Plädoyer für Religion als Privatsache

Von Jochen Stöckmann |
Im Berliner Ensemble trafen sich "Cicero"-Herausgeber Michael Naumann und der Schweizer Publizist Frank A. Meyer mit dem Islam-Experten Hamed Abdel-Samad zum Foyergespräch. Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler lieferte mit seinem Buch "Der Untergang der islamischen Welt" den Titel für das Treffen.
Aufgewachsen in Ägypten als Sohn eines Imam, Mitglied bei den Muslimbrüdern, dann Studium der Politikwissenschaft in Deutschland. Hamed Abdel-Samad ist Islam-Experte, kraft eigener Erfahrung. Aber hier, im Publikum des Berliner Ensemble, sitzen einige, die wissen es besser, die zitieren Umfragen aus Ägypten: Über 80 Prozent der Bevölkerung befürworten drakonische Strafen wie Handabhacken oder Steinigen ehebrecherischer Frauen, ebenso viele würden ihr Leben für den rechten Glauben hingeben. Aber Abdel-Samad weiß, was hinter den Zahlen steht:

"Wenn ich mit einem Moslem durch Fragebogen kommuniziere, dann gibt er mir die Antworten, die mich verärgern. Weil er das als Angriff nimmt: Sind Sie bereit für Gott zu sterben? Aha, ja ich bin bereit für Gott zu sterben! - Jetzt dürfen Sie nach Hause gehen und Angst haben!"

Die skeptisch abwägende Haltung des Wissenschaftlers steht im Widerspruch zum reißerischen Titel, den Abdel-Samad, der gefragte Publizist, seinem jüngsten Buch gegeben hat: "Der Untergang der islamischen Welt". Doch was sich im vergangenen Jahr noch düster raunend nach Oswald Spenglers Prophezeiung vom "Untergang des Abendlandes" anhörte, ist jetzt eingetreten: Wie Dominosteine geraten nach Ägypten viele auf den Islam gegründete Diktaturen ins Wanken.
Hamed Abdel-Samad: "Die tektonischen Platten in den Gesellschaften verschieben sich. Und jetzt ist die Frage: Bauen wir weiter auf eine Platte, die sich verschiebt? Oder hoffen wir darauf, dass das Erdbeben doch stattfindet und dass wir auf neuer Basis einen Neuanfang wagen können?"

Egal was kommt, Abdel-Samad fordert auf jeden Fall die "Entmachtung" des Koran. Das müsste nun keineswegs gleichbedeutend sein mit einem endgültigen "Untergang" dieser Religion, aber für die allmähliche Veränderung von innen heraus fehlt den islamischen Abweichlern, den Dissidenten in seinen Augen die reformerische Kraft:

Hamed Abdel-Samad: "Die waren für mich auch viel zu brav. Was noch fehlt, ist nicht ein Luther. Was man jetzt braucht, ist ein Voltaire, Spinoza. Ein Bruch mit dem Göttlichen."

Für diesen absoluten Bruch steht der Schweizer Publizist Frank A. Meyer. Er polemisiert gegen die Verquickung von Politik und Religion und zeiht etwa die katholische Pius-Bruderschaft des "Klerikalfaschismus".

Frank A. Meyer: "Warum darf ich eigentlich nicht mit der gleichen Schärfe über den Islam schreiben? Also, ich bin dann sofort 'islamophob', eigentlich krank. Bei den Pius-Brüdern bin ich gesund, weil ein Demokrat. Wenn es um Islam geht, bin ich sofort krank. Warum ist das so?"

Auf diese Provokation, auf die plumpe Gleichsetzung einer sektiererischen katholischen Splittergruppe mit "dem Islam" zu antworten, ist Michael Naumann sich nicht zu fein. Der "Cicero"-Herausgeber hält dafür, dass Toleranz den Respekt des Anderen verlangt. Wird das Individuum in sein Recht gesetzt, bedeutet das etwa bei der Redefreiheit keineswegs die Beliebigkeit bloßer Meinungen, sondern den argumentativen Streit, einen gesellschaftlichen Diskurs. Der wiederum sollte nicht politisch instrumentalisiert oder von oben bevormundet werden. Da sind sich alle drei Gesprächspartner einig - und Abdel-Samad erklärt mit Blick auf jüngste Äußerungen von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich:

"Das ist der richtige Satz von der falschen Person. Es ist nicht die Aufgabe eines Politikers, über die Historie zu unterrichten. Aber: dass der Islam historisch nicht zu Deutschland gehört, diese Meinung vertrete ich auch. Was Europa geprägt hat, war die arabisch-persische Kultur und nicht der Islam. Der Satz von Herrn Friedrich ist genauso kontraproduktiv wie damals der Satz von Herrn Wulff, dass der Islam zu Deutschland gehört. Ich finde es sehr kontraproduktiv, wenn die Integrationsdebatte immer islamisiert wird."

Abdel-Samads Gegenposition ist deutlich, er möchte jede Religion als Privatsache ins stille Gebetskämmerlein verbannt sehen:

"Wenn jeder von uns mit seiner Religion in den öffentlichen Raum kommt und darauf besteht, dass seine Religion Geltung hat, leitkulturell, in der Kommunikation, in dem Zusammenleben, dann haben wir alle verloren, dann gibt es nur noch Konflikte."

Genau diese nach demokratischen Regeln ausgetragenen Konflikte wären ein Gewinn für jede Gesellschaft, sie dürfen nicht einfach vom Tisch gewischt werden, weder per ordre de Mufti noch im Namen von Voltaire und Spinoza. Über das philosophische Ideal jener Gesellschaft, die Abdel-Samad den arabischen Ländern als Denkmuster verordnet, wird also noch zu diskutieren sein: Derzeit nämlich ist der Politikwissenschaftler sich selbst bei der Analyse noch nicht ganz sicher.

"Der Glaube hat die Politik bestimmt, hat die Gesellschaftsstrukturen, das Verständnis von Moral geprägt. Aber zu behaupten, der Glaube allein sei an allem schuld ist unpolitisch und unhistorisch. Erdöl spielt eine genauso wichtige Rolle. Die Zusammenkunft mehrerer Faktoren führt dazu, ob eine Gesellschaft sich gesund entwickelt oder auseinanderfällt."

Auch was eine "gesunde" Gesellschaft bedeutet, wurde in dieser "Cicero"-Debatte nicht geklärt. Bleibt also nur die Erkenntnis des Experten: Mit Umfragen und Statistiken wird man den Ereignissen vom Tahir-Platz nicht gerecht:

"Sehr oft sind die Aussagen sehr widersprüchlich, weil sie selber nicht genau wissen, was sie wollen. So, dass Menschen geweint haben, als sie die Bilder von den Toten der Revolution gesehen haben. Und die gleichen Menschen haben noch einmal geweint, als Mubarak seine Rede gehalten hat und gesagt hat, ich will in diesem Land sterben."

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