Plastikatlas 2019

Wir brauchen Lösungen statt Weltuntergangsszenarien!

07:21 Minuten
Das Foto zeigt ein buntes Sammelsurium an unterschiedlichsten Arten von Plastikmüll auf einen schwarzen Hintergrund inszeniert.
Der ganze Plastikmüll darf uns nicht fatalistisch werden lassen. Es gibt Lösungsansätze, sagt Plastikatlas-Autorin Lili Fuhr. © Getty Images/Dan Kitwood
Von Carina Fron · 06.06.2019
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Die Welt ist in einer Plastik-Krise. Das macht der heute erschienene Plastikatlas der Heinrich-Böll-Stiftung einmal mehr deutlich. Aber er zeigt auch: Ganz ohne Plastik geht es nicht. Und: Wir können etwas gegen die Inflation des Plastikmülls tun.
Plastik ist einfach überall: auf der Erde, im Wasser, in der Luft, der Kleidung, in Nahrungsmitteln und mittlerweile auch im menschlichen Körper.
"Was mich persönlich auch noch mal sehr erschreckt hat, ist, von Wissenschaftlern zu hören, die gesagt haben, in einigen Fällen ist es ganz schwierig wissenschaftliche Erkenntnisse zu bekommen, weil man eigentlich keine unbelasteten Vergleichsgruppen mehr findet", sagt Lili Fuhr.
Und das ist nur eine der Erkenntnisse, die sie aus ihrer Arbeit am Plastikatlas der Heinrich-Böll-Stiftung mitgenommen hat.
"Ich glaube, dass das Wissen rund um die Ursachen und Treiber hinter der Plastik-Krise auf jeden Fall total wichtig ist, um Handlungsfähigkeit auch zu erzeugen."

40 Prozent des Plastiks sind Verpackungen

Lili Fuhr leitet das Referat Internationale Umweltpolitik bei der grünen-nahen Böll-Stiftung. Ein halbes Jahr hat sich die Geologin mit ihren Kollegen durch Studien gewühlt, mit internationalen Wissenschaftlern gesprochen und Zahlen gesammelt. Seitdem weiß sie: Plastik ist allgegenwärtig und kaum aus unserem Alltag wegzudenken. Es ist in Plastiktüten, Kosmetik, Kleidung, medizinischen Instrumenten, Smartphones, in Spielsachen und im Auto, am Fahrrad. Vieles davon landet nach weniger als einem Monat im Müll. Nur ein Bruchteil wird recycelt.
"Also ein Großteil, ca. 40 Prozent des Plastiks wird für Verpackungen verwendet", sagt Lili Fuhr. "Auch da ist das zum Teil das Plastik, was wir dann sehen im Supermarkt, wo die Gurke eingeschweißt ist. Aber ein ganz großer Teil ist auch der Verpackungsmüll, der durch den Handel zwischen Unternehmen entsteht, den wir als Endverbraucher/innen, Konsumenten überhaupt nicht mitkriegen."
Ein Mädchen läuft mit einer Plastiktüte in der Hand über eine Müllhalde auf den Philippinen
Altpapier, Plastikflaschen, volle Windeln: Viele westliche Länder, darunter Kanada, laden ihren Müll auf den Philippinen ab. Offiziell sollte es Plastikmüll sein, der dort recycelt werden soll.© picture alliance / ZUMA Press
Und noch etwas, was man so nicht mitbekommt, zeigt der Plastikatlas: Nämlich, wo die über 740 Tonnen Plastikmüll landen, die Deutschland allein im vergangenen Jahr ins Ausland verschifft hat. Unter anderem nach Malaysia, in die Niederlande, nach Hongkong und Indien. Und das sind nur einige der 14 größten Müllabnehmer, wie die rosa-gelb gezeichnete Infografik anschaulich belegt.
Fast 50 Grafiken gibt es insgesamt. Jede in Farbe, jede unterschiedlich groß. Mal nehmen sie eine halbe Seite ein, dann sind sie wieder nur wenige Zentimeter groß. Immer belegen sie aber das, was in den Texten ausführlicher erklärt wird: Mögliche gesundheitliche Folgen, Belastungen des Bodens. Oder Plastik im Tourismus, wenn etwa Urlaubsziele völlig überfordert sind mit den Müllvorkommen in der Hochsaison. Herausgekommen sind so 52 Seiten mit fundiertem Wissen.
"Wo der Atlas eben auch helfen kann, der hat eben auch mehrere Kapitel, wo es um Lösungsansätze geht und auch konkrete Null-Abfall, Zero-Waste-Strategien", sagt Lili Fuhr. "Also der auch Hoffnung macht und zeigt, es gibt Alternativen. Es ist nicht so, dass wir gar nicht anders können."

