Pocken, Masern, Coronavirus

Welche Krankheiten sich ausrotten lassen - und welche nicht

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Verschiedene Petrischalen mit Bakterienkulturen eines amerikanischen Labors, das in den 1970er Jahren Pockenimpfstoff herstellt.
Um eine Seuche auszurotten, müssen Ansteckungsketten unterbrochen werden. © Getty Images / Staff / Aventis Pasteur MDS
Von Volkart Wildermuth · 26.02.2020
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Bisher sind die Pocken die einzige Infektionskrankheit, die dauerhaft besiegt wurde. Doch mit Impfprogrammen und dem politischen Willen ließen sich noch weitere Krankheiten ausrotten. Das Coronavirus allerdings gehört nicht dazu.
Am Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg behält der Infektionsepidemiologe Jürgen May die Krankheitserreger der Welt im Auge. Um einen muss er sich nicht mehr kümmern, Variola major, das Pockenvirus. Pocken sind die einzige Infektionskrankheit, die von der Menschheit dauerhaft besiegt wurde.
"Also, insofern ist es ein Riesenerfolg", sagt May. "Es ist ein Showcase, das zeigt, dass es möglich ist, wenn man genug Aufwand betreibt, eine gute Logistik vorhält und systematisch vorgeht."
Pocken – das klingt noch immer irgendwie bedrohlich. Aber wenn es um die praktische Bedeutung dieser Krankheit geht, muss der Arzt passen.
"Ich kann Ihnen keine Details über die Pocken berichten, weil ich selbst natürlich niemals Pocken gesehen habe und diese Erkrankung glücklicherweise verschwunden ist."

Jeder fünfte Pockenkranke starb

Die Krankheit ist Geschichte und damit ein Thema für den Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven von der Universität Erlangen-Nürnberg:
"Die Pocken waren eine der verheerendsten Epidemien der frühen Neuzeit, weil nahezu alle Menschen in ihrer Kindheit daran erkrankten. Man glaubte, dass das eine Art Reifungsprozess des kindlichen Blutes sei, im Sinne eines Aufkochens", sagt er. "Tatsache ist, dass man von einer etwa zwanzigprozentigen Letalität ausgehen muss. Das heißt, etwa einer von fünf Erkrankten starb an den Pocken. Das ist eine ungeheure Zahl, wenn Sie das mit modernen Epidemien vergleichen."
Jede Mutter, jeder Vater musste um das Kind bangen. In China versuchte man schon seit Jahrtausenden vorzubeugen, mit dem abgekratzten Schorf von Pockenüberlebenden. Ein riskantes Verfahren. Ende des 18. Jahrhunderts experimentierten dann verschiedene Ärzte in England und Deutschland mit den Kuhpocken. Dieser Erreger ist für Menschen ungefährlich, schien aber vor einer Infektion mit den echten Pocken zu schützen. 1796 erprobte der englische Arzt Edward Jenner die sogenannte Vakzination an dem achtjährigen James Phipps, übrigens, ohne die Eltern um Erlaubnis zu fragen. Als Test setzte der Arzt den Jungen den echten Pocken aus, doch der blieb gesund, er war immun.
"Das war ein unglaublicher Fortschritt", betont Medizinhistoriker Leven. "Man kann sich das nicht sensationell genug vorstellen, weil damit eine der gefürchten Krankheiten überhaupt mit einem Schlag gebannt war."

Epidemien als Test für die Handlungsfähigkeit des Staats

Die Pockenimpfung wurde in den Industrienationen schnell und breit angeboten. In Bayern zum Beispiel schon um 1807, im Deutschen Reich ab 1871.
"Man hat das planmäßig benutzt, um auch die Steuerungsmacht des Staates zu beweisen. Man konnte damit den Leuten tatsächlich gut vor Augen führen, unsere Medizin kann etwas und in Form einer Staatsmedizin kann sie Bürgern einen Schutz geben", erklärt Leven. "Das ist übrigens ein Phänomen, das wir in der gegenwärtigen Seuchenbekämpfung auch wahrnehmen: Der Staat, in diesem Fall ist es das große China, muss sich und anderen beweisen, dass es mit dieser Epidemie klarkommt."
Eine Impfbescheinigung über das Impfen gegen Schutzblattern (Pocken) aus dem Jahre 1819 liegt am Freitag (20.10.2006) in einer Vitrine in Leipzig.
Eine Impfbescheinigung über das Impfen gegen Schutzblattern (Pocken) aus dem Jahre 1819.© picture alliance / dpa-Zentralbild / Waltraud Grubitzsch
1959 beschloss die Weltgesundheitsversammlung, die Pocken auszurotten. Kurz darauf wurde die Pockenimpfung weltweit Pflicht. Immer mehr Kontinente konnten das Variola-Virus zurückdrängen. Die Weltgemeinschaft stellte aber weiter Mittel für Impfkampagnen bereit – und so gelang es, den Erreger endgültig zu besiegen. Diese Ausdauer war entscheidend, so der Infektionsepidemiologe Jürgen May:
"Die letzte Meile ist am schwierigsten. Man muss sich davor hüten, dass, wenn man große Erfolge erzielt hat und 99 Prozent der Fälle beseitigt hat, dass man dann aufhört, mit voller Kraft die Erkrankung zu bekämpfen. Erst wenn die Erkrankung komplett ausgerottet ist und über mehrere Jahre nicht gefunden wird, kann man sich sicher sein, dass die Erkrankung verschwunden ist."
Bei den Pocken ist das gelungen, wie übrigens schon Edward Jenner vorhersagte. 1977 erkrankte der somalische Koch Ali Maow Maalin als letzter Mensch an natürlichen Pocken. Danach kam es noch zu einer Laborinfektion. Heute existiert das Variola-Virus nur in zwei Hochsicherheitslaboren in den USA und Russland.

