Poet der Banlieue

Von Susanne von Schenck · 22.02.2011
Samuel Benchetrit schreibt Bücher, dreht Filme, spielt Theater, malt und fotografiert. Er gelangte als Ehemann von Marie Trintignant zu trauriger Berühmtheit. Sie wurde 2003 von ihrem damaligen Liebhaber in einem Streit so geschlagen, dass sie an den Folgen starb.
Nichts deutete darauf hin, dass Samuel Benchetrit, als er 1973 in einer der tristen Pariser Vorstädte als Kind einer französischen Mutter und eines ukrainisch-marokkanischstämmigen Vaters zur Welt kam, einmal ein bekannter Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur werden würde. Jetzt sitzt der 37-jährige erschöpft auf dem grauen Sofa in seinem Häuschen am südlichen Stadtrand von Paris. Bis spät in die Nacht war er mit Dreharbeiten zu seinem neuen Film beschäftigt. Samuel Benchetrit hat sich eine Zigarette angezündet und einen starken Kaffee eingeschenkt. Die dunklen, glatten Haare hängen wirr in die Stirn.
"Ich spiele in dem Film, und bin auch der Regisseur. Im März soll er in die französischen Kinos kommen. 'Bei Gino' heißt er, und es ist eine Familiengeschichte. Es geht um Italiener, die in Brüssel leben, und versuchen, mit einem falschen Dokumentarfilm Geld von ihrer Familie in Italien zu bekommen."

Samuel Benchetrit ist ein schmaler, zierlicher Mann mit melancholischem Gesichtsausdruck und sanfter Stimme. Seine Kinder, der elfjährige Jules und die dreijährige Saul, spielen in der oberen Etage des Hauses. Anna Mouglalis, mit der Samuel Benchetrit seit mehreren Jahren zusammenlebt, ist auf Reisen.

"Anna ist Schauspielerin. Sie spielt auch in meinem letzten Film mit. Im Moment ist sie als Model für Chanel in China. Sie plant allerdings, demnächst selbst einen Film zu drehen."

Sechs Romane und Theaterstücke hat Samuel Benchetrit inzwischen geschrieben, drei Filme gedreht und häufig auf der Bühne gestanden. Seine Kindheit in einem der Betonwohntürme im Pariser Vorort Champigny-sur-Marne beschreibt er als glücklich, obwohl er in einem armen und schwierigen Viertel aufwächst. Schon früh träumt er davon, Filme zu machen, aber für eine Ausbildung an einer Filmhochschule reicht das Geld nicht. Mit 15 verlässt Samuel Benchetrit seine Eltern und zieht nach Paris.

"Es gibt Augenblicke im Leben, da muss man gehen. Das ist ganz wichtig. Wäre ich in Champigny geblieben, wäre mein Leben anders verlaufen. Ich spürte damals, dass ich gehen müsste. Dieses Gefühl habe ich häufig, auch bei so banalen Sachen wie bei einem Diner. Da bin ich meist der Erste, der aufbricht. Ich mag nicht gern bleiben. Ich finde die Dinge dauern oft zu lang."

Fotolehre in Paris. Drei Jahre lang entwickelt Samuel Benchetrit Filme im Labor, fotografiert für Reportagen und Werbung. Am Wochenende dreht er kleine Kurzfilme.

"Ich habe alles Mögliche gemacht: Pizzaverkäufer, Kartenabreißer im Kino, manchmal hatte ich drei Jobs an einem Tag. Aber ich wollte unbedingt Super-8-Filme kaufen, und dafür brauchte ich Geld. Am Wochenende drehte ich dann Kurzfilme, die waren jedoch richtig schlecht. Das war nicht sehr ermutigend."

Aber mit 18 gewinnt er einen Preis für einen Kurzfilm; von da an geht es bergauf. Er lernt den Schauspieler Jean-Louis Trintignant kennen, der auch noch heute sein väterlicher Ratgeber ist. Mit zwanzig Jahren heiratet er dessen Tochter Marie. Der elfjährige Jules ist der gemeinsame Sohn. Der Junge ist auch Vorbild für die Hauptfigur in dem gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Rimbaud oder die Dinge des Herzens".

"Anfangs dachte ich, Rimbaud wäre ein Wohnturm. Weil man Rimbaud-Turm sagt. Dann aber erklärte mir mein Kumpel Yéyé, dass Rimbaud ein Dichter gewesen ist. Warum man meinem Wohnturm den Namen eines Dichters gegeben hat, ist mir schleierhaft. Yéyé meint, weil der Mann bekannt war und vor langer Zeit gestorben ist."

Die Banlieue, die Vorstadt – das ist immer wieder sein Thema. Aber Samuel Benchetrit schildert weniger ihre Schrecken als ihre Poesie. In seinem neuen Roman erzählt er einen Tag im Leben des zehnjährigen Charlie. Dessen Mutter wird vor seinen Augen verhaftet, und Charly macht sich auf die Suche nach ihr.

"Natürlich sind manche Menschen in den Vorstädten gewalttätig. Dafür gibt es Gründe. Aber es gibt auch eine große Sanftheit in diesen Vierteln, darüber hört man selten etwas. Es sind die Viertel Frankreichs, in denen die meisten Leute mit Problemen und wenig Geld leben, und eigentlich läuft es ganz gut. Die Leute haben einen superguten Humor. Humor, wenn man verzweifelt ist, ist ganz außergewöhnlich. Ich schreibe darüber, um eine andere Vision der Vorstädte zu vermitteln."

Festlegen lässt er sich nicht gern. Für die Filmwelt ist Samuel Benchetrit ein Schriftsteller, der auch dreht, für die literarische Welt ein Regisseur, der auch schreibt. Seine Bücher verkaufen sich gut, und die Pariser Gazetten stilisieren das erfolgreiche Multitalent und die schöne Anna Mouglalis zum Traumpaar. Ein Star will Samuel Benchetrit, der sich selbst als schüchtern beschreibt, aber gar nicht sein. Immer häufiger setzt er sich daher nach Südfrankreich ab, in ein kleines Dorf in der Nähe von Avignon. Dorthin möchte mit seiner Familie im Lauf des Jahres auch ganz umziehen. Vielleicht findet er dort neue Themen.