Plädoyer für bleibende Werte

Vorgestellt von Barbara Dobrick · 28.09.2005
Bernhard Schlink, Jura-Professor und Verfassungsrichter, wurde mit seinem Roman "Der Vorleser" weltberühmt. Er ist aber auch ein herausragender Essayist, was sein jüngstes Buch "Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben" mit Aufsätzen und Reden beweist. Darin macht er sich für Werte stark, die in der politischen Diskussion leichtfertig über Bord geworfen werden.
Bernhard Schlink ist zurückhaltend mit Bekenntnissen, denn er weiß, dass sie allein herzlich wenig bewirken:

"Natürlich kann der Schriftsteller literarisch-politisch zu missionieren und zu agitieren versuchen, aber für den Leser tritt es wieder in Literatur und Politik auseinander: in gute und schlechte Literatur und in bejahte oder abgelehnte Politik."

So leicht macht Schlink es seinen Lesern und Leserinnen nicht. Oder anders gesagt, er ist für all jene ein Glücksfall, die sich durch differenzierte Gedanken bewegen lassen wollen. Wie hoch Schlink den geistigen Futterkorb hängt, sagt er selbst:

"Es gibt ein Ethos der Distanz, der distanzierten, sorgfältigen, furchtlosen, ganzheitlichen Wahrnehmung, das für mich das eigentliche politische Ethos des Schriftstellers und des Intellektuellen überhaupt ist."

Schlinks Buch beginn furios: mit Gedanken über Heimat.

"So sehr Heimat auf Orte bezogen ist ... – letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. (…) Heimat ist Utopie. Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt; das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh."

Um Heimat in einem erweiterten Sinn, im Sinn von geistiger Heimat oder Standortbestimmung geht es in fast allen Texten. So auch in dem Aufsatz über Säkularisation und Multikulturalität. Schlink betrachtet aktuelle Probleme, Wünsche und Ängste vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Staatswesens und verfassungsrechtlicher Grundsätze. Ihm geht es um unverzichtbare Maßstäbe, an denen nicht beliebig gerüttelt werden kann, nur wenn augenblickliche Probleme vermeintlich leichter zu lösen wären, würde man gesetzliche Grundpfeiler über Bord werfen.

Damit leistet Schlink einen wichtigen Beitrag auch zur Debatte über die Frage nach unseren Werten. In allerschönster Klarheit zeigt er, wie unvernünftig, ja verrückt es ist, nach Werten zu rufen, die wir gerade in der ängstlichen Suche nach schnellen Lösungen über Bord geworfen haben.

Messerscharf ist Schlinks Kritik an dem vom Parlament beschlossenen und vom Bundespräsidenten nach einigem Zögern unterzeichneten Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen unter gewissen Annahmen erlaubt. Nicht minder klar ist seine Antwort auf die Forderung nach Aufhebung des Folterverbots. Schlink zeigt, wie naiv und fahrlässig die Annahme ist, wir könnten uns durch eine Gesetzeslage, die jeder Eventualität gerecht wird, in Sicherheit wiegen, indem er darauf hinweist, dass ein Soldat, der ein Flugzeug abschießen soll, auch wenn der Befehl rechtlich einwandfrei ist, nicht der Frage entgeht, ob er diesen Befehl ausführen soll.

"Wer meint, dass ein Gesetz und ein Befehl den Konflikt, die Entscheidung und die Qual des Gewissens ersparen könnten, denkt vom Menschen denn doch zu gering."

Schlink ruft in Erinnerung, dass zur unantastbaren Würde des Einzelnen unabdingbar die Fähigkeit und die Bereitschaft zur eigenen Entscheidung gehört.

"Die Gesellschaft kann nicht darauf verzichten, im Recht die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens fest- und durchzusetzen. Der einzelne kann nicht darauf verzichten, seinem Herzen, Glauben oder Gewissen ausnahmsweise mehr zu gehorchen als dem Recht. Damit ist die Möglichkeit des Konflikts eröffnet. Das Recht gäbe sich auf, wenn es dem Einzelnen den Konflikt ersparen, wenn es im Konflikt vor dem Einzelnen zurückweichen würde. Es muss vom Einzelnen verlangen, den Konflikt auszuhalten und eine Entscheidung zu treffen und zu verantworten."

Beharrlich zeigt Bernhard Schlink in vielen seiner Texte, warum Verantwortlichkeit und Moral nicht delegiert werden können, und dass schon das Bemühen darum eine Kehrseite hat:

"Die Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen birgt das Problem, dass der Einzelne seine selbst-, fremd- oder auch von niemandem verschuldeten Niederlagen nicht als solche sehen und auch nicht als Herausforderung nehmen kann."

Die Folge ist ein Mangel an Lernfähigkeit.

Wollen und Scheitern, Sünde und Vergebung, Gerechtigkeit und Unrecht – darüber schreibt Bernhard Schlink auch in seinen Auseinandersetzungen mit biblischen Texten. Aufgewachsen in einem protestantischen Pfarrhaus geht es für Schlink auch hier wieder um Heimat, um das Zuhausesein im Fragen und Bedenken, im Fragen nach Gott und im Nachdenken über die Aufgaben des Lebens. Manchmal ist das für Bernhard Schlink mehr als eine Utopie, eine Vergewisserung ganz eigener Art:

"Auch das ist für mich im Glauben an die Kirche beschlossen: der Glaube daran, dass in der Geschichte der Kirche ein Schatz an Schönheit, an schönen Texten, Liedern und Ritualen gewachsen ist, dem ich immer wieder begegnen werde und der mich wieder glücklich machen wird."

Für sein Publikum ist es ein Glück, dass Bernhard Schlink in vielen geistigen Welten zu Hause ist. Seine Erkenntnisse reichen gedanklich weit und sind sprachlich elegant und gut verständlich präsentiert. Ihn zu begleiten ist eine Verlockung mit wünschenswerten Nebenwirkungen.

Bernhard Schlink: Vergewisserungen - Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben
Diogenes Verlag; 363 Seiten, 22,90 €