Pilz kritisiert "vulgäre Verbissenheit des Siegenmüssens"

14.11.2009
Nach Ansicht des Hannoveraner Sportsoziologen Gunter Pilz ist der Leistungssport aufgrund seiner großen medialen Präsenz wie ein Parabolspiegel, der die gesellschaftlichen Probleme "bündelt und um ein Vielfaches zurückwirft".
Vor dem Hintergrund des Todes des Fußball-Torwarts Robert Enke sagte Pilz, die Leistungsgesellschaft sei längst in eine Erfolgsgesellschaft pervertiert, in der die Leistung des Einzelnen als Wert an sich nichts mehr bedeute und einer "vulgären Verbissenheit des Siegenmüssens" Platz gemacht hätte.

Pilz wörtlich: "Wenn ich mir vorstelle, ein Enke hätte sich geoutet, dass er solche Probleme hat, dann wäre das vielleicht nicht nur von seinen Gegnern gnadenlos ausgenutzt worden, sondern noch viel brutaler und gnadenloser von den Fans, die jetzt weinend durch die Straßen ziehen." Über Krankheit und Schwäche offen zu reden, sei im Leistungssport ebenso undenkbar wie sich als Homosexueller zu bekennen, erklärte Pilz, der als Honorarprofessor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Hannover tätig ist.

Im Sport und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen hätten die Menschen ihre "Beißhemmung" gegenüber Schwächeren verloren, so der Sportsoziologe weiter. "Das ist ein Problem unserer heutigen Gesellschaft: Dass wir nicht nur diese Beißmentalität haben und auf Schwächen rumtrampeln, sondern, wenn dann jemand betroffen ist und wirklich darunter leidet, wir uns nicht mehr ein Stück der Sensibilität bewahrt haben, das wahr zu nehmen und dann vielleicht noch zu korrigieren." Jemand, der den Leistungsdarwinismus propagiere, dürfe angesichts der Selbsttötung Robert Enkes "jetzt nicht betroffen sein" und brauche "auch nicht zu der Trauerfeier zu gehen und offizielles Entsetzen zu zeigen". Die Menschen sollten das aktuelle Ereignis zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, ob sie diese Art von Gesellschaft wollten.

Das vollständige Gespräch mit Gunter Pilz können Sie bis zum 14.4.2010 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.