Plätze bleiben seltsam schwebend

16.01.2007
Der Dichter und Übersetzer Petr Borkovec hat als DAAD-Stipendiat 2004/2005 ein Jahr in Berlin verbracht und hier die Rolle des Flaneurs und Fremden, des Beobachters eingenommen. Er beschreibt die Alltäglichkeiten des Berliner Lebens: ein Café, das Aquarium, ein Eislokal, die Ringbahn. Es sind vor allem Orte, die Borkovec wie eine Art Stillleben in seinen Worten zeichnet.
Das Buch "Amselfassade" von Petr Borkovec trägt den Untertitel "Berlin-Notate", und verrät damit bereits wichtige Kennzeichen von Form und Inhalt des dünnen, gerade mal 32 Seiten starken Bändleins. Notate haben of etwas Beiläufiges, sind nicht unbedingt ausgearbeitete, sondern bisweilen sogar spontane, schnell niedergeschriebene Anmerkungen.

Wenn der Verfasser der Notate allerdings ein Dichter ist, wie dies bei Petr Borkovec der Fall ist, dann können diese scheinbar beiläufigen Aufzeichnungen auch die Dichte und Kunstfertigkeit von Lyrik annehmen – zumal Borkovec mit dem vorliegenden Band erstmals überhaupt in seinem Leben Prosa verfasst hat.

Borkovec hat als DAAD-Stipendiat 2004/2005 ein Jahr in Berlin verbracht und hier die Rolle des Flaneurs und Fremden, des Beobachters von außen eingenommen. Er setzt diese Rolle in eine ganz bestimmte Traditionslinie: Borkovec hat sich nicht nur als Dichter, sondern auch als Übersetzer russischer Lyrik des 20.Jahrhunderts einen Namen gemacht und in seinem Vorwort zur "Amselfassade" zitiert er nicht zufällig sogleich die russischen Schriftsteller, die viele Jahrzehnte vor ihm (zum Teil in derselben Straße wie Borkovec!) in Berlin lebten, wie zum Beispiel den Neoklassizisten Chodasevic, der Berlin "Die Stiefmutter russischer Städte" genannt hat.

Wie seine berühmten Vorgänger (zu nennen wären hier noch Andrey Belyj oder auch Nina Berberowa) beschreibt Borkovec mit dem Blick des Fremden, der Zeit und Muße besitzt, die Alltäglichkeiten des Berliner Lebens: ein Cafe, das Aquarium, ein Eislokal, die Ringbahn. Es sind vor allem Orte, die Borkovec wie eine Art Stilleben in seinen Worten zeichnet; Miniaturen, die statisch wirken – Menschen spielen hier ganz selten eine Rolle. Eine Ausnahme bildet nur das letzte Notat "Die Landstreicherin". Interessant hierbei ist, daß es sich bei ihr um eine entsprechend statische Person handelt, die immer am selben Platz sitzt, so als sei sie ein weiteres Berliner Denkmal.

Es ist kein Informationswert aus diesen Texten zu ziehen, vielmehr entstehen Stimmungsgemälde. Selbst Plätze, die dem Leser vertraut sind, bleiben trotz ihrer konkreten Benennung seltsam schwebend, oder sind nur Ausgangspunkt für ganz assoziative, surreale Beschreibungen. Aus einem Brunnen mit einem "finster blickenden Wassergott" entspinnt sich die Vision, wie sein Auftauchen aus dem Wasser den biederen Henriettenplatz mit seinem berühmten Eislokal in ein ganzes Trümmerfeld verwandelt.

In Halensee erinnern den Dichter Baumwurzeln und Stengel an "Korallen, die Muskeln Toter, die Muskeln Ertrunkener." Viele solcher Beispiele gibt es in dieser stark verdichteten Prosa - sie wirken oft morbid und düster. Und auch damit steht Borkovec in der Tradition der russischen Schriftsteller, die über Berlin geschrieben haben.

Rezensiert von Olga Hochweis


Petr Borkovec, Amselfassade. Berlin-Notate. Prosa und Gedichte
Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier.
Friedenauer Presse, Berlin 2006, 32 Seiten