Plädoyer für eine Kultur des Maßes

Rezensiert von Meinhard Miegel · 22.12.2006
In seinem Buch "Das Gesetz der Hydra" behandelt Paul Kirchhof die Hybris unserer Tage: maßloses Erfolgs- und Gewinnstreben, maßloses Streben nach Freiheit und Bindungslosigkeit, maßloses Streben nach körperlichem und geistigem Wohlbefinden. Seine Liste der Maßlosigkeiten ist lang.
Die wohl verhängnisvollste Schwäche der menschlichen Natur ist ihre Neigung zur Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung oder in der Sprache der antiken Griechen zur Hybris. Diese Hybris zu zügeln, gehört zu den wichtigsten Anliegen von Religion und Philosophie. Im Judäo-Christlichen ist außer Gott nichts und niemand ohne Grenzen. Und wer diese Grenzen ignoriert, endet wie Luzifer im Höllensturz. Und auch die abendländische Philosophie kreist seit den Tagen des Aristoteles um Maß und Mitte. Das rechte Maß ist Voraussetzung gelungenen Lebens. Gefruchtet hat diese Einsicht allerdings wenig. Bietet sich eine Gelegenheit, werden Menschen allzu leicht maßlos. Immer wieder errichten sie babylonische Türme und werden dann Zeugen von deren Einsturz.

In seinem Buch "Das Gesetz der Hydra" behandelt Paul Kirchhof die Hybris unserer Tage: maßloses Erfolgs- und Gewinnstreben, maßloses Streben nach Freiheit und Bindungslosigkeit, maßloses Streben nach körperlichem und geistigem Wohlbefinden, maßlose Erwartungen der Bürger an den Staat wie umgekehrt maßlose Eingriffe des Staates in das Leben der Bürger, maßlose Normensetzungen und Zwangsversicherungen, maßlose Verschuldung. Kirchhofs Liste der Maßlosigkeiten ist lang.

Gegen diese allgegenwärtige Hybris stemmt er sich mit einer Kultur des Maßes, die er - wie bei ihm nicht anders zu erwarten - besonders eindrucksvoll im Steuerwesen veranschaulicht. Auch dieses ist für ihn geprägt von Maßlosigkeit, die sich zum einen in den Belastungen der Bürger und zum anderen in dem schier undurchdringlichen Steuerdickicht manifestiert. Was in und unter diesem Dickicht wuchert, sprengt das Fassungsvermögen sowohl der Steuerzahler als auch der -eintreiber. Resignierend vermittelt der Hochschullehrer seinen Studenten die geltende Ordnung, nicht etwa Recht.

Was Kirchhof unter steuerlicher Gerechtigkeit versteht, passt zwar nicht auf einen Bierdeckel. Doch im Gegensatz zum bestehenden ist das von ihm vorgeschlagene Normengefüge einsichtig, schlüssig und transparent. Von einer steuerpolitischen Entsolidarisierung der Gesellschaft oder gar einer unsittlichen Privilegierung der Wohlhabenden findet sich nirgendwo eine Spur. Wer sie trotzdem zu sehen meint, muss schon eine sehr besondere Brille tragen.

Damit ist der Autor bei seinem, wie er es selbst nennt, kurzen Abstecher in der Politik. Seine Ausführungen hierzu sind nüchtern und emotionslos und dennoch beklemmend. Der Leser muss den Eindruck gewinnen, dass alles, was nicht einem kurzfristig optimierenden politischen Kalkül entspricht, von denen mit den "großen Mikrofonen" niedergeschrieen, abgebügelt, zerstampft wird. Und in der Tat ist Politik ja nicht zuletzt deshalb so inhaltsarm, weil alle bemüht sind, Ideenfunken der jeweils anderen unverzüglich auszutreten.

Paart sich diese Überheblichkeit der einen mit politischer Hasenfüßigkeit der anderen, ist Maßlosigkeiten jedweder Art der Boden bereitet. Eines der drastischsten Beispiele ist für Kirchhof die Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden. In einem der reichsten Länder der Erde gibt es für eine Verschuldung dieses Ausmaßes weder Rechtfertigung noch Entschuldigung.

"Wenn eine Verfassung auch künftigen Generationen ein freies politisches Leben offen halten will, muss sie der kommenden Generation die Belastung durch Staatsschulden ersparen. Dies gilt umso mehr, als die Zahl unserer Kinder zurückgeht, eine wachsende Staatsschuld also von einer sinkenden Zahl von Schuldnern zu tragen ist."

