"Pinselheinrichs" sämtliche Hinterlassenschaften

22.01.2008
Als Zeichner, Grafiker und Fotograf setzte Heinrich Zille den kleinen Leuten in Hinterhöfen, Mietskasernen und Kneipen ein Denkmal. Zum 150. Geburtstag des Künstlers ist eine neue DVD mit seinem Werk erschienen.
"Wir wurden verteilt in Kompanien und Stuben, die Wanzen lauerten schon. In den Betten Müll, Häcksel als Stroh. Schlechtes Essen. Täglich von den Offizieren mit einer Kloake von Witzen besudelt. So ein Laffe von Leutnant durfte bei der Spindrevision auf das Bild meiner Liebsten zeigen mit der höhnischen Frage: 'Ihre Sau?'"

Das hört sich nicht an wie ein Witz - und als Witze Macher fühlte er sich auch nicht. Es tut weh, sagte er einmal, wenn man den Ernst als Witz verkaufen muss. Sein Vater - begabter Goldschmied und Erfinder - saß mehrmals im Schuldgefängnis. Schließlich floh die Familie vor den Gläubigern in eine ärmliche Berliner Kellerwohnung. Aus eigener Demütigung schöpfte er als Künstler - und schaute seinen Nachbarn im Berlin der Jahrhundertwende aufs Maul. Sein Werk prägen Mitgefühl und eine scharfe Beobachtungsgabe: Heinrich Zille.

Alle Karikaturenausgaben und sämtliche schriftlichen Hinterlassenschaften des Künstlers sind in einer interaktiven DVD versammelt. Vor allem für seine Karikaturen wurde Zille berühmt: "Vater wird sich freun", sagt die lumpengekleidete Kinderschar, "wenn er aus‘m Zuchthaus kommt, dass wir schon so ville sind." Auf einer anderen Zeichnung spielen Kinder im düsteren Hinterhof, in dem ein kümmerlicher Löwenzahn sein Dasein fristet. Da schnauzt die Nachbarin aus dem Fenster: "Wollt ihr von die Blumen weg, spielt mit'n Müllkasten!"

Die Reise durch Zilles Schaffen gelingt mit der Bediensoftware "Digibib". Man kann chronologisch durch Zeichnungen und Karikaturen blättern, die Abbildungen bildschirmgroß klicken und ausdrucken, nach Stichworten suchen und Textstellen in Fundlisten speichern.

"Vater Zille, Daumier von der Panke, Raffael der Hinterhöfe, Pinselheinrich."

Mit Spitznamen belegten die formulierfreudigen Berliner Heinrich Zille schon zu seinen Lebzeiten. Er publizierte im "Simplicissimus" und in den "Lustigen Blättern", wurde Mitglied der Preußischen Akademie der Künste - bald kannte halb Deutschland seine detailfreudigen Zeichnungen mit den sarkastischen Bildunterschriften.

Doch es gab auch einen introvertierten Zille, der leisere Bilder schuf, wie die digitale Sammlung zeigt: Aktstudien müder Arbeiterinnen, Skizzen von Säuglingen, die schon nicht mehr wie Kinder aussehen, Frauenporträts aus dem Scheunenviertel. Das Buch "Zille's Vermächtnis" von Hans Ostwald ist ebenfalls im Volltext enthalten, Zilles Sohn Hans hat daran mit gearbeitet. Im Vorwort heißt es:

"Zille gehörte zu den Wenigen, die das, was sie meinen, auch leben. Er machte es nicht wie Rousseau, der für die Freiheit der Kinder eintrat und seine eigenen Kinder in rückständige Anstalten gab. Er war auch nicht wie Tolstoi, der die Hingabe aller irdischen Güter predigte und doch für sich und seine Familie erheblichen Reichtum behielt. Zille dachte nicht daran, in ein Landhaus zu ziehen. Er blieb in seiner einfachen Wohnung unter dem Dach einer Berliner Mietkaserne - er beanspruchte nicht mehr."

Anekdoten und Briefe auf der DVD belegen Zilles Bescheidenheit:

"In der Zeit nach dem Krieg ging Zille in einem abgeschabten dünnen Mantel. Und da der Winter sehr streng war, fror er tüchtig. Ein Freund von ihm, der Schlagerdichter Hermann Frey, schenkte ihm einen Schal. Zille wehrte ab: 'Aber nicht doch! Du frierst ja selber!' Er nahm den Schal erst an, als Frey ihm einredete, er habe noch einen zweiten Schal."

Humor hatte Zille auch privat - ein Sanitätsrat Dr. Liebmann steuert dazu eine Anekdote bei:

"Vor einigen Jahren schrieb mir Heinrich Zille eine Widmung in ein von ihm verfasstes Buch. Er schrieb meinen Namen irrtümlicherweise mit p. Als ich ihm sagte: 'Ich schreibe meinen Namen mit b' nahm er einen Radiergummi heraus, radierte das p aus und schrieb dafür ein b. Dann lachte Zille und sagte: 'Nun haben Sie eine Radierung von mir.'"

Mit seinen lebensechten Bildern machte sich Zille auch Feinde. Einmal musste er vor Gericht, weil auf einer Lithographie acht nackte Mädchen zu sehen waren. Rechte Publikationen beschimpften ihn als Abschaum-Zeichner. Dass Zille auch wunderbare Fotografien schuf, wurde erst lange nach seinem Tod bekannt. Neunzig davon sind auf der DVD zu sehen - faszinierende Dokumente aus dem Berlin der Jahrhundertwende. Im August 1929 ist Zille gestorben. Lange währte die Diskussion, ob er ein Künstler war oder nur ein Witzblattzeichner. Er hat seinen Platz in der Kunstgeschichte erobert: als Künstler und Anwalt der Entrechteten.

Heinrich Zille: Werke und Schriften
Directmedia-Verlag
19,90 Euro