Der Erreger darf nicht in Tieren vorkommen

Die Pockengeschichte wirft natürlich die Frage auf: Wie kann man auch andere Erkrankungen ausrotten und dadurch Epidemien verhindern? Eine Voraussetzung ist: der Erreger darf nicht in Tieren vorkommen. Grippeviren, Coronaviren oder auch Ebola können immer wieder aufs Neue von Vögeln oder Fledermäusen auf Menschen überspringen. Da geht es also nicht.
Es gibt aber genug rein menschliche Erreger. Für die gilt als zweite Voraussetzung: ein wirksamer Weg, die Ansteckungskette zu unterbrechen. Meist ist das eine Impfung, wie bei den Pocken oder etwa bei der Kinderlähmung. Es gibt aber auch andere Methoden: Der Guineawurm verbreitet sich in Afrika über das Wasser, lässt sich aber einfach mit Baumwolltüchern herausfiltern. So konnten die Infektionszahlen von mehreren Millionen Fällen im Jahr auf wenige Dutzend reduziert werden. Theoretisch sollten sich auch die Masern ausrotten lassen, meint Jürgen May:
"Es sterben immer noch 150.000 Menschen weltweit an Masern. Das heißt, eine Impfung zu haben, ist noch nicht ausreichend, um diese Erkrankung zu bekämpfen."

Die Taliban verhindern die Polio-Ausrottung

Die dritte, die entscheidende Voraussetzung für die Ausrottung einer Infektionskrankheit ist der politische Wille. Bei den Masern ist die individuelle Impfskepsis ebenso ein Problem wie die unzureichende Gesundheitsversorgung in vielen Ländern der Erde. Im Fall der Kinderlähmung war die Ausrottung bereits zum Greifen nahe. Aber in manchen Ländern kamen Gerüchte auf, die Impfkampagnen würden heimlich Kinder sterilisieren. Sie kamen auch in Verruf, weil die US-Armee sie nutzte, um Informationen zu sammeln.
Eine Afghanin in blauer Burka tropf einem kleinen Jungen Polio-Impfstoff aus einem Fläschchen in den Mund.
Der Kampf gegen die Kinderlähmung in Afghanistan und Pakistan wird von den Taliban teilweise torpediert.© picture alliance / Muhammad Sadiq/EPA/dpa
"Es ist ja bekannt, dass die Impfteams in Pakistan teilweise von den dortigen Taliban-Verbänden auch gejagt werden und auch angegriffen werden", so Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven. "Da hatte es schon Tote gegeben und Massaker unter den Impftrupps da. Mit anderen Worten: Dass die Polio-Eradikation in Pakistan und in Afghanistan auf große Hindernisse stößt, hat keinerlei medizinische Gründe, sondern politische. Das ist leider so."

Teufelskreis von Armut und Krankheit

Trotz aller Schwierigkeiten sollte aber weiter versucht werden, die Kinderlähmung und andere Infektionskrankheiten endgültig auszurotten, betont der Mediziner Jürgen May:
"Ich denke, es ist sinnvoll, das anzustreben, auf jeden Fall. Der Grund dafür ist, dass es einen Teufelskreis gibt zwischen Armut und Erkrankung. Da greifen viele Dinge ineinander, aber von meiner Seite, von der medizinischen Seite, möchte ich auch betonen, dass die Verhinderung von Erkrankung wesentlich ist, um diesen Kreislauf zu durchbrechen."
Bei den Pocken ist das gelungen. Bei der Kinderlähmung, dem Guineawurm, den Masern und vielen anderen Infektionskrankheiten wäre es grundsätzlich möglich. Wenn denn der politische Wille da ist und ausreichend Durchhaltevermögen besteht.
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