Der Rückgang der Kinderzahl ist ein weiteres Thema, das Kirchhof umtreibt.

"Eine demokratische Gerechtigkeit glaubt unter Berufung auf Mehrheitswillen und Zeitgeist, das Leben der Menschen vorrangig auf den Erwerb und nicht auf die Familie ausrichten, damit eine im Erwerbsleben sterbende statt eine im Kind vitale Gesellschaft organisieren zu dürfen. Die Vernünftigkeit des demokratischen Prinzips wird zur selbstzerstörenden Unvernunft."

Hier argumentiert der sonst so distanziert formulierende ehemalige Verfassungsrichter geradezu leidenschaftlich. Die Stärkung der Familie ist ihm ein Herzensanliegen. Allerdings lassen gerade diese Passagen wichtige Fragen offen, die Kirchhof vermutlich sieht, aber nicht zu beantworten weiß. Während er sonst die großen Zusammenhänge und das verbindende Ganze nie aus dem Blick verliert, ist die Bevölkerungsentwicklung für ihn eine weitgehend nationale Angelegenheit, kein Wort von der globalen Bevölkerungsexplosion, die die Grundlagen menschlichen Lebens zu gefährden droht, kein Wort von der schwindenden Bedeutung menschlicher Arbeit im Wertschöpfungsprozess, kein Wort davon, dass heute in Deutschland pro Arbeitsstunde zehnmal soviel erwirtschaftet wird wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Vor diesem Hintergrund fallen utilitaristische Begründungen für mehr Kinder rasch in sich zusammen - das Kind gewissermaßen als künftiger Produzent, Konsument und Finanzier sozialer Sicherungssysteme. Das einzige, was Bestand hat, ist das Kind als künftiger Träger einer bestimmten Kultur. Bei Kirchhof klingt das durchaus an. Dann aber zuckt er zurück. Dieses Eisen scheint auch ihm zu heiß.

Im übrigen beweist er jedoch Mut. Schonung gewährt er nur selten. Ob Politik und Parteien, Wirtschaft und Verbände oder weite Teile der Bevölkerung, Kirchhof sagt, was er über sie denkt und was aus seiner Sicht zu geschehen hat. Der Politik beispielsweise legt er nahe, die Zahl der Parlamentarier zu halbieren sowie deren Bezüge zu verdoppeln, zugleich jedoch dafür zu sorgen, dass sie mit Ausnahme ihrer bisherigen Erwerbsgrundlage keinen weiteren Euro entgegennehmen. Wer sich zur Wahl stellt, soll eine ausgereifte berufliche Qualifikation außerhalb der Politik nachweisen müssen und Mandate sollen auf längstens drei Legislaturperioden beschränkt sein. Wer im Parlament sitzt, kann nicht zugleich auch der Regierung angehören. Mehr noch: Zwischen Mandat und Regierungsamt muss eine Karenzzeit liegen. Der Einfluss der Parteien ist zurückzudrängen und ebenso die Macht der Verbände. Denn jetzt

""ist die kleine, gut organisierte Gruppe stärker als die große Mehrheit"."

Mit Letzterem nimmt Kirchhof erneut auf, was seine Partei, die CDU, schon Mitte der 1970er Jahre mit der neuen sozialen Frage zu thematisieren versuchte. Auch damals ging es um die Bändigung der Macht organisierter Minderheiten gegenüber der nicht organisierten und deshalb recht ohnmächtigen Mehrheit. Doch hätte es noch einer Probe aufs Exempel bedurft, sie wurde damals gegeben. Flugs wurde die den Mächtigen so unbequeme Machtfrage in eine höchst komfortable Armutsfrage uminterpretiert und auf diese Weise auch gleich noch die betreuungsbedürftige Klientel jener Mächtigen erweitert. Kann und wird Kirchhof heute erfolgreicher sein?

Das ist uns allen zu wünschen. Sollte nämlich vieles von dem, was Kirchhof fordert, manchen utopisch erscheinen, dann nicht etwa, weil es utopisch ist, sondern weil wir uns weithin an eine politische und gesellschaftliche Wirklichkeit gewöhnt haben, die bei Licht besehen unerträglich ist. Kirchhof hat mit seinem Buch dieses Licht entzündet. Nun bleibt zu hoffen, dass es mehr als nur Nachdenklichkeit auslöst. Es sollte Anstoß zum Handeln sein.

Paul Kirchhof: Das Gesetz der Hydra. Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!
Verlag Droemer Knaur, München 2006
Mehr zum Thema