischen Welterfahrung".

Während die Erinnerungsarbeit quantifiziert und sammelt, verschenkt das Vergessen scheinbar generös. Doch es legt sich zugleich "Rücklagen" an, die sich als wirkliche Schätze erweisen, wenn sie unerwartet entdeckt werden. Das Vergessen wird so zu einer Voraussetzung für das Erinnern.

Prousts Held aus dem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" musste erst vergessen, um sich - ausgelöst durch das Madeleine-Erlebnis - erinnern zu können. Diese "Rücklagen", über die das Vergessen verfügt, bezeichnet Dagmar Leupold als den "nichtquantifizierbaren Schatz", mit dem das Gedächtnis großzügig umgeht, offensichtlich darauf hoffend, dass es durch unwillkürliches Erinnern umso reicher belohnt wird.

Auf bekannte Namen aus der Literatur, die das Schreiben auch als Erinnerungsarbeit verstanden haben, stößt man in den Essays immer wieder. Neben Proust und Borges ist es besonders Uwe Timm, er versteht den Ursprung des Schreibens als einen "höllischen Maschinenraum", mit dem die Autorin Zwiesprache hält. Ebenso intensiv sind die fiktiven Gespräche, die Leupold in den Essays mit Ingeborg Bachmann hat.


Dagmar Leupold: Alphabet zu Fuß. Essays zur Literatur
C.H. Beck. München 2005.
176 Seiten. 17,90 Euro