Wirtschaftliche Anreize zur Müllvermeidung schaffen

Capannori, eine Gemeinde im Norden der Toskana, will bis 2020 keinen Müll mehr erzeugen - als erste in Europa. Seitdem werden wirtschaftliche Anreize geschaffen, auf Müll zu verzichten. Lokale Produkte werden nur noch ohne Verpackungen verkauft, öffentlich zugängliche Trinkbrunnen angelegt. Auch das steht im Atlas. Seite für Seite sollen die Leserinnen und Leser so besser verstehen, was sie selbst ändern könnten.
Das wollen auch Projekte wie "vollehalle - Die Klima-Show, die Mut macht:
"Mein Eindruck ist, dass die Leute nichts so sehr suchen wie Antworten", sagt der Autor und Regisseur Martin Oetting, einer der Produzenten von "vollehalle". "Daran krankt ja die Berichterstattung über die Klimakrise, dass immer nur über Probleme, über Negatives geredet wird. Was fehlt, ist das Reden über Antworten, Reden über Lösungen, und darum bemühen wir uns."
Bis vor ein paar Jahren hatte Oetting mit dem Klimaschutz nicht viel am Hut. Doch dann wurde ihm klar: Rettet der Mensch die Welt, rettet er sich auch selbst. Deswegen gab es 2017 die erste "vollehalle", zusammen mit dem Journalisten Kai Schächtele. Der wiederum hat auch am Plastik-Atlas mitgearbeitet.

Eine Welt ohne Plastik wäre fatal

Beide Projekte möchten unabhängig voneinander nicht nur Fakten liefern, sondern wollen Menschen motivieren, selbst aktiv zu werden.
"Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Bevölkerung in Bewegung setzt", sagt Oetting. "Sonst wird es die Politik nicht tun, denn die fühlen sich ja dann nicht demokratisch legitimiert. Als Politiker zu sagen: 'Die Bevölkerung will das gar nicht, aber ich fang jetzt an damit, irgendwie Rindfleisch teuer zu machen, CO2-Abgabe einzuführen und so fort. Kein Politiker denkt so."
Der Chemiker Michael Braungart spricht in ein Mikrofon
Plastik ist nicht nur schlecht. Darauf weist der Chemiker Michael Braungart hin.© Golden Ratio
"Zurzeit ist Plastik ziemlich dämonisiert", sagt Michael Braungart, wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umwelt-Instituts. "Das heißt, Plastik wird praktisch als Ursache verstanden von allen Problemen auf der Welt, die man wirklich lösen müsste."
Der Chemiker hält nichts von einem generellen Verbot. Grundsätzlich begrüßt er zwar Maßnahmen wie etwa Einwegplastik zu verbieten. Aber eine Welt ohne Plastik wäre fatal:
"Durch Plastikverpackungen ist sicher viel mehr für die Welternährung gemacht worden als durch jedes andere Hilfsprogramm oder Spendenprogramm. Weil man durch Plastik in der Tat einfach viele, viele Menschen davor rettet, giftige Lebensmittel zu essen oder überhaupt keine Lebensmittel zu bekommen."

Die Plastikindustrie will expandieren

Wichtig sei es daher, Forschung für nicht-schädliche Verpackungsstoffe zu fördern, um den Plastik-Produzenten etwas entgegensetzen zu können. Die werden nämlich in den kommenden Jahren nicht einfach vom Markt verschwinden, glaubt Lili Fuhr von der Heinrich-Böll-Stiftung:
"Während wir darüber nachdenken politisch in der EU, Zivilgesellschaft und so weiter, wie wir unsere Nachfrage nach bestimmten Plastikprodukten einschränken können, plant die Plastikindustrie eine Expansion der Plastikproduktion. Das heißt, die wollen nochmal viel, viel mehr Plastik auf den Markt schmeißen in den nächsten Jahren."
Um das zu verhindern, können auch die Verbraucher etwas beitragen. Und die Antworten über das Wie gibt es im neuen Plastikatlas. Mit all seinen Daten und Fakten über unsere Welt voller Kunststoff